Leonhard Oesterle (1915-2009)

 

Im Zeitraum vom 20.09.2015 bis 27.09.2015 entwendeten bisher unbekannte Täter eine Bronzefigur von einem Grabsockel in Berlin-Friedenau. Die Polizei bittet um Ihre Hilfe.

 

Das war nicht der erste Diebstahl auf dem Friedhof Stubenrauchstraße. Gestohlen wurde zuvor das Kreuz vom Grab des Pfarrers Paul Vetter, später die Skulptur des Bildhauers Hans Scheib auf dem Grabstein des Malers Gerhart Bergmann und nun auch die Skulptur Sitzende Frau vom Grab des Bildhauers Leonhard Oesterle.

 

Leonhard Oesterle war ein kanadischer Bildhauer, Zeichner und Kunstlehrer deutscher Herkunft. Er wurde am 3. März 1915 in Bietigheim geboren. Nach der Schulzeit absolvierte er eine Lehre als Mechaniker bei der Firma Bosch. In Stuttgart engagierte er sich in der Widerstandsgruppe G und verteilte Flugblätter. Er lernte die aus Schlesien stammende Elisabeth Schikora (1908-1944) kennen, die, seit 1927 Mitglied der KPD, den Auftrag hatte, die Kommunistische Jugend in Stuttgart aufzubauen. Zwischen beiden entwickelte sich eine intensive Beziehung. Wir waren idealistische junge Streiter für Wahrheit und Freiheit. Die Gruppe wurde von den eigenen Leuten denunziert und 1935 von der Gestapo festgenommen.

 

Leonhard Oesterle wurde am 14. Oktober 1936 vom Oberlandesgericht Stuttgart zu einer Zuchthausstrafe von fünf Jahren, drei Jahren Ehrverlust und Zulässigkeit von Polizeiaufsicht verurteilt, weil er von April 1934 bis Februar 1935 an leitender Stelle am Neuaufbau der KJ (Kommunistischer Jugendverband) in Stuttgart tätig war und bei der Herstellung von Zeitschriften des KJ mitwirkte. Für die Tageszeitung Ulmer Sturm vom 24. November 1936 zeigt das Urteil mit aller Deutlichkeit, dass der nationalsozialistische deutsche Staat nicht von vaterlandslosen Gesellen in seiner schweren, aber erfolgreichen Arbeit am deutschen Volke gestört und gefährdet wird.

 

 

Elisabeth Schikora bekam 5 ½ Jahre Zuchthaus. 1937 wurde sie mit der Diagnose Schizophrenie in die Heilanstalt Zwiefalten eingewiesen, wo sie am 12. Februar 1944 verstarb. Leonhard Oesterle erlebte das Gefängnis Ludwigsburg, die Häftlingsarbeitskommandos Zweibrücken und Böhmerwald, das Strafgefangenenlager Börgermoor, das Schutzhaftlager Welzheim, das Konzentrationslager Dachau und dessen Außenkommando Radolfzell. Dort gelang ihm 1943 die Flucht in die Schweiz. Der Historiker Markus Wolter hat am 15. November 2013 im Südkurier unter dem Titel Waghalsige Flucht als letzter Ausweg darüber berichtet:

 

Leonhard Oesterle (1915-2009) und Oldrich Sedlácek (1919-1949), Friseur aus dem tschechischen Bílina, hatten sich bereits in Dachau kennengelernt und wurden in Radolfzell über ihre Fluchtpläne zu Freunden. Sie gehörten zu jenem Kontingent von Dachauer KZ-Häftlingen, die am 19. Mai 1941 in Begleitung einer SS-Wachmannschaft am Radolfzeller Bahnhof angekommen waren und in den ehemaligen Pferdeställen der SS-Kaserne untergebracht wurden. Am Abend des 15. November 1943 gelangten sie durch ein aufgestemmtes Latrinenfenster auf das Kasernengelände und überwanden am Wachpersonal vorbei die Umzäunungsmauern. In der Dunkelheit liefen sie über die Felder, überquerten die Landstraße Radolfzell-Böhringen, den Mühlbach und die Bahnlinie westlich der Mooser Brücke. Über den Brückendamm hinweg kamen sie schließlich hinunter zum SS-Bad im Herzen-Gelände. Dort brachen sie gegen 19.30 Uhr einen Bootsschuppen auf und setzten mit einem Faltboot ihre Flucht über den Untersee fort. Auf Höhe des Schwimmbades Berlingen erreichten sie gegen 21.40 Uhr das Schweizer Ufer. Nach der Vernehmung auf der Polizeistation und der ersten Nacht in Freiheit, die sie in einem Gasthaus in Berlingen verbrachten, kamen Leonhard Oesterle und Oldrich Sedlácek zunächst in das Gefängnis von Kreuzlingen, von dort als anerkannte politische Flüchtlinge in das Lager Birmensdorf bei Zürich und schließlich in das Flüchtlingslager Bassecourt im Schweizer Jura. Dort trennten sich ihre Wege.

 

In Zürich war das Schauspielhaus der Treffpunkt für die verschiedensten Emigrationswege. Im Juden- und Kommunistentheater der Usswärtigen traf Oesterle auf deutsche Schauspieler. Im Kreis dieser künstlerischen Freunde, bin ich aufgelebt und habe gewusst, ich bin in der für mich richtigen Welt, wo es um das Schöne, das Wahre, eben um Kunst geht. Die Freunde haben mich sehr unterstützt bei meinen Anfängen, als Bildhauer zu arbeiten. Sie haben mir ein Lebensgefühl vermittelt und einen kulturellen Horizont. Darunter die Schauspieler Maria Fein (1892-1965), ihre Tochter Maria Becker (1920-2012) und deren späterer Ehemann Robert Freitag (1916-2010).

 

In ihrer 2009 erschienenen Autobiografie Mein Leben geht Maria Becker auf diese Zeit ein: Wir fanden eine geräumige und, was ganz wichtig war, günstige Vierzimmerwohnung in der Steinwiesstraße, nicht weit vom Theater entfernt. Zu diesem Zeitpunkt, 1943, war meine Mutter 54 Jahre alt, Bobby 27 und ich 23 . Eine Zeit lang lebte Manès Sperber (1905-1984) bei uns, er war aus Frankreich in die Schweiz geflüchtet ... Ein anderer Gast in der Steinwiesstraße war Leonhard Oesterle, den wir aber nie zu Gesicht bekamen. Eigentlich wohnte er in Zug, bei dem Bildhauer Fritz Wotruba, aber zu geheimen Stunden besuchte Oesterle meine Mutter, auf irgendeine Weise hatte er zu ihr gefunden. Oder war es umgekehrt? Auf jeden Fall wurden die beiden ein Paar.  Sie war eine außergewöhnlich talentierte, sehr schöne Schauspielerin mit viel Sexappeal. In Liebesszenen starrte sie ihren Partner derart an, dass man als Zuschauer jedes Mal den Eindruck hatte, jetzt will sie es wissen. Ich kann das nur bestätigen: Wenn sie einen ehemaligen Liebhaber traf, wurde ich das Gefühl nicht los, gleich würde sie ‚ja‘ hauchen, sich bei dem Mann unterhaken und mit ihm auf und davon ziehen. In dem Haus in der Zollikerstraße, in dem ich jetzt lebe, steht im Treppenhaus eine Plastik von ihm, die meiner Mutter gehörte: ein Frauenkopf.

 

Die Schweizer Jahre von Leonhard Oesterle von 1943 bis 1952, in denen sein künstlerischer Weg so entscheidend geprägt wurde, sind bisher nur ungenügend recherchiert, eine Aufgabe, der sich die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen nicht länger entziehen sollte, zumal nach dem Ausscheiden des Kunsthistorikers Herbert Eichhorn  die Nachfolgerin Isabell Schenk-Weininger das Werk von Oesterle ganz und gar in das Archiv verbannt hat.

 

In der Schweiz war schließlich auch der 1939 aus Wien geflohene Bildhauer Fritz Wotruba (1907-1975), der sich in seinem Atelier am Zugersee auf die Darstellung des Menschen konzentrierte, und dessen archaische und zugleich in sich ruhende Figuren Oesterle beeindruckten, wohl auch, weil der Stein roh bleibt und die Spuren der Arbeit sichtbar. Mein künstlerischer Lehrer Fritz Wotruba hat von mir einmal gesagt: Ich sei wie eine Pflanze, die lange, lange Zeit im Keller gehalten worden, endlich ans Licht gekommen und mit aller Kraft aufgelebt sei. 1945 erhielt Leonhard Oesterle ein Stipendium der Evangelischen Flüchtlingshilfe, so dass er an der Kunstgewerbeschule Zürich das Studium bei Bildhauer Ernst Gubler (1895-1985) aufnehmen konnte. Als der Bildhauer Otto Müller (1905-1993) in Wiedikon einen Bau mit Ateliers und Wohnturm für Maler und Bildhauer errichtet hatte, schloss sich Oesterle an.

 

1952 ist Leonhard Oesterle nach Deutschland zurückgekehrt, zuerst München, dann nach Berlin, wo ihm eine Atelierwohnung angeboten wurde. Dort wurde geheiratet, dort wurde Tochter Anna-Katrin und Sohn Rudolf geboren. 1956 wanderte Leonhard Oesterle nach Kanada aus. 1958 kam Ehefrau Ursula mit den Kindern nach. Zwei Jahre später kehrten Frau und Kinder nach Deutschland zurück. Er blieb in Kanada. Die Ehe wurde geschieden. Später lernte er eine andere Frau kennen, eine holländische Jüdin. Mit Shifra Salomea Nussbaum lebte er bis zu seinem Tod zusammen. Er arbeitete als Bildhauer und Zeichner und war von 1963 bis 1987 Lehrer für Bildhauerei am Ontario College of Art & Design in Toronto. College-Absolvent Dennis Shields erinnerte sich: In seiner großartigen Lektion ging es mir nicht nur um Kunst, das Was und das Wie. Durch seine sanfte Demut, seine Leidenschaft und seinen unbezwingbaren Geist hat Oesterle mir beigebracht, was es bedeutet, menschlich zu sein - dass es nicht ausreicht, nur um zu überleben. Es kommt vielmehr darauf an, wie sie überleben.

 

Oesterle hat Kanada nie bereut, obwohl ihn auch Max Frisch gefragt hatte, was er denn in dem Urwald wollte. Allerdings bekannte er aber auch, dass dies ein junges Land ist und seine Zeit braucht, um hineinzuwachsen. An der mangelnden Resonanz auf seine Arbeiten in Europa hat der Ortswechsel nicht gelegen. Ich habe zweimal die Brücken hinter mir abgebrochen, als ich mit meinen Arbeiten bekannter wurde, 1952 in Zürich, um nach Deutschland zu gehen, und 1956, um nach Kanada auszuwandern. In Berlin war sogar eine große Ausstellung mit Plastiken und Figuren von mir in Vorbereitung.

 

Oesterles Credo: Die Kunst soll dem Menschen Freude machen. Freude - in einer vielerorts freudlosen Welt. Und die Leute hier in Toronto wollen meine harmonischen Figuren kaufen, sie verlangen nach meiner figürlichen Arbeit. Und ich muss sagen, ich mache diese Figuren sehr, sehr gern. Ein Künstler braucht ein Publikum, das mitgeht. Das fand er, auch mit der Ausstellung in der Royal Canadian Academy of Arts in Toronto, zu der ein Katalog mit 17 Schwarzweißtafeln von seinen Skulpturen und ein Porträt des renommierten Fotojournalisten Walter Curtin (1911-2007) entstand.

 

1988 reiste der Autor Sigbert E. Kluwe nach Toronto. Seine Gespräche mit Oesterle führten zu Kluwes Jugendroman Glücksvogel. Leos Geschichte, der 1990 zuerst im Signal-Verlag und 1992 im Rowohlt Verlag erschien. Kluge ergänzte diese Geschichte mit einem Interview unter dem Titel Epilog: Die Jahre danach, den wir wegen auszugsweise veröffentlichen.

 

Als die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen 1991 eine Ausstellung mit Werken von Leonhard Oesterle organisierte, kam der inzwischen 76-jährige Bildhauer in seine Geburtsstadt Bietigheim. Während der Schulzeit war er als der beste Zeichner angesehen. Zur Verzweiflung seiner Klassenkameraden nahm er sich für das Betrachten von Fotos immer viel Zeit, und als er in Westermanns Monatsheften erstmals moderne Kunst sah, beschloss er, Künstler zu werden. Das wichtigste Element seines Lebens war allerdings, unabhängig zu sein, der Drang nach Freiheit. Diese Sehnsucht hat ihn während seiner langjährigen Haft auch immer wieder motiviert. Und schließlich gab Leonhard Oesterle eine Antwort auf seine Kunst, auf sein figürliches Interesse, vor allem an weiblichen Körpern – und zitiert Goethe: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche, Hier wird's Ereignis; Das Unbeschreibliche, Hier ist's getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan. Für Oesterle hat der Mann in seinem Körper nicht so viele klassische Elemente. Der weibliche Körper hat schöne Rundungen, der Bauch, die Brüste, der Hintern, die Schenkel, also viele Möglichkeiten, das Klassische zum Ausdruck zu bringen. Damit werden auch die Gefühle sehr abgeregt. Kurzum: Die Frau spielt eine zentrale Rolle, da sie für den Fortbestand der Menschheit ebenso sorgt wie für die ewige Verführung des Mannes.

 

2005 war Oesterle letztmals in Deutschland: Anlässlich seines 90. Geburtstags zeigte die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen eine Retrospektive seines bildhauerischen Werkes. Er übereignete der Galerie Skulpturen und Zeichnungen, später kamen Briefe, Artikel und Fotografien aus Privatbesitz hinzu. Der größte Teil seines Werkes befindet sich in öffentlichen und privaten Sammlungen in den USA, Kanada und Europa.

 

Leonhard Oesterle starb am 7. November 2009. Seine langjährige Lebensgefährtin Shifra Salomea Nussbaum und seine in Friedenau lebende Tochter plädierten gemeinsam dafür, dass der kanadische Bildhauer, Zeichner und Kunstlehrer deutscher Herkunft auf dem Friedhof Stubenrauchstraße seine letzte Ruhe finden sollte. Berlin bekam damit auch ein Werk von Leonhard Oesterle, auf einem Friedhof zwar, bis die Skulptur Sitzende Frau (1991) im Herbst 2015 vom Grabsockel gestohlen wurde.

 

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Waghalsige Flucht als letzter Ausweg

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Epilog Die Jahre danach

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Die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen präsentierte vom 21. April bis zum 16. Juni 1991 die Ausstellung Leonhard Oesterle – Skulpturen. Oberbürgermeister Manfred List erklärte dazu: Die Ausstellung ist für den Künstler eine Art Heimkehr in die Stadt, in der er 1915 geboren wurde und seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Gleichzeitig ist sie, nach vielen Ausstellungen in Kanada und in den Vereinigten Staaten, die erste Einzelausstellung des Künstlers in Deutschland. Das hat mit den Verwerfungen in der Geschichte unseres Jahrhunderts zu tun, die auch Leonhard Oesterles Lebensweg bestimmt haben. Die Jahre in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, die Flucht in die Schweiz, die Anfänge als Bildhauer und schließlich die Auswanderung nach Kanada — das sind die entscheidenden Eckdaten einer bewegten Biographie. Dass sein Werk dann so scheinbar unberührt bleibt von den erlittenen Wunden, ist umso eindrucksvoller. Die nachfolgenden Abbildungen sind dem Katalog entnommen.

 

Leonhard Oesterle

LEONHARD OESTERLE IM GESPRÄCH

 

O: Das Weglaufen hat eine große Rolle gespielt in meinem Leben. Von Bietigheim bin ich weggegangen, nachdem ich die Lehre fertig hatte. Ich zog nach Stuttgart. In Stuttgart wurde ich dann 1935 verhaftet. Nach einem Jahr habe ich dort einen geradezu wahnwitzigen Fluchtversuch gemacht. Ich versuchte während der Hofstunden an der mit Stacheldraht umwickelten Dachrinne hochzuklettern, über die Mauer zu gehen und hinunterzuspringen — jeden Augenblick in der Erwartung, eine Kugel in den Rücken zu kriegen. Aber ich hatte darauf spekuliert, daß ich sie überraschen würde. Das ging schief. Aber ich habe in all den Jahren von 1936 bis 1943 immer an Flucht gedacht. Ich wußte, wie gefährlich das ist. Sie hätten mich aufgehängt. Ich mußte sehr vorsichtig sein. Aber als in Radolfzell die Gelegenheit kam, habe ich mich so lange beherrscht — fast 1 ½ Jahre. Ich habe nichts gesagt. Nur meinen tschechischen Freund habe ich ins Vertrauen gezogen. Wir sind zusammen geflüchtet. Er wußte von dem Boot. So konnten wir über den See in die Schweiz gelangen. Als wir dann auf der anderen Seite in Sicherheit waren, haben wir uns in Zufriedenheit das alles angeschaut. Aber während der ganzen Flucht waren wir sehr konzentriert. Das war aber wieder ein Wegrennen.

 

Dann bin ich aus der Schweiz weggegangen, weil ich dachte, ich sollte wieder nach Deutschland gehen. In der Schweiz hat es mir sehr gefallen. Ich habe gute Freunde gehabt. Ich war dort als Künstler, als Bildhauer anerkannt. Ich glaube, ich habe Ihnen erzählt, daß Fritz Wotruba mich eingeführt hat. Er hat mich eingeladen und mit verschiedenen Leuten bekannt gemacht. Ich wäre aber nie Bürger geworden.

 

 

 

 

E: Das war 1943, als Sie von Radolfzell aus in die Schweiz flüchteten?

 

0: Ja, und dann war ich von 1943 bis 1945 im Lager, im Flüchtlingslager. Danach war ich ein Jahr an der Kunstgewerbeschule bei Ernst Gubler. Gubler hat so viel gewußt. Er verstand sehr viel. Das ist mir eigentlich erst später aufgegangen, aber ich habe ihn immer sehr bewundert als Lehrer. Er hat einem nichts auf oktroyiert. Er hat nur darauf geachtet, daß wir uns selbständig entwickeln und uns die Probleme bewußt machen. Andere Lehrer laden oft ihre Probleme auf die Schüler ab. Das passiert sogar in den meisten Fällen. Als Lehrer habe ich selbst dann sehr darauf geachtet, daß nicht irgendein Stil gepredigt worden ist, sondern daß die Studenten sich entwickeln konnten. Ich habe ihnen immer geraten, sie sollten nicht zu lange auf der Schule bleiben.

 

Von der Kunstgewerbeschule ging ich zu Otto Müller. Ich war einfach dort. Wir haben miteinander gesprochen. Er meinte einmal: „Leo war nie mein Student, er war nur da.“ Ich habe nicht gewartet, bis er sagte, ich solle das tun oder das. Ich habe einfach gearbeitet. Otto Müller ist ein ganz anderer Typ als ich. Ich muß Dinge tun, und er ist sehr bedächtig. Er überdenkt zuerst ein Problem und macht zahllose Vorarbeiten. Ich mache immer nur Dinge.

 

E: Bei Ihnen entstehen die Ideen also bei der konkreten Arbeit am Material?

 

0: Natürlich ist da zunächst eine Idee. Aber meistens ist es so: Wenn ich das Material habe, dann geschieht etwas, und was dann aus dem Chaos erscheint, das wird aufgefangen, entwickelt und weitergeführt — so wie ich es eben verstehe und wohin mich meine Gefühle führen. Man kann das nicht alles so analysieren. Man kann nicht neben sich selber treten. Ich besitze eine Bronzeskulptur von einem meiner Studenten. Er hatte sich so bemüht und da ausprobiert, dort hinzugetan und weggenommen. Ich sagte ihm: „Don’t be so bloody serious. Just play with it and something will happen.“ (Nimm es nicht so verdammt ernst. Spiel damit, und es wird etwas geschehen.) Dann ging ich weg und kam gleich wieder zurück, weil ich sah, daß es gut war. Er wußte aber nichts damit anzufangen, sah nicht, was es ist. So nahm ich es mit und ließ es gießen.

1952 bin ich dann nach Deutschland zurückgekehrt. Ich ging erst nach München und habe in einem Dorf außerhalb ein Zimmer gemietet. Habe auch ein bißchen gearbeitet — nicht viel.

 

E: Warum sind Sie gerade nach München ge­gangen, warum nicht wieder nach Stuttgart?

 

0: Ich weiß nicht. Ich habe gedacht, München ist ein wenig mehr der Kunst zugetan, eben etwas offener. Schauen Sie, in Stuttgart bin ich von der KP verraten worden. Und mit den Kommunisten dort zusammenzukommen war nicht meine Absicht. Ich habe zwar einen Freund aus der Haftzeit besucht, wenn ich nach Bietigheim oder nach Stuttgart kam, und bin durch ihn auch wieder mit anderen Kommunisten zusammengekommen. Aber ich habe mich sehr zurückgehalten. Die wußten ja, daß ich von der Partei an die Gestapo verraten worden war.

 

E: Warum wurden Sie eigentlich verraten?

 

0: Das weiß man bei den Kommunisten nie. Die haben diese Idee von der Parteilinie, und die hat sich dauernd geändert. Wahrscheinlich war ich irgendwann einmal nicht mehr auf der Parteilinie. Ich habe eben so gesprochen, wie es meinen Ansichten oder meinem Idealismus entsprach — eben was ich mir vorgestellt habe unter Sozialismus. Das entsprach nicht notwendigerweise ihrer Idee, denn sie haben immer nach politischen Grundsätzen gehandelt. Mit den Idealen, wie wir jungen Leute sie gehabt haben, hatte das wenig zu tun.

 

Dann bin ich nach Berlin gekommen, weil man mir gesagt hatte, daß dort ein Atelier frei sei. Freunde hatten mir das gesagt. Das war 1953. Dort habe ich meine erste Frau geheiratet. Meine Kinder sind dort geboren. Ich habe einen Formenmacher kennengelernt. Der hat mich mitgenommen, und ich konnte ihm helfen. Dort habe ich ein bißchen verdient. Aber ich habe bei den Jahresausstellungen des Künstlerbundes auch ausgestellt. In Berlin, wenn man in den Grunewald oder etwas weiter gegangen ist, stand man wieder vor einem Wachturm, genau wie im Konzentrationslager.

 

E: 1956 sind Sie nach Kanada ausgewandert. Hatten Sie keine Bedenken, ob Sie dort Ihre Absicht, als Bildhauer zu arbeiten, verwirklichen könnten?

 

0: Nein, ich war überzeugt, daß ich auch hier Kunst machen könne. Und ich habe Kunst ge­macht — nicht sofort, aber nach einer gewissen Zeit. Ich bekam zunächst eine Stelle bei der Stadtverwaltung. Ich wußte nicht, was für ein Job das ist, aber man hatte gesagt, es wäre ein guter Job. Als ich am anderen Morgen kam, stand ich vor einem Müllauto. Das war an sich sehr angenehm. Man hat die Kübel einfach hinaufgeschmissen und ging durch die Straßen. Man hatte frische Luft und Sonne. Der Lohn war gut. Als ich meiner Frau drüben mitgeteilt habe, was ich hier arbeite, meinte sie, ich würde meine Karriere ruinieren. Was man tut, spielte hier aber gar keine Rolle. Man kann von diesem Bereich in einen anderen wechseln. Das ist nicht wie in Deutschland, wo man dann quasi abgestempelt war. Ich habe mir jedenfalls nichts daraus gemacht. Ich habe daneben für mich gearbeitet. Zuerst habe ich Holz geschnitzt, Zedernholz, und habe auch bereits verkauft.

Jemand empfahl mir, abends ins Art College zu gehen. In der Bildhauerklasse würde ich Künstler treffen. Ich dachte mir schon, daß man da keine Künstler, sondern Amateure trifft. Und so war es auch. Aber ich hatte einen Modellierstand, ein Modell und Material. Ich habe dort gearbeitet, wie ich es gesehen habe. Der Lehrer stellte sich einmal hinter mich und sagte: „Oh, Mr. Picasso!“ Er fühlte sich wohl bedroht. Ich habe nichts darauf erwidert. Mein Englisch war auch noch nicht so gut, als daß ich hätte diskutieren können. Er sollte doch reden, was er will. Beim zweiten oder dritten Mal wurde es mir aber zu dumm, und ich sagte: „Listen, I’m an artist. I’m a sculptor. Don’t teil me what to do or not to do. I know what I’m doing.“ (Hören Sie, ich bin ein Künstler. Ich bin ein Bildhauer. Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe. Ich weiß, was ich tue.)

 

Ich habe dann eine Garage gemietet für 10 Dollar im Monat. Das war nicht viel. Ich konnte mir das leisten. In dieser Zeit war Maillol ein Idol von mir. Für den Herbst 1957 wurde mir dann eine Ausstellung zugesagt. Ich hatte also nur ein halbes Jahr, um meine Ausstellung vorzubereiten. Ich hatte einen Beruf. Ich habe zu der Zeit in einer Glaserei gearbeitet. Nach Feierabend habe ich mir Milch, Käse und Brot gekauft und bin in meine Garage gegangen. Dort habe ich jede Nacht gearbeitet bis elf oder zwölf Uhr. Am frühen Morgen habe ich dann wieder im Betrieb gearbeitet. Im Herbst hatte ich dann meine Ausstellung zusammen — aber alles eben Gipsfiguren.

 

Später hat mich genau der Mann, der mich „Mr. Picasso“ genannt hatte, an das Ontario Art College geholt. Das war sehr interessant. Die Studenten haben sich an mich angeschlossen. Das war im Frühjahr 1963.

 

E: Bis auf eine kurze abstrakte Phase sind Sie immer beim Thema der menschlichen Figur, vor allem der Frauen, geblieben.

 

0: Eben das sehr alte Thema. Ich glaube, ich habe eine Verbindung zu diesen Dingen. Ich bin mir der Geschichte und unseres Herkommens bewußt. Ich bin zwar in vielen Dingen revolutionär im Denken, aber dann auch wieder sehr konservativ. Das geht bei mir zusammen. Ich denke, man kann nicht nur konservativ und auch nicht nur revolutionär sein. Man muß ein ganzer Mensch sein. Das ist mein Ideal.

 

E: Was Ihre Technik angeht, fiel mir auf, daß Sie bestimmte Verfahren etwa die nur sehr grob bearbeitete Oberflächeoft nach Jahren plötzlich wieder aufnehmen.

 

0: Ja, früher habe ich sehr spontan gearbeitet, nicht so viel Wert aufs Fertigmachen gelegt. Ich hatte immer Angst, daß es, wenn man zu viel daran arbeitet, tot wird. Und diese Technik hat mir damals doch sehr gut gefallen. Aber ich habe inzwischen immer wieder Neues ausprobiert. Aber im großen und ganzen bin ich doch bei meinem Stil geblieben. Ich hoffe dabei immer noch auf Neues, Neues im Sinne meines Weges — Stärkeres oder Konsequenteres — vielleicht etwas größere Freiheit.

 

E: Sie haben in Beton, Stein und vor allem in Bronze gearbeitet. Wie ist Ihr Verhältnis zu den verschiedenen Materialien?

 

0: Ich hätte mehr in Stein arbeiten sollen, mehr Figürliches in Stein.

 

E: Sie denken, die Arbeit aus dem Stein liegt Ihnen eher?

 

0: Ich merke es beim Modellieren. Ich arbeite dann wie in Stein. Immer wieder grabe ich in die Volumen hinein. Aber beides ist wichtig: das Aufträgen und dann auch wieder das Wegschneiden. In den letzten Monaten kam es mir verstärkt zum Bewußtsein, daß ich oft so modelliere, als würde ich einen Stein behauen. Man geht so mehr in die Dreidimensionalität, obwohl es vor allem meine Absicht ist, die Werke einfach und streng zu halten. Bei meinen Figuren habe ich immer klare Raumverhältnisse angestrebt.

 

E: Haben Sie das Gefühl, daß Sie künstlerisch noch sehr in Europa verankert sind?

 

0: Es ist mir in letzter Zeit sehr zu Bewußtsein gekommen, daß ich ein Europäer geblieben bin. Ich habe mich auch nicht von der europäischen Literatur abgewandt, obwohl ich natürlich viel auch in Englisch gelesen habe. Mir ist die englische Sprache sehr angenehm. Vieles kann man einfacher sagen als im Deutschen. Vieles denke ich auch in Englisch. Aber dann ist mir doch wieder sehr wohl bei deutschsprachiger Literatur, wenn ich etwa wieder auf Goethe komme. Kleist habe ich in letzter Zeit mehrere Male gelesen. Ich möchte mehr von Büchner und von Fontane lesen.

 

E: Aber in Ihrem Werk schlagen sich diese literarischen Themen nicht nieder?

 

O: Nein, es kommt mir nicht in den Sinn, eine Illustration von etwas Literarischem zu machen. Ich glaube, das wäre nicht gut. Ich bin Bildhauer und kein Literat. Fritz Wotruba hat mich bereits davor gewarnt, historische oder literarische Themen aufzunehmen. Man soll sich dem Neuen zuwenden. Und für mich ist das Neue die Frau. Das bleibt. Wie Goethe sagt: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan.“ Das ist nun einmal so.

 

Das Gespräch mit Leonhard Oesterle führte Herbert Eichhorn am 24. November 1990. Der 1957 geborene Kunsthistoriker Herbert Eichhorn leitete von 1988 bis 2005 die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen.

 

Tonbandprotokoll: Gespräch mit Leonhard Oesterle

http://von-unten.org/audio/oesterle-kluwe%201992-entrauscht.mp3