Berlin - Südwesten
Durch Wilmersdorf und Friedenau führt die lange Kaiserallee, umgeben von Wohnvierteln, die sich aus alten Dörfern und Villenkolonien gebildet haben. Von Friedenau wird behauptet, daß es, wie auch gewisse Teile von Steglitz und Lichterfelde, Zufluchtsstätte vieler ehemaliger königlicher Beamter und rentenlos gewordener Rentner alten Schlages sei. Gestalten mit chronisch entrüstetem Gesichtsausdruck über Bärten, die etwas Pensioniertes, etwas von Restbestand haben, sollen Geheimräte und Kanzleisekretäre sein; es begleiten sie Gattinnen, die oft richtige Federn auf dem Hut haben, wie in entschwundenen Zeiten die Damen von Welt es hatten. Diese würdigen Matronen wohnen in freundlichen, etwas unmodernen Gartenhäusern. Man sollte glauben, daß sie in ihrem traulichen Heim lieblicher werden müßten, als sie es sind. Nun, wir wollen für ihre Kinder hoffen …
Wo die Kaiserallee in die Schloßstraße mündet, fängt Steglitz an. Es beginnt hochmodern mit einem stolz ragenden Filmpalast, an dessen Flanken in strahlenden Röhren das Licht flutet, in dessen Innerm strenge Linien und kühne Wölbungen Zuschauer- und Bühnenraum umschweifen. Aber weiterhin ist das gute Steglitz eine der älteren berlinischen Kleinstädte und viele Häuser der Seitenstraßen, die zum Stadtpark führen, sind geblieben wie zur Zeit der Jahrhundertwende, da man hier Schul- und Studienfreunde besuchte, die Sonderlinge waren und zur besseren Erkenntnis der Weltstadt die kontrastierende Stille des abgelegenen Vororts brauchten. Das älteste hier ist wohl das Schloßrestaurant mit dem Theater, ein Gebäude, das bald nach 1800 von Gilly als Landhaus errichtet worden ist ...
Der Schriftsteller, Übersetzer, Lektor. Franz Hessel (1880-1941) wohnte von 1933 bis 1936 in der Lindauer Straße Nr. 8 in Schöneberg. Am 15. April 2013 wurde am Haus eine Gedenktafel angebracht. Hessel arbeitete als Lektor im Ernst Rowohlt Verlag, schrieb Romane, Gedichte, Prosastücke, übersetzte Werke von Casanova, Stendhal, Honoré de Balzac, Marcel Proust und erklärte den Berlinern als Flaneur ihre Stadt. Nachdem die Nationalsozialisten dem jüdischen Schriftsteller ein Berufsverbot erteilten, emigrierte er 1938 nach Frankreich. Er starb als Emigrant in Sanary-sur-Mer. Hinterlassen hat er mit „Spazieren in Berlin“ (1929) schöne und immer wieder empfehlenswerte Geschichten:
Franz Hessel, „Spazieren in Berlin“. Verlag Dr. Hans Epstein (1929)
Neuausgabe unter dem Titel „Ein Flaneur in Berlin“. Verlag Das Arsenal, 1984