Auf den historischen Plänen von 1876 bis 1892 ist auf dem Dreieck zwischen Lauterstraße, Ringbahntrasse und Friedenauer Straße (Hauptstraße) keine Bebauung verzeichnet. Die Lauterstraße war Gemarkungsgrenze, links war Friedenau, rechts Schöneberg. Nachdem sich Schöneberg zu einem Bebauungsplan für das Areal entschlossen hatte, gab es die Hähnelstraße (1892), die Bennigsenstraße (1903) und am 30. Dezember 1901 die Stierstraße, benannt nach dem Architekten und Hochschullehrer der Berliner Bauakademie Wilhelm Stier (1799-1856).
Zu den Kuriositäten der Stierstraße gehört, dass die auffällig schmalen Bürgersteige vor den Häusern Nr. 7 bis Nr. 11 auf die Polizeiverordnung von 1899 zurückgehen, mit der damals festgelegt worden war, dass parallel zur Hausfront angelegte Wege eine Breite von 1,25 m nicht überschreiten dürfen. Nachzutragen ist, dass die 315 Meter lange Stierstraße bis 1940 zu Schöneberg gehörte und erst in den 1950er Jahren dem Ortsteil Friedenau zugeordnet wurde.
Wilhelm Stier wurde am 8. Mai 1799 als Sohn eines preußischen Proviantmeisters in Błonie bei Warschau geboren. 1812 kam er nach Berlin, besuchte das Gymnasium zum Grauen Kloster, studierte an der Bauakademie und legte 1817 die Bauführerprüfung ab. Es folgten Aufenthalte im Rheinland, in Frankreich und Italien. 1824 lernte er in Rom Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) kennen. Schinkel erkannte das Talent Stiers und verschaffte ihm ein preußisches Staatsstipendium zum Studium der antiken Architektur. 1828 wurde Wilhelm Stier Lehrer an der Berliner Bauakademie für das neue Studienfach Entwurf und Kunstgeschichte. Nebenbei legte er die Baumeisterprüfung (Landbauinspektor) ab, wurde Professor, Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Stier, der 1837 nur sein eigenes Wohnhaus, die „Stierburg“ in der Straße Am Karlsbad gebaut hatte, verstand sich nicht als Architekt. Er war „Lehrer“ und als solcher verfasste er zahlreiche Studien- und Lehrentwürfe, in denen er das Nachahmen historischer Stile ablehnte. Friedrich Ludwig Wilhelm Stier ist auf dem Alten Friedhof an der Hauptstraße beigesetzt. Das von Friedrich August Stüler geschaffene Grabdenkmal – ein von sechs Säulen getragener Grabbaldachin in Form eines „dorischen Tempelchens“ – trägt die Inschrift „Dem Freunde, dem Lehrer – die Architekten Deutschlands“.
Stierstraße Nr. 1
Baudenkmal Mietshaus
Entwurf Paul Meyer
1907-1908
Zwei Mietwohnhäuser liegen an der spitzwinkligen Einmündung der Stierstraße in die Hauptstraße einander gegenüber und bilden eine kontrastreiche Baugruppe. Das noch historistisch aufgefasste Haus Hauptstraße 77 ist das Pendant zum jüngeren Eckhaus 76 gegenüber. Beide bilden das „Tor“ zur Stierstraße. Das viergeschossige Mietswohnhaus wurde auf einem spitzwinkligen Eckgrundstück erbaut. Es wird durch Aufgänge sowohl in der Hauptstraße 76 als auch in der Stierstraße 1 erschlossen. Der Kopfbau ist zweiachsig. Die beiden weitgehend identischen Straßenfronten werden jeweils durch drei in sich asymmetrische Risalite mit Quergiebeln gegliedert. Den Risaliten sind Erker, offene Loggien und Balkons zugeordnet. Die Hauseingänge werden durch Portale mit Pilastern und Putten betont. Topographie Friedenau, 2000
Stierstraße Nr. 2
Bruno Nelissen-Haken (1901-1975)
Der gebürtige Hamburger Bruno Nelissen-Haken (eigentlich Franz Albert Bruno Haken) legte im Frühjahr 1919 ein Notabitur ab. 1920 begann der national gesinnte Mann mit dem Studium der Rechtswissenschaft in Hamburg, das er in Jena und Würzburg fortsetzte. Ab 1928 war er als Praktikant beim Landesarbeitsamt Nordmark in Hamburg tätig. Nelissen-Haken begann mit dem Schreiben und reichte dem Eugen Diederichs Verlag ein Manuskript unter dem Titel Prolete links, Prolete rechts ein. Der Verlag war interessiert, da beim Lesepublikum ein starkes Interesse an den mannigfaltigen Umwälzungen und Neuorientierungen auf allen Gebieten zu spüren war. Allerdings hatte der Titel einen zu politischen Beigeschmack, der dem Buch abträglich sei. Der Lektor schlug Die Arbeitslosen vor, weil der Begriff die ganzen Gefühlskomponenten aufwühlt, die sich im Gefolge unserer erschütterten Zeit angesammelt hatten. Der Autor war eher unzufrieden. Nach wochenlangen Diskussionen entschied der Verleger: Der Fall Bundhund.
Nach der Veröffentlichung seines Romans Der Fall Bundhund, in dem er ein exemplarisches Arbeitslosenschicksal schilderte und Kritik an der Rolle der Arbeitsämter übte, verfügte das Landesarbeitsamt im Oktober 1930 die fristlose Entlassung des Praktikanten. Der anschließende Prozess, den Nelissen-Haken gegen die Behörde anstrengte, erregte deutschlandweit Aufsehen:
Die Frankfurter Zeitung berichtete am 6. November 1930 unter dem Titel „Der Fall Haken“: Vor dem Erweiterten Arbeitsgericht Hamburg wurde der Fall des Schriftstellers Bruno Nelissen-Haken weiterverhandelt, der auf Grund seines Arbeitslosen-Romans „Der Fall Bundhund“ vom Landesarbeitsamt Nordmark fristlos entlassen worden war. Während bisher vom Landesarbeitsamt weder Herrn Haken noch der Presse ein Grund für die plötzliche, in schroffer Form erfolgte Entlassung gegeben wurde, gab der Vertreter des Landesarbeitsamts bei der heutigen Verhandlung, wohl unter dem Druck der Pressenachrichten, zu, daß der Roman die Veranlassung zur Entlassung Hakens gewesen sei. Ausschlaggebend sei hierbei gewesen: eine Herabsetzung und Herabwürdigung der Reichsanstalt und eine tendenziöse Darstellung ihrer Einrichtungen, die Verächtlichmachung der Selbstverwaltung, die Verwertung der in vertraulichen Sitzungen hergestellten Protokolle. Außerdem, führte der Vertreter des Landesarbeitsamts aus, habe Haken – vermutlich – die Arbeitsstunden zur Arbeit an seinem Roman benutzt. Haken widerlegte alle drei Punkte dadurch, daß er darauf hinwies, daß sein Buch kein Schlüsselroman sei und daß keines der in dem Buch angegebenen Ereignisse tatsächlich in der Praxis vorgekommen sei. Er erwiderte weiter, daß seine Vorgesetzten, die ja auch Beamte seien, ihre Arbeitszeit zur Lektüre seines Romans benutzt hätten, und im übrigen sei es merkwürdig, von der sozialsten Behörde Deutschlands zu erfahren, daß sie eine fristlose Entlassung von Beamten durchkämpfe, die zum Teil mit Arbeiten betraut wurden, die von Beamten der Gehaltsstufe 9 geleistet worden sind. Laut Paragraph 118 der Verfassung dürfe kein Deutscher wegen einer Meinungsäußerung in irgend einer Weise benachteiligt werden. Große Bewegung entstand unter den Zuhörern und Pressevertretern, als Haken mitteilte, daß sowohl der Senat Hamburg wie auch das preußische Kultusministerium, das durch die Notgemeinschaft des deutschen Schrifttums Haken sofort eine Geldsumme überwiesen hat, entschieden von seiner Maßregelung abgerückt seien.
Daß aber eine Reichsbehörde einen Angestellten wegen einer literarischen Arbeit maßregelt, daß es ihr gestattet sein darf, nicht nur eine verschleierte Zensur zu üben, indem man die Entlassung mit irgendwelchen juristischen Formeln begründet, sondern eine offene Zensur, da man zugibt, der Inhalt des Romans sei der Anlaß zur Entlassung, das ist eine skandalöse Angelegenheit. Im Laufe der Verhandlung wurde sogar bekannt, daß bei einer vertraulichen Sitzung im Landesarbeitsamt beraten wurde, ob man das Buch nicht durch einstweilige Verfügung oder gar durch den Paragraphen 48 verbieten lassen könne. Wenn nicht mit allem Nachdruck den Herren vom Landesarbeitsamt gesagt wird, daß ihre Handlungsweise unvereinbar ist mit dem menschlichsten aller Gesetze, dem der geistigen Freiheit, ist zu befürchten, daß morgen ein ähnlicher Fall auftaucht.
Der Prozess endete 1931 mit einem Vergleich, in dem sich das Landesarbeitsamt zur Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist und zur Ausstellung eines regulären Zeugnisses verpflichtete. Danach widmete er sich ganz der Schriftstellerei und verfasste eine Vielzahl von eher unterhaltenden Werken, darunter auch Der freche Dackel Haidjer aus der Stierstraße (1936). Die Gegend kannte er, da Bruno Nelissen-Haken nach Aufenthalten in Lüneburg und Baden-Baden ab 1935 in der Stierstraße Nr. 2 wohnte. 1941 wurde sein Bauernroman Der Peerkathener Mädchenraub unter dem Titel Männerwirtschaft von Johannes Meyer für die Ufa verfilmt. Der Fall Bundhund wurde 1976 noch einmal aufgerollt – als Fernsehspiel von Eberhard Hauff.
Der Fall Bundhund in der Presse:
Stierstraße Nr. 3
Julius Berstl (1883-1975)
In der Stierstraße wurden über 58 Stolpersteinen verlegt – Erinnerung an jene Nachbarn, die Deutsche, aber Juden waren, und deshalb ermordet wurden. Gedächtnis einer Straße nennt sich das Projekt der Initiatorin Petra T. Fritsche. An einen, auch Jude, wird nicht erinnert, weil er sich 1936 rechtzeitig mit seiner Familie nach England retten konnte. Der Fall ist bezeichnend für das höchst fragwürdige Gedächtnisunternehmen. Da ist es auch wenig hilfreich, wenn im Begleitbuch eine mehr als lapidare Würdigung nachgeschoben wird.
Es geht um Julius Berstl, einen vielseitigen und erfolgreichen Schriftsteller, der heute ziemlich vergessen ist. Julius Berstl gehört zu Friedenau. In der Fehlerstraße Nr. 13 A und der Stierstraße Nr. 1 entstanden in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vielgelesene Romane und Theaterstücke. In der seit 1998 in Berlin erscheinenden Wochenschrift für Politik, Kunst und Kultur Das Blättchen publizierte Thomas Zimmermann am 27. April 2015 eine Reminiszenz an Julius Berstl, Wir veröffentlichen den Text mit freundlicher Genehmigung von Autor und Redaktion:
Julius Berstl „wurde am 6. August 1883 als zweiter Sohn des Schauspielerehepaars Norbert und Franziska Berstl in Bernburg an der Saale, Lange Straße 3, geboren. Die Eltern befanden sich im Sommerengagement“. Mit diesen Worten begann Berstl seine Autobiografie Odyssee eines Theatermenschen, die er 1963 in Hollywood verfasste und in der er auf ein längst vergangenes Kapitel der deutschen Geschichte zurückblickte: die Kaiserzeit, in der die Theater noch keinen ganzjährigen Spielplan hatten und die Schauspieler dadurch gezwungen waren, sich für jedes Halbjahr bei einer anderen Spielstätte zu bewerben.
Berstls Eltern hatte es auf diese Weise 1883 an die Bernburger Bühne verschlagen, für die Wintersaison aber waren sie schon nach Sankt Gallen in der Schweiz engagiert. Die junge Familie sollte über Jahre nie länger als sechs Monate an einem Ort leben, ein Gefühl der Heimatlosigkeit begleitete Julius Berstl von Kindertagen an. Und so ist es nicht verwunderlich, dass er an seine Geburtsstadt Bernburg nur wenige Erinnerungen hatte. Im Alter von sechs Wochen wurde Berstl in der Schlosskirche Sankt Ägidien getauft, unmittelbar danach verließ die Familie Bernburg in Richtung Schweiz. Bis 1890 führte die Familie, die väterlicherseits dem mährisch-jüdischen Kleinbürgertum, mütterlicherseits einer hessischen Schauspielerdynastie entstammte, ein unstetes Wanderleben, immer auf der Suche nach neuen Engagements. Dann aber wurde Norbert Nathan Berstl zum Direktor des Göttinger Stadttheaters ernannt und seine Familie sesshaft.
Nach einem kurzen Studium der Literatur arbeitete Julius Berstl zunächst als Lektor in Leipzig, bevor er 1909 nach Berlin ging, wo er am Theater des legendären Victor Barnowsky als Dramaturg wirkte. Bis 1924 sollte Berstl Barnowsky künstlerisch beraten und dabei mit den Spitzen der damaligen Literatur verkehren, so etwa mit den Brüdern Mann, Stefan Zweig, Curt Goetz, Joseph Roth, Bert Brecht und vielen anderen. Zu dieser Zeit begann er auch, erste Theaterstücke zu verfassen. Sie wurden zwar veröffentlicht und auch aufgeführt, doch mehr als einen Achtungserfolg erzielten sie zunächst nicht. Der Weltkrieg brachte schließlich die entscheidende Zäsur in Berstls Schaffen. Kurz vor Kriegsbeginn hatte Berstl die Schauspielerin Hedwig Koch geheiratet, noch 1914 wurde der Sohn Norbert geboren. Dann aber fand sich der junge Vater und angehende Autor bald in einer Jüterboger Kaserne wieder, wo er dank Kriegsrationen auf 95 Pfund abmagerte und neben der Verwaltungspost heimlich seinen ersten Roman verfasste. Ich habe im Lärm dieser Schreibstube (außerdienstlich) große Teile meines Romans ‚Überall Molly und Liebe‘ (1920) geschrieben, meine erste erwachsene Arbeit, vermerkte er viele Jahre später.
Der Roman machte Berstl über Nacht berühmt. Zurück aus dem Krieg, war er ein gefragter Autor, seine humorvoll-zeitkritischen Romane wurden in Zeitungen vorabgedruckt und gerieten nicht selten zu wahren Skandalen, da sich viele Zeitgenossen in ihnen wiederfanden. Ab 1924 arbeitete Berstl in verschiedenen Theaterverlagen und etablierte sich zudem auch als Bühnenautor. Sein erfolgreichstes Stück, die Komödie Dover-Calais (1926), wurde Weihnachten 1926 an unfassbaren 25 Bühnen gleichzeitig uraufgeführt. Andere, politische Unterhaltungsstücke wie Scribbys Suppen sind die besten (1929) und die Napoleon-Satire Napi (1930) folgten. Mit der ‚Machtergreifung‘ der Nazis 1933 endeten Berstls Erfolge. Als Halbjude gebrandmarkt, wurde er zunächst mit einem Publikationsverbot belegt, und nachdem er es 1935 abgelehnt hatte, der faschistischen Reichsschrifttumskammer beizutreten, emigrierte er schließlich im Juli 1936 über Holland nach London. Dort war Berstl zunächst auf die Unterstützung von Freunden angewiesen, weil ihm keine Arbeitserlaubnis erteilt wurde. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschlechterte sich Berstls Lage noch weiter: Als Deutscher wurde er in Huyton bei Liverpool interniert und lebte dort mit anderen Flüchtlingen, wie dem antifaschistischen Schriftsteller Hans José Rehfisch und dem Erbprinzen von Sachsen-Weimar, unter erbärmlichen Umständen – bis er krankheitsbegingt entlassen wurde.
Berstl arbeitete in der Folgezeit für den BBC und nahm über 60 Hörspiele auf, die zunächst an die Humanität der deutschen Soldaten appellierten und nach 1945 auch die Jugend östlich der Elbe mit christlichem Gedankengut versorgten. Gleichzeitig konnte sich Berstl in England und den USA als Autor durchsetzen. Besonders seine Romane um den Apostel Paulus Der Zeltmacher und Adler und Kreuz fanden beidseits des Atlantiks großen Anklang: Der einst so zeitkritische Autor hatte sich im Alter verstärkt dem Glauben zugewandt. Als er 1951 von der BBC in den Ruhestand versetzt wurde, siedelte Berstl mit seiner Familie in die USA über, wo er in New York als freier Autor lebte. Nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1964 zog Berstl nach Kalifornien, um dort als Drehbuchautor für Hollywood zu arbeiten. Doch nur schwer fand er zur leichten Kost zurück, der große Wurf blieb aus. Berstl starb am 8. Dezember 1975 in Santa Barbara im Alter von 92 Jahren.
Stierstraße Nr. 3
Uwe Johnson (1934-1994)
„Dichter der beiden Deutschland“ wird er genannt, auch „Dichter der Teilung Deutschlands“. Er ist es und auch nicht. Geboren wurde Uwe Johnson in Pommern. Von dort flieht die Familie 1945 nach Mecklenburg. Der Vater wird von der Roten Armee verhaftet, in das Speziallager Nr. 9 in Fünfeichen gebracht und schließlich in die Sowjetunion deportiert, wo er 1946 stirbt. Mutter Erna zieht mit Sohn Uwe und Tochter Elke nach Güstrow. Von 1952 bis 1956 studiert Uwe Johnson Germanistik in Rostock und Leipzig. 1956 ziehen Mutter und Schwester nach Westberlin. Der 22-Jährige bleibt in der DDR – bis er schließlich am 10. Juli 1959 auch nach Westberlin übersiedelt. Wochen später erscheinen „Die Blechtrommel“ von Günter Grass und „Mutmaßungen über Jakob“ von Uwe Johnson. Auf der Frankfurter Buchmesse treffen sie sich – Anfang einer lebenslangen, nicht immer ungetrübten gegenseitigen Wertschätzung.
Uwe Johnson wohnt zunächst in der Dahlemer Spechtstraße Nr. 5, bis ihm im Oktober 1961 die Atelierwohnung in der Niedstraße Nr. 14 zugewiesen wird. Nach dem Mauerbau flüchtet seine Freundin Elisabeth Schmidt nach Westberlin. Am 28. Februar 1962 wird geheiratet, am 20. November wird Tochter Katharina geboren. Im April 1963 beziehen die Johnsons ihre Hauptwohnung in der Stierstraße Nr. 3, die sogenannte „Familienwohnung“.
Im April 1964 erwerben Anna und Günter Grass das Haus Niedstraße Nr. 13 und werden Nachbarn von Uwe Johnson. Nun interessiert sich auch Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929), Johnsons Lektor beim Suhrkamp Verlag, für ein Haus in Friedenau, für sich, seine Frau Dagrun und Tochter Tanaquil. „Ihr hättet nichts dagegen, wenn wir in eure Nachbarschaft kämen“. Johnson machte ein Haus ausfindig und die Enzensbergers zogen 1965 in die Fregestraße Nr. 19 ein.
1966 ziehen die Johnsons nach New York, behalten aber während des Amerika-Aufenthaltes die Wohnungen Niedstraße Nr. 14 und Stierstraße Nr. 3. Am 8. Januar 1967 teilt Dagrun Enzensberger Johnson mit, dass „Hans Magnus und ich uns für einige Zeit trennen werden“, und fragt an, „ob ich Eure Stierstraßen-Wohnung für eine kürzere Zeit“ mieten könnte. Vier Tage später telegrafiert Johnson am 12. Januar 1967 aus New York City: „Liebe Dagrun, natürlich, ja. Brief folgt.“ Am 3. Februar 1967 schreibt Dagrun an Johnson: „Wir machen eine Kommune.“ Am 19. Februar 1967 zieht die „Kommune I“ in die „Atelierwohnung“ Niedstraße Nr. 14 ein. Fortan nutzen die Kommunarden auch die „Familienwohnung“ Stierstraße Nr. 3 für ihre Sitzungen.
Im April 1967 erfuhr Uwe Johnson aus der „New York Times“ vom geplanten „Pudding-Attentat“ der „Kommune 1“ auf US-Vizepräsident Hubert H. Humphrey. Auf Bitte Johnsons ließ Günter Grass „die auf den Kopf gestellten Wohnungen“ Niedstraße und Stierstraße von der Polizei räumen. Im August 1968 kehrte die Familie Johnson nach Berlin zurück. Es folgten erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger zur Kostenübernahme für die angerichteten Schäden. Enzensberger: Ich bin nicht der Hüter meiner Verwandten.
1974 ziehen die Johnsons nach Sheerness on Sea auf die Insel Sheppey im Mündungstrichter der Themse. 1975 publiziert Johnson bei Suhrkamp eine Aufsatzsammlung unter dem Titel „Berliner Sachen“. 1978 trennen sich Elisabeth und Uwe Johnson. Am 13. März 1984 wird Uwe Johnson in seinem Haus in Sheerness tot aufgefunden.
Uwe Johnson: Rede zum Bußtag (19. November 1969)
Ich lebe in einer Berliner Straße, aus der die Bomben drei Miethäuser herausgetrennt haben, gegenüber der einstmals leeren Fläche, auf der die evangelische Kirche ein Haus für den Dienst an Gott und eins für die Geselligkeit hat hochziehen lassen, in einer recht modeseligen Auffassung von Baukunst, und nicht nur die auswärtigen Besucher stehen versonnen an meinem gemieteten Fenster und sprechen unverhofft von einem Ski-Übungshang. Dennoch sind unsere Beziehungen zu dieser Niederlassung Gottes verblüffend innig. Das kommt von dem frei stehenden Glockenturm, der, besonders am Freitag, zu oft knalligen Lärm in die Schallkanäle zwischen den vierstöckigen Häusern drückt, die Fenster dröhnen macht und nicht nur Kleinkindern Ohrenschmerzen bereitet. Einer Fluggesellschaft würde die Bürgerschaft zumindest fahrlässige, wahrscheinlich vorsätzliche Körperverletzung vorwerfen. Aber diese Körperschaft des öffentlichen Rechts nimmt ein jungmädchenhaft gekränktes Wesen an, wenn man sie behandelt wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, und ich habe nicht angefangen, Unterschriften zu sammeln. Und wenn diese Kirche nicht nach mir ruft in ihrer grobianischen Manier, traue ich mich in ihre Nähe und lese die Ankündigungen im Schaukasten, die Farblichtbildervorträge über die Seilstraßenbahnen in San Francisco oder die Erstickung des Individuums in den Zwängen und Isolierungen der modernen Industriegesellschaft, mit Diskussion, und bin regelmäßig verdutzt durch die Hartnäckigkeit, mit der dies Institut die feuilletonistischen Entwicklungen verfolgt, nicht nur in der Architektur, auch in der zeitgemäßen Reform seines Betriebsauftrags, der in der Erklärung der Welt für Mitglieder und Schwankende besteht. Und wie viele meiner Nachbarn drücke ich meine Hochachtung schweigend aus, und gehe nicht hinein.
Aus: Uwe Johnson, Berliner Sachen. Suhrkamp, 1975
Uwe Johnson an Anna und Günter Grass (Nyc, 6. April 1967)
Liebe Anna, lieber Günter, als ich euch anrief, war es bei euch wohl zweiundzwanzig Uhr, und ihr klänget auch nach dem stillen Abend den wir nunmehr entbehren. Wir sind euch sehr dankbar dafür, dass ihr uns helfen wollt. Die anderen Blätter sind das Original und die gleichermaßen gültige Kopie einer Vollmacht für Günter in bezug auf unsere Wohnungen; in der Eile ist die Ausdehnung auf Anna vergessen worden, aber wenigstens gibt euch der Schluss die Möglichkeit, die Ermächtigung sogleich auf euren Anwalt zu übertragen. Die Auswahl der praktischen Maßnahmen möchten wir eurem Urteil überlassen. Wir kennen nicht die Verhältnisse, wir waren noch heute mittag beim Lesen der Zeitung nicht imstande, uns hineingezogen zu sehen. Was wir uns wünschen, werdet ihr euch denken, und ich möchte es lediglich bestätigen:
Dagrun Enzensberger muss die Wohnung in der Stierstraße sofort verlassen und die Schlüssel der Hauswartfrau, Frau Fucker, übergeben. (Nachdem wir am Montag einen Brief mit Beschwerden der Hauseigentümerin bekommen haben, baten wir Dagrun Enzensberger in einem Brief vom Dienstag, am 15. April spätestens auszuziehen. Wir wünschen nun, dass sie es sofort tut.) Ulrich Enzensberger soll in unsere Wohnung in der Niedstraße nicht mehr gelassen werden, wenn du es für vermeidbar hältst, jedenfalls nicht ohne Zeugen, und er soll die Schlüssel dir oder deinem Rechtsanwalt geben.
Da die hiesigen Zeitungen von einer Beschlagnahme auch anderer Gegenstände sprechen, müssen wir befürchten, dass auch Manuskripte und Briefwechsel von mir mitgenommen wurden. Trifft das zu? Woran uns am meisten liegt, ist den Verlust der Wohnung in der Niedstraße zu vermeiden. Wenn ihr mit Frau Gierth von der „Gesellschaft für Handel und Grundbesitz“ (Berlin 15, irgendwo am Kurfürstendamm) sprechen solltet, betont doch unser Interesse an dieser Wohnung, wir hängen sehr daran. Wenn die angerichteten Schäden nicht gefährlich sind, schließt die Wohnungen einfach zu. Einer von uns wird im Juni kommen, sich die Bescherung anzusehen. Bis Dienstag könnten wir an jedem Tag kommen, wenn ihr es uns ratet, aber danach ist es vorläufig wegen Visaschwierigkeiten nicht möglich. Unsere Nummer ist 749-2857. Euer Verhalten am Telefon hat uns getröstet, und wir danken euch für eure Hilfe.
Mit herzlichen Grüssen, Uwe
Am 28.01.1963 schreibt Johnson an Wilhelm Müller, dem Englischlehrer an der John-Brinckman-Oberschule in Güstrow: In diesem Haus wohnen wir ganz oben und haben alles bezahlt. Aber ein paar Strassen weiter sitzt die Hausbesitzerin und addiert genussvoll was für Heizkosten nachzuzahlen ist; Krampfadern hat sie auch. Friedenau ist ein Dorf, es steht auch voller Bäume, meistens Kastanien, da war wohl mal ein Stadtbaumeister. In den Geschäften kaufen wir nun schon drei Jahre, das merken die sich: Einen guten Rutsch, der Herr! Auf der Strasse liegt der Schnee hoch aufgeschaufelt am Rinnstein, aber die kleinen Vögel werden schon übermütig. Auf dem Balkon sitzt schweigend ein dicker, schwarzer, es ist der uns immer besucht, aber wir kennen seinen Vornamen nicht, so kann man schlecht ins Gespräch kommen. Das Kind schreit und möchte vielleicht mit dem Alphabet spielen, das kann es aber noch nicht haben bei seinem Alter; man hört auch die leere Stadtbahn traurig halten, trübe weiterrollen, Flugzeuge wie die Ewigkeit über dem Dachfirst, und aus dem Treppenhaus den Mieter unter uns, er glaubt nicht, dass er schwerhörig ist und probiert öfter am Tag seine Klingel aus: ob sie geht hören aber nur die andern. Der Himmel müsste mal gewaschen werden.
***
Brief an Dorothy Hensan vom 26.09.1963, der Vermieterin seines Rostocker Studenten-Domizils: Allerdings haben wir ungefähr anderthalb Möbelwagenmeter zurückgelassen in der Niedstrasse Nummer 14. Zu dem gehe ich morgens in einem unbürgerlichen Sinne hin und regiere ihn. Abends kehre ich via Hauptstrasse oder via Handjerystrasse, Perelsplatz, Hähnelstrasse in die Stierstrasse zurück und halte die Beine neben den Tisch als wäre nichts gewesen. Und diese beiden Vorrichtungen sind durch einen Draht verbunden. Jede Wohnung ist das telefonische Vorzimmer des andern, eine Verbindung lässt sich mit Knopfdruck herstellen und kostet nichts ... Wir leben ziemlich belanglos weiter unter den Flugzeugen oder den Kastanien, die nach uns zielen. Das Kind macht uns zu seinem Adjutanten in allen Dienstbereichen, es sagt Wa! und wir kommen gelaufen.
***
Brief an Manfred Bierwisch vom 21.08.1963: Kennst Du, erinnerst Du das Haus Nummer 13 in der Niedstrasse? Den Bau aus bunten Klinkern mit leicht verförstertem Dach? In dem Vordergarten hinter dem gehäkelten grünen Zaun spielten immer die amerikanischen Kinder und sagten Hi. Ein indischer Student ging würdevoll zum Briefkasten der im gemauerten Gartentürpfosten angebracht ist. Auf der Strasse standen mit Militärkennzeichen die drei Wagen der Familie. Alle sind jetzt ausgezogen. Das leere Haus hat zwei Dreizimmerwohnungen mit jeweils Bad und Küche im vorstehenden Hauptblock, im zurückgesetzten Block, der früher Kutscherwohnung bei Kommerzienrats war, übereinander zwei Einzimmerwohnungen. Die schmalen Rundbogenfenster sind von innen grösser als aussen. Die Räume sind niedrig aber menschlich geschnitten. Unter dem steilen Dach, dem man von vorn nur die Sucht des Architekten nach neugotischen Schnörkeln ansieht, ist in Wirklichkeit und nach hinten offen ein Atelier so hoch, dass ein Elefant nicht anstösst. Nach hinten zwischen den Brandmauern von Nummer 14 und der Bäckerei, von der Albestrasse aber nicht ganz zugestellt, sind noch einmal 500 qm Garten mit Apfelbäumen. Dies Haus wollte mir unser Hauswart gegen Provision vermitteln.
Wir fanden das Inserat in der Zeitung, rissen es aus und banden es auf dem Flugplatz einem Ankömmling an, der manchmal aussieht wie ein brasilianischer Kaffeegrosshändler, manchmal wie ein spanischer Viehhändler, manchmal wie ein Zigeuner aus der Kaschubei. In einer dieser Gestalten, von einer in Lederjacke begleitet, besichtigte er das Haus und verblüffte den Makler mit der Ankündigung er sei interessiert dafür sechzigtausend auf den Tisch zu legen. Der Makler musste sich aber erst noch vergewissern und fand zu seiner weiteren Verwirrung Leute, die leichthin mit jeder Summe für dies bärtige Individuum gutsagen wollten. Darauf ging das Individuum fort. Gestern wieder wurde es in der Niedstrasse vor dem Haus gesehen, auf einem Klappstuhl, wie es das Haus zeichnete. Kinder standen umher und waren bemüht, sich nicht zu wundern. Der Mann mit dem Bart, leicht zu zeichnen für Kinder: Schwarz für das Gewächs unter der Nase, schwarz für die Augen, schwarz für das schwarze Band um den zerknautschten Hut, so ging er aufs Postamt und schickte die Zeichnungen express in die Schweiz. Aus der Schweiz traf Zustimmung ein, und heute wird das Haus verkauft.
Du entsinnst Dich vielleicht dass ich Günter Grass von Anfang zuredete ein Telefon zu mieten. Unermüdlich hat er Jahre lang Berlin erpresst mit dem Telefon, an das man ihn nicht holen konnte. Auf diesem Umweg habe ich ihn doch hereingelegt, denn in dem Haus steht schon ein Telefon, das kann er übernehmen.
Im Dezember werden nun seine Zwillinge hinter dem Haus stehen und unermüdlich mich anspucken, wenn ich ins Haus daneben steige unters Dach. (...) Wir machen gleich die Probe auf eure Auslegung des Gesetzes über Fremdliteratur und schicken Dir Meine Liebe Hiroshima von Duras, etwas Ausgedachtes von Benjamin und drei Kriminalromane und eine Marke Tabak und das Einwickelpapier.
Friedenau, ein Teil des Stadtbezirkes Schöneberg von Gross-Berlin, ist in mancher Hinsicht zu vergleichen mit dem Stadtbezirk Lichtenberg, ebenda, eben deswegen. Verfügt man hier über Kastanienbäume, hat man doch eine Untergrundbahnstation bisher nicht aufzuweisen. Die Leute sind abends auch froh, wenn sie glauben den Tag hinter sich zu haben. Was den einen Stadtteil vom anderen trennt, ist einem von auswärts kaum zu erklären. Die Hiesigen laufen umher in der Meinung sie allein wüssten da aber Bescheid. Dieser Meinung muss nicht noch entgegengetreten werden.
Dies in diesem Sinne.
***
Seinen Arbeitsalltag als Schriftsteller beschreibt Uwe Johnson in einem ausführlich erzählenden Brief dem Englischlehrer Wilhelm Müller in Güstrow; zum ersten Mal werden in diesem Brief jene Fragen aufgeworfen, die Gesine Cresspahl in dem unvollendet gebliebenen Manuskript Versuch einen Vater zu finden später so intensiv beschäftigen werden. An den Oberlehrer schreibt Uwe Johnson: Bitte nennen Sie es doch nicht egozentrisch, wenn Sie Ihren Alltag erwähnen. Viel anderes weiss ich ja auch nicht mitzuteilen, nachdem uns nur vergangene Gelegenheiten gemeinsam sind, mitsamt deren Andenken, das halten wir aber fest, und wir lesen also gern ob Sie verreisen oder in den Heidberg gehen, um wenigstens auf die Art in Ihre Nähe zu kommen.
Sie erwähnen da so meine Betätigungen. Am liebsten täte ich davon nichts. Mir wäre schon recht man liesse mich hier sitzen und was aufschreiben klammheimlich, unberühmt, nicht prominent, einfach so. Stattdessen regt das Telefon sich auf mit der Frage: warum ich das tue, zu welchem, möglichst zu einem höheren. Ungelogen, wenn Zeitungen Brief schreiben, geben sie sich aber auch gleich als das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit und fragen die Berühmtheiten: was essen Sie zu Weihnachten, was denken Sie über die Ehe, waren Sie ein guter Schüler, würden Sie Ihre Kinder schlagen, was tun Sie weniger gern als was Sie tun? Harmloser wird man eingeladen zum Vortragen der Dichterstimme, aufgefordert zu Diagnosen der Weltverhältnisse, nach dem Sinn des Lebens gefragt; es stört aber auch. Solche Begleitumstände des Berufs haben zumindest in der Person sich geirrt, und viel lieber sässe ich unter dem Hut eines Pseudonyms und befasste mich da mit Cresspahl und den Seinen. Und nachdem ich auf meiner Reise durch Skandinavien nicht viel mehr gesehen habe als Flugplätze, Pressekonferenzen, Hotelzimmer, Vortragsräume, Rundfunkstudios und ab und zu Gegend aus zweitausend Meter Höhe, wird mir schon jetzt unbehaglich vor der Fahrt durch England, die mir den November auffressen wird, denn da werde ich zu nichts Vernünftigerem kommen als zu - Ansichtspostkarten nach Güstrow i. M..
Stierstraße Nr. 4
Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons (1875-1933)
Zweifel an der bisher „bekanntgemachten“ Lebensgeschichte von Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons sind angebracht, da sie zumindest in Teilen auf nicht überprüfbaren Selbstangaben beruht. Zu den Fakten gehört, dass der Sohn des Reichstagsabgeordneten der „katholischen“ Zentrumspartei die Kadettenanstalt absolvierte und eine Militärlaufbahn anstrebte. 1912 gab er auf. Er heiratete und verdiente sein Geld als Lobbyist der Industrie.
Der Erste Weltkrieg kam, der Kaiser rief und Nayhauß ließ sich bereits im August 1914 für die Kavallerie des Königs-Ulanen-Regiment Nr. 13 (1. Hannoversches) reaktivieren. Er wurde Rittmeister und mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet. Sturz vom Pferd und Schulterverletzung bedeutete das Aus. Während des Lazaretts gönnte er sich eine Fahrt auf dem Bodensee. Während der Überfahrt soll er Passagiere belauscht haben, die sich „in verdächtiger Weise über kriegswichtige Belange“ informiert hätten. Laut Wikipedia sei er daraufhin den Männern bis zur Villa des französischen Militärattachés in Bern gefolgt. Da habe er den Plan gefasst, den Attaché der gegen das Deutsche Reich gerichteten Spionage zu überführen. Er habe den Diplomaten aufgesucht, wobei er sich als williger Zuträger, der ihn mit Geheimnissen über die deutsche Kriegsführung versorgen könnte, ausgegeben habe. Der Franzose blieb reserviert und verwies ihn an den russischen Attaché, der wiederum bei den Schweizer Behörden Anzeige gegen ihn erstattet habe. Nayhauß wurde festgesetzt und nach Deutschland abgeschoben. Ein schlechter Krimi.
Im Reich wurde er des Landesverrats angeklagt und vom Kriegsgericht zunächst zum Tode, dann zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt. 1919 wurde er vom Reichsmilitärgericht freigesprochen und voll rehabilitiert. Die erste Ehe war inzwischen gescheitert. Nayhauß zog mit Sohn Hubertus (geb. 1913) nach Berlin. 1925 folgte die zweite Heirat. Aus der Ehe mit Erika geb. von Mosengeil gingen die Söhne Mainhardt und Engelbert hervor.
In diesen Jahren schrieb er seine Rechtfertigung nieder, der Versuch, Prozess, Gefängnis und Scheidung zu verarbeiten. Das Buch „Unschuldig zum Tode verurteilt“, Erinnerungen eines deutschen Reiteroffiziers, erschien 1929 im Verlag von Oskar Meister im sächsischen Werdau. 1933 war „v. Nayhauß, St., Graf, Rittmeister a. D.“ mit Familie in das Haus von Eigentümer E. Secondeanos Stierstraße Nr. 4 eingezogen.
Während der Weimarer Republik betätigte er sich als Vortragsredner für die rechtskonservative Deutschnationale Volkspartei des Verlegers Alfred Hugenberg. Aus heiterem Himmel – oder aus enttäuschten Hoffnungen – wandelte er sich nach Ansicht der Stolperstein-Initiatorin Petra T. Fritsche zum „Kritiker und Gegner der NSDAP“. Unter dem Pseudonym Clemens von Caramon verfasste er die Schrift „Führer des Dritten Reichs“, in der er die kriminelle Vergangenheit von Nationalsozialisten beschrieb: „Bei jeder anderen Partei verschwinden ‚schwarze Schafe‘, nachdem sie entdeckt wurden, von der Bühne des öffentlichen Lebens. Nur der Nationalsozialismus duldet einzig und allein skrupellos an seiner Spitze, in Führerstellung, vielfach Menschen, die in des Wortes wahrster Bedeutung ‚Dreck am Stecken‘ oder keine ‚weiße Weste‘ mehr haben. Und zwar in einer Anzahl, wie es bei jeder andren Partei von rechts bis links, die auf einwandfreie ethische, moralische Einstellung ihrer Führer hält, einfach unmöglich wäre.“
Was wollte Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons damit erreichen? Es ist gewagt, zu behaupten, dass er die Öffentlichkeit vor dem Nationalsozialismus warnen wollte. Nahe liegt, dass seine Schrift wohl eher für „sein“ Offizierskorps gedacht war, das nach den „Erniedrigungen“ während der Weimarer Republik wieder Hoffnung schöpfte und sich in Scharen der NSDAP zugewandt hatte. Nicht das nationalsozialistische „Galgen-Gesindel“ sollte die Zukunft des Reichs bestimmen, sondern die preußische Militärelite.
Am 26. Juni 1933 wurde Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons in Breslau arretiert. Nach dem 20. Juli meldete die „Breslauer Zeitung“, dass ein Angler in einem Teich einen Toten entdeckt habe. „Die Leiche ist unkenntlich, da sie etwa acht bis vierzehn Tage im Wasser gelegen hat. Sie war an Händen und Füßen mit einem zwei Millimeter starken Draht gefesselt und mit einem 96 Pfund schweren Stein beschwert. Der Tote war bekleidet, jedoch fehlten die Schuhe. Es besteht die Möglichkeit, dass der Mann gefesselt lebendig ins Wasser geworfen worden ist, was jedoch bisher nicht einwandfrei festgestellt werden konnte. Zweckdienliche Angaben erbittet die Kriminalpolizei Breslau.“ – Der Tote war Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons.
Am 23.07.1934 teilte Staatssekretär Dr. Lammers mit: Dem Antrag der Witwe, „die sterblichen Überreste des Grafen Nayhauß (vom Stroschwitzer Friedhof) auf Staatskosten nach einem noch zu bestimmenden Ort zu überführen, vermag der Reichs- und Preußische Minister des Inneren in Anbetracht der gesamten Umstände des Falls nicht näher zu treten“.
Am 04.12.1936 erteilte der Reichs- und Preußischen Minister des Inneren folgende Anweisung: „Der Gräfin Erika von Nayhauß-Cormons und ihren beiden Kindern wird anlässlich des Ablebens ihres Ehemannes bezw. Vaters aus Billigkeitsgründen vom 1. Dezember 1936 an eine monatliche Rente von 350 RM (Dreihundertfünfzig RM) aus Reichsmitteln bewilligt. Von diesem Betrage stehen der Gräfin selbst 150 RM, ihren Kindern je 100 RM zu. Die Rente für die Gräfin wird lebenslänglich, die Renten für die Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt. Ferner bewillige ich der Gräfin von Nayhauß-Cormons eine einmalige Entschädigung von 2500 RM (Zweitausendfünfhundert RM) aus Reichsmitteln.“
Am 21. September 2009 wurde vor dem letzten Wohnhaus von Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons in der Stierstraße Nr. 4 ein Stolperstein verlegt. Es bleiben viele Fragen offen.
Stierstraße Nr. 5
Alfred Bürkner
Seit über zwei Jahrzehnten ist keine Publikation über Friedenau erschienen, die sich wohl nicht an Alfred Bürkner orientiert hat – inklusive Peter Hahn & Jürgen Stich mit ihrem Buch Friedenau – Geschichte & Geschichten. Noch heute greifen wir bei Recherchen immer wieder zu diesem Nachschlagewerk“, weil es kurz, bündig und effektiv schnelle Auskunft gibt. Diese wegbereitende Arbeit hat Alfred Bürkner geleistet: Sein Friedenau – Straßen, Häuser, Menschen ist Pionierarbeit.
Das Buch erschien 1996 im Stapp Verlag Berlin. Einen besseren und kompetenteren Verleger hätte er nicht finden können. Bei Wolfgang Stapp (1927-2017) erschien alles, was für Heimatgeschichte relevant war. Nachdem er 1953 den Verlag gegründet hatte, eigentlich nur um einen Berlin-Kalender mit Schwarz-Weiß-Fotografien von Fritz Eschen herauszubringen, machte er ab 1962 Bücher. Er suchte Autoren, die sich mit Berlin und der Mark Brandenburg auskannten und spezialisierte sich mit dem Verlag konsequent auf Berolinensien und Brandenburgensien. Erinnert sei an die Reihen Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg oder Preußische Köpfe, an die Berliner Bürgermeister im 19. und 20. Jahrhundert, an Bedeutende Grabmäler in Berlin, an Schiller-Theater und Schloßpark-Theater, an Die Dörfer in Berlin und an Der Teltowkanal – Eine Lebensader im Süden Berlins.
Alfred Bürkner über sein Buch: 1996 feiert Friedenau seinen 125. Geburtstag: Am 9. Juli 1871 nahm der für die Entwicklung Friedenaus maßgebliche „Landerwerb- und Bauverein auf Aktien“ seine Tätigkeit auf, so dass dieses Datum als die eigentliche Geburtsstunde Friedenaus gelten kann. Dieses Jubiläum war mir Anlass für vorliegendes Buch, das zwei Ziele verfolgt: Aus der Anfangszeit Friedenaus sind nur wenige der für diese Zeit typischen Villen erhalten, reichhaltiger ist der Bestand an später entstandenen Mietshäusern, deren teilweise repräsentative Erscheinung noch heute zu beeindrucken vermag. Auf bauliche Schönheiten und Besonderheiten hinzuweisen und zu eigenen Entdeckungen anzuregen, ist mein eines Anliegen.
Friedenau übte stets eine besondere Anziehung auf Literaten, Gelehrte, Künstler und Wissenschaftler aus. Ihre Spuren aufzuzeigen und Neugierde für eigene Nachforschungen zu wecken, ist mein anderes Anliegen. Eine solche Spurensuche ist schließlich nie endgültig abgeschlossen und sollte stets für Ergänzungen offenstehen.
Für die in diesem Buch genannten Personen gibt es keine genau definierten „Aufnahmekriterien“; wissenschaftlicher Rang, künstlerische Bedeutsamkeit und Ruhm sind subjektiv sehr unterschiedlich ausdeutbare Variablen. Es gibt aber ein „Ausschlusskriterium“: Die genannte Person, falls lebend, darf nicht mehr unter dieser Adresse wohnen. Auch Popularität verlangt rechtens nach Rücksicht. Einzige Ausnahme ist G. Grass, dessen Adresse in der Niedstraße fast zum Allgemeinwissen gehört, außerdem ist er dort seit einiger Zeit nicht mehr anzutreffen.
Für die bei den aufgeführten Personen genannte Zeitangabe zu ihrer Wohnadresse gilt folgendes: Steht die Jahreszahl in Klammern, ist es eine Jahresangabe aus „offizieller“, autobiographischer oder kontinuierlich fortgeschriebener Quelle (Berliner oder Friedenauer Adressbücher, Berliner Telefonbücher, Kürschners Literatur- und Gelehrtenkalender, Kürschners Nekrologe, Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft u. a.). Andere Quellen sind mit dem Autorennamen genannt. Die Lebensdaten der angegebenen Personen sind nach Möglichkeit aufgeführt, in vielen Fällen bleiben sie jedoch, insbesondere durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges, unvollständig.
Bleibt zum Schluss die Frage: Friedenau, aber wo liegt es? Den nördlichen Abschluss Friedenaus bildet die Ringbahn, den westlichen Abschluss die Laubacher Straße, im Süden wird der Grenzverlauf heute durch Born-, Rhein-, Peschke-, Holsteinische und Fregestraße bis zur Höhe der Friedenauer Brücke markiert. Von 1912 bis 1935 galt in diesem Bereich eine Gebietskorrektur, durch die einige Steglitzer Straßenteile zu Friedenau kamen. Während dieser Zeit reichte Friedenau im „tiefen Süden“ bis über die Guthsmutsstraße hinaus. Dadurch kam es zu dem Kuriosum, dass der „Titaniapalast“, ein markantes Wahrzeichen des Bezirks Steglitz, in den ersten Jahren seines Bestehens zur Hälfte auf Friedenauer Gebiet lag. Im östlichen Teil wird ab der Friedenauer Brücke als „natürliche“ Grenze Friedenaus allgemein die Wannseebahn angesehen, aber tatsächlich endet Friedenau schon ein ganzes Stück vor der Bahntrasse! Als grobe Richtlinie kann gelten, dass die Grenze zu Schöneberg im Bereich von Frege- und Stierstraße liegt; Einzelheiten und zeitweilige Korrekturen sind später bei den einzelnen Straßen aufgeführt. Die Straßen, die damit politisch nicht mehr zu Friedenau gehören, durch ihre enge geographische und historische Nähe und dem sich nicht an natürlichen Gegebenheiten orientierenden Grenzverlauf aber stets als zu Friedenau gehörig empfunden wurden, bilden mit dem Gebiet östlich der Wannseebahn den „Friedenauer Ortsteil Schönebergs“. Dieses Gebiet gehörte zwar postalisch zu Friedenau, aber zu einer verwaltungsmäßigen Anbindung kam es nicht, obwohl dies verschiedentlich gefordert wurde.
Im vorliegenden Buch wird als östliche Begrenzung Friedenaus die Rubensstraße angesetzt. Eine historische Rechtfertigung erfährt diese „Grenzziehung“ dadurch, dass die Bebauung der Straßen bis hin zur Rubensstraße in zeitlicher Anlehnung an die Bebauung Friedenaus erfolgte; das Areal östlich der Rubensstraße entstand jedoch später und atmet in keiner Weise den architektonischen Geist Friedenaus.
Alfred Bürkner ist ein exzellenter Kenner Friedenaus – und ein ziemlich zurückhaltender Mensch. Obwohl wir – auch über Helfershelfer – an ihn herankommen und mehr über ihn wissen wollten, ist uns das bisher leider nicht gelungen.
Stierstraße Nr. 6
Antiquariat Barasch
„Die besten Bücher in Friedenau hat Barasch die alte Sau.“ Diesen triftigen Werbespruch hat der Fotograf Volker Kunze in seiner großzügigen Wahrhaftigkeit für Rüdiger Barasch kreiert und gedruckt.
Rüdiger Barasch lebt seit mehr als 40 Jahren in Friedenau. Zuerst ab 1972 im 3. Stock des Gartenhauses Perelsplatz Nr. 16, dann ab 1977 auf den zwei Ecken von Hähnel- und Stierstraße, nun nicht weit davon in einer geräumigen Parterrewohnung. Er kennt Friedenau und er kann Geschichten erzählen.
Als Anwohner 2012 auf die Idee kamen, die gemächliche Gegend mit einem Straßenfest zu beleben, lud er zu einem Kurzvortrag ein. „Barasch’s Streunereien“ sind mit den Illustrationen von Ines Kersting auf dieser Webseite unter „Aus fremden Federn“ veröffentlicht.
Barasch begann mit den Baumeistern Ludwig Stier (1799-1856) und Hermann Hähnel (1830-1894), deren „Wirken Einfluss bzw. Ausstrahlung auf die Baugestalt dieser Straßenzüge hatte. Beide waren verdiente Bratenrocktypen des 19. Jahrhunderts. Dennoch wird sich die dritte und vierte bauhaus-Generation an ihnen messen müssen. Es sind nämlich Häuser mit Gesicht und Würde. Sie bleiben Repräsentanten einer alternativen Moderne. Bei aller Geschlossenheit strahlen sie keine Eintönigkeit und Gleichgültigkeit ab. Es sind individuelle Baukörper mit reichhaltiger Gliederung und vielfältigen Kompositionselementen. Die Traufhöhe und die Geschosshöhe sind gleich und waren bauamtlich vorgegeben. Gauben, Erker, Balkone, Wintergärten, Gesimse, Fensterfelder, Eingänge, Supraporte sind von großer Mannigfaltigkeit. Die Häuser runzeln nicht. Ihre Leuchtkraft vermehrt sich von Jahr zu Jahr, da die Zeit von der sie zeugen, einmalig war und unwiederbringlich dahin ist.
In seiner Kampfschrift ‚Das steinerne Berlin‘ von 1930 geißelt Werner Hegemann Berlin als die größte Mietskasernenstadt des Kontinents. Pauschal ist ja auch wirklich nichts zu preisen. Und auch in Friedenauer Gartenhäusern war die Toilette für zwei Mietparteien halbe Treppe tiefer. Bis in die 70er, 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Es gab ’nen Ausguss, keine Duschen, geschweige denn Bäder in den Seitenflügeln.
In der Stierstraße sind mehrere Hauseigentümer in der zweiten Nachkriegszeit den Verlockungen der senatsgeförderten Stuckabschlagsprämie erlegen. Ihrem Antlitz wurden schwere Blessuren zugefügt. Der Publizist Wolf Jobst Siedler hat das in einem grandiosen Buch ‚Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum. Ein Bilderbuch – Elegie‘ bereits 1964 skandalisiert. Auch hier wären beinahe alle Vorgärten geopfert worden, um autogerechte Parkbuchten zu schaffen. Noch in den Frühachtzigern entfernte man die friedenau-spezifischen Natursteinplatten vom Gehweg und verscheuerte Sie in die DDR, ersetzte sie durch langweilige Kunststeine (wahrscheinlich auch aus der DDR). Begründung Stolpergefahr. Und 2012 wurden uns Stolpersteine en masse gratis geliefert, um uns und noch unseren Kindeskindern volkserzieherisch die tägliche Schuldration zu verpassen.
Das Haus Stierstraße Nr. 6 Ecke Hähnelstraße Nr. 6 wurde vor ein paar Jahren saniert und in Eigentumswohnungen umgewandelt. Zusätzliche Balkone, deren Eckpfeiler allerdings ein wenig streichholzartig wirken, wurden an der Stirnseite gesetzt“.
Am 1. Juni 1978 bot sich Rüdiger Brasch die Gelegenheit, „günstigst einen Eckraum in der Stierstraße Nr. 6 Hähnelstraße Nr. 6 zu mieten“. Vermieter war Leon Ruczycki (1911-1993), ein „Beutedeutscher der ukrainisch-polnischen Herkunft. In Warschau hatte er eine gediegene Ausbildung als Schneider und war in diesem Gewerbe sowohl als Zwangsarbeiter von hohen Militärs als Maßschneider sehr gesucht. Nach dem Mai 1945 setzte sich diese Tätigkeit fort. Die russischen Offiziere organisierten Tuch und Pelz und traktierten ihn mit Extrazuteilungen von Wodka. In der späten Nachkriegszeit war er Zwischenmeister der damals blühenden Berliner Textilbranche. Er residierte in einer Ladenwohnung in Kreuzberg. In den spätfünfziger Jahren, als die Grundstückspreise wegen der Berlin-Krise in den Keller rutschten, erwarb er für „1 ½ Wüstenrots“ (ca. 90.000 DM) das Doppelhaus mit 2 Aufgängen und Seitenflügel Stierstraße Nr. 6/Hähnelstraße Nr. 6. Das Haus im ramponierten Zustand. Die ‚Wäscherei Ladeley‘ (Hähnelstraße Nr. 6) hatte einen völlig verrotteten Ladentrakt hinterlassen.
Das Dachgestühl war bis zum Tod des Hausbesitzers undicht und Leon Ruczycki rührte 2 x im Jahr seinen Spezialmörtel, um die regnerischen Hinterlassenschaften zu bekämpfen. Die von mir gemietete Dépendance-Räumlichkeit (darunter ein Keller mit holprigem Gestein auf märkischem Sand) war mauerdurchfeuchtet und marode. Die Grundsanierung honorierte der Hausherr durch günstigen Mietzins – Ein Luftentfeuchter lief von 1978 bis 1998. Da der ca. 25 qm große Raum (mit 2 ½ qm Nebenraum 5,40 m hoch war, bauten wir ein wohnlich anheimelndes Zwischendeck aus Holz. Große Holzbücherregale und Bücherschränke vervollkommneten das Idyll, welches ich seit dem 10. Mai 1984 spitzwegmäßig bewohnte und bewirtschaftete.
Das Ladengeschäft gab ich an einen Antiquar als Nachmieter ab und ich konzentrierte mich auf die Tätigkeit eines Versandantiquars. Insgesamt erschienen 25 erfolgreiche Kataloge von meiner Feder. Im Februar 1994 bezog ich zusätzlich eine Souterrainwohnung in der Stierstraße Nr. 13. Nach Aufgabe meiner Antiquariatstätigkeit 1998 quartierte ich daselbst in der Belle Etage.“
Handgefertigte Kataloge von Barasch
Stierstraße Nr. 7
Hellas-Bad
Auf den Plänen von 1876 bis 1892 ist auf dem Dreieck zwischen Lauterstraße, Ringbahntrasse und Friedenauer Straße (Hauptstraße) keine Bebauung verzeichnet. Die Lauterstraße war Gemarkungsgrenze, nach Westen war Friedenau, nach Osten Schöneberg. Nachdem Schöneberg einen Bebauungsplan für das Areal entwickelt hatte, war ab 1890 erstmals eine „Hähnelstraße“ eingetragen –mit der Anmerkung „gehört zu Schöneberg, unbebaut“. Es folgte am 30. Dezember 1901 der Eintrag „Stierstraße“ und 1903 „Bennigsenstraße“.
Die auffällig schmalen Bürgersteige vor den Häusern Stierstraße Nr. 7 bis Nr. 11 gehen auf die Polizeiverordnung von 1899 zurück, mit der festgelegt worden war, dass parallel zur Hausfront angelegte Wege eine Breite von 1,25 m nicht überschreiten dürfen. Nachzutragen ist, dass die 315 Meter lange Stierstraße bis 1940 zu Schöneberg gehörte und erst in den 1950er Jahren dem Ortsteil Friedenau zugeordnet wurde.
Eigentümer der bis dahin unbebauten Grundstücke Stierstraße Nr. 7 und Nr. 8 war 1910 der Nutzholzhändler Cassirer aus Berlin. 1914 geht Stierstraße Nr. 7 in das Eigentum von Major a. D. R. Anders aus Berlin, Oranienburger Straße Nr. 32 über. Für das Haus ist die Milchhandlung von G. Zimmeck verzeichnet. Eigentümer der Stierstraße Nr. 8 ist der Inhaber des Baugeschäfts A. Blank. Im Haus gibt es den Schlächtermeister R. Fehmel. Nach dem Ersten Weltkrieg heißt es im Jahr 1922 für Stierstraße Nr. 6 siehe auch Hähnelstraße Nr. 6. Für beide Häuser wird als Eigentümer Holzhandlung Nossol (Gleiwitz) aufgeführt. Stierstraße Nr. 7 „siehe auch Hähnelstraße Nr. 15a“ ist im Eigentum der Deutschen Volksversicherung AG. Bei Stierstraße Nr. 8 ist vermerkt: „Siehe auch Bennigsenstraße Nr. 6, Eigentümer Nossol Holzhandlung (Gleiwitz).“ Verwalterin E. Teßmer. Im Haus gibt es den Fleischermeister P. Greiff.
Die Eigentumsverhältnisse für den Gebäudekomplex zwischen Hähnel-, Stier- und Bennigsenstraße sind verwirrend. Für das Jahr 1928 sind dokumentiert: „Stierstraße Nr. 7 siehe Hähnelstraße Nr. 15a. Eigentümer Deutsche Lebensversicherung Gemeinnützige AG. Stierstraße Nr. 8 siehe auch Bennigsenstraße Nr. 6. Eigentümer B. Nossol, Holzgroßhandlung (Gleiwitz). Bennigsenstraße Nr. 6 siehe auch Stierstraße Nr. 8. Eigentümer B. Nossol.“ Bis 1943 war das Eckhaus Stierstraße Nr. 7/Hähnelstraße Nr. 15 a im Besitz der Iduna Germania Versicherung. In Nr. 7 waren als Mieter gemeldet: Handelsbevollmächtigter W. Knoche, Oberschulrat G. Neuendorf, Volkswirt Dr. W. Pilz, Oberst a. D. H. Pleger, Studienrat a. D. Prof. Dr. L. Seippel, Generaldirektor a. D. C. Wenzel sowie der NSDAP-Reichshauptstellenleiter K. F. Jurda. In Nr. 15 a gab es die Staatliche Lotterie Einnahme J. Albers, Direktor und Hauptmann a. D. H. Brugger, Buchdrucker-Hilfsarbeiter E. Deutschmann, Patentanwalt Dr. O. Faust, Handelsvertreter G. Hoogklimmer, Spielwaren H. Kaniß, Oberingenieur P. Rudloff und den Bäckermeister G. Schundt.
So bleibt es bis zum Zweiten Weltkrieg. Da fällt auf die Straßenecke eine Bombe. Das Haus bleibt verschont, aber durch die Druckwellen ziemlich beschädigt. Die Geschichte der heutigen Physiotherapiepraxis beginnt 1945. Da gründeten Bruno Lettau und seine Frau Hella an der Ecke Stierstraße Nr. 7 und Hähnelstraße Nr. 15 das „Hellas-Bad“, eine der Not geschuldete Einrichtung mit „Wannenbädern“, gedacht für Menschen, die zu Hause keine Badewanne hatten. Seit damals existiert die bis heute aktuelle Telefonnummer 852 44 49. Zwei Drittel der Fläche waren Badeanstalt, ein Drittel Wohnung mit 3 Zimmern, Küche, Bad – Hauseingang Stierstraße Nr. 7. In den Wirtschaftswunderjahren kamen medizinische Bäder, Bestrahlungen, Schlammpackungen und Massagen hinzu – und der erst Anfang der 1990er Jahre demontierte Schriftzug der Leuchtreklame „Hellas-Bad“, die die Ecke nachts beleuchtete.
Aus Altersgründen verkauften die Lettaus 1963 die Praxis an die 35-jährige Ursula Mertins. Ermöglicht wurde ihr das durch ERP-Mittel, einem Fonds zur Förderung der deutschen Wirtschaft. Die alleinstehende Frau mit zwei Töchtern hatte nach ihrer Ausbildung in der Massageschule von Dr. Vogler ab 1962 als Masseurin im „Hellas-Bad“ gearbeitet. In den sechziger und siebziger Jahren boomte der Laden. Eine Krankheit zwang sie 1992 zum Verkauf. Vier Jahre später starb sie im Alter von 68 Jahren. Der junge Masseur, der die Praxis erworben hatte, erkrankte schwer und musste wieder verkaufen. 2006 wurde aus „Hellas-Bad“ die Physiotherapiepraxis Susan Raymond.
Stierstraße Nr. 8
Durch den „Allerhöchsten Erlaß“ vom 9. November 1874 wurden die Grenzen der Gemeinde Friedenau festgelegt: „Gegen Norden durch die südliche Seite des Bahndammes der Ringbahn bez. des an derselben entlang führenden Weges, und zwar von der Grenze zwischen der Gemeinde und Gutsgemarkung Deutsch-Wilmersdorf bis zum Eintritt der Ringbahn an die Schöneberger Feldmark.“ Dieser „Weg“ führte parallel und unmittelbar hinter der Ringbahntrasse von der Friedenauer Straße (Hauptstraße) zum Maybachplatz (Perelsplatz). Das Terrain war 1892 noch nicht parzelliert. Bennigsenstraße Nr. 1-2 und Nr. 33-34 gehörten zu Friedenau, Benningsenstraße Nr. 3-32 und alle Grundstücke der Stier- und Hähnelstraße zu Schöneberg. Zwischen 1901 und 1906 wurden aus der „Straße 43a“ die „Hähnelstraße“, aus der „Straße 43b“ die „Bennigsenstraße“ und dem namenlosen „Weg“ die „Stierstraße“. Mitte der 1950er Jahre wurden die drei Straßen Friedenau zugeteilt.
1914 gehört Stierstraße Nr. 8 dem Baugeschäftsinhaber A. Blank. Im Erdgeschoss gibt es die Fleischerei Fehmel. Mieter sind die Postassistenten Baumgarten und Sanne, die Kaufleute Süß und Wildegans, Beamter Bermann, Kraftwagenbesitzer Große, Restaurateur Kriening sowie die Rentiere Kranz, Modrow und Wegler. Während der Weimarer Republik müssen Stierstraße Nr. 7 und Nr. 8, Bennigsenstraße Nr. 7 und Hähnelstraße Nr. 15 im Zusammenhang betrachtet werden. Für Stierstraße Nr. 7 und Nr. 8 ist eine „Zwangsverwaltung“ durch Witwe E. Teßmer eingetragen. Die Anzahl der Mietparteien bleibt bestehen. 1922 erscheint erstmals für Stierstraße Nr. 8 als Eigentümer der Name „Nossol, Holzhandlung (Gleiwitz)“ mit der Anmerkung „siehe auch Bennigsenstraße Nr. 6, Verwalterin Witwe E. Teßmer“. Eigentümer von Stierstraße Nr. 7 ist die „Deutsche Volksversicherungs-AG Berlin“.
1928 erwirbt „Bonosus Nossol, Gleiwitz“ (1882-1952) zum Anwesen Stierstraße Nr. 8 von den Camerer’schen Erben das Eckhaus Bennigsenstraße Nr. 6 hinzu. Den Laden im Erdgeschoss hat Bäckermeister R. Nestor gepachtet. 1943 gehen die Anwesen Stierstraße Nr. 7 und Nr. 8 sowie Bennigsenstraße Nr. 6, Portal I und II, auf die „Eigentümer Grundstücks Gemeinschaft Geschwister Nossol“ über. Es erscheint erstmals der Begriff „Hausverwaltung Bonosus Nossol“. Fleischerei und Bäckerei bleiben.
Der Holzgroßkaufmann Bonosus Nossol stirbt am 18. März 1952. Er wird auf dem Friedhof Stubenrauchstraße beerdigt. Auf dem Grabstein wird an den gefallenen Soldaten Georg Nossol (1921-1943) erinnert. Zum Nossolschen Erbe gehört danach nur noch das Eckhaus Stierstraße Nr. 8 und Bennigsenstraße Nr. 6, Portal I und II. Grundstückseigentümerin bzw. Hausverwalterin ist Margot Nossol (1916-2006). Im März 2001 erteilt sie „Rechtsanwalt Peter Blust Verwaltervollmacht für das Objekt Stierstraße Nr. 8 sowie Bennigsenstraße Nr. 6, Portal I und II“. Margot Nossol stirbt am 13. November 2006. Sie wird auf dem Friedhof Stubenrauchstraße beigesetzt.
Zum Haus Stierstraße Nr. 8 erreichte uns am 16. Februar 2020 eine Hausgeschichte von Herrn Michael Hoffmann aus Charlottenburg: Ich habe meine Jugendzeit, bis zum 19. Lebensjahr in Friedenau verbracht. Meine Eltern und Großeltern mütterlicherseits waren alte Friedenauer, letztere lebten bis in die 1950er Jahre in der Hähnelstraße Nr. 8. Im März 1958 zog meine Familie, Vater, Mutter, zwei Schwestern und ich dann aus der Ofenheizungswohnung in der Wielandstraße in die zentralbeheizte Wohnung Stierstraße Nr. 8, dritte Etage links – Hoffmann. Welch ein Komfort, Warmwasser ständig warme Wohnung, kein Kohleschleppen und befeuern von Kachelöfen. In der Etage unter uns lebte die Hauseigentümerin Frau Nossol-Blust mit ihren drei Kindern. Eine Tochter als ältestes Kind sowie zwei Söhne.
Der Ehemann von Frau Nossol-Blust, also Herr Blust, hatte sich von Frau Nossol getrennt, das machte ihr offensichtlich zu schaffen. Häufig saß sie im Stiereck, einer Kneipe an der Ecke Stier- Bennigsenstraße. Frau Nossol hatte an ihrer Wohnungstür ein kleines Holzschild in folkloristtischen Dekor angebracht, auf dem zu lesen stand: „Hax'n abkratzen“. Dies sorgte naturgemäß bei uns jugendlichen Geschwistern für ständige Heiterkeit. Ansonsten war unser Verhältnis zu ihr geschäftsmäßig geprägt, also unterschiedliche Vorstellungen zur Miethöhe, nachbarschaftliche Beschwerden, sie mochte nicht, dass mein Vater Klavier und ich Klarinette spielte, also das Übliche.
In der Wohnung unter Frau Nossol, also in der ersten Etage, lebte Frau Bermbach-Martin, geschiedene Frau eines Landgerichtsdirektors, sie betrieb dort einen Animierclub für amerikanische Soldaten. Gegen Mittag ging Frau Bermbach spazieren, im Pelzmantel und stets mit Sonnenbrille, sehr verlebt aussehend und erzählte jedem, ob er es wissen wollte oder nicht, dass sie demnächst in die USA auswandern werde, ob es dazu gekommen ist, weiß ich nicht. Meine Mutter und meine Tante, beide attraktiv, gut gekleidet und frisiert, damals etwa vierzig Jahre alt, stiegen eines nachts die Treppe hinauf. Ihnen kam die Treppe hinab der Nachbar Schulz, leicht angesäuselt, entgegen und sagte: Weiß schon wo sie hin wollen, Puff, Puff, Puff.
In dem Ladengeschäft am Eingang links befand sich die Fleischerei Budnik. Die Qualität dieser Fleischerei war so gut, dass der Kundenbereich zum Teil über die Bezirksgrenzen hinausging. Allerdings, zusammen mit der Bäckerei in der Bennigsenstraße, wurde verursacht, dass das gesamte Haus mit Schaben befallen war. Soweit ich mich erinnern kann nahm man das achselzuckend hin.
Oben rechts, also dritte Etage, lebte Frau Fiedler, ehemalige Steuerberaterin und
zusammen mit ihrem verstorbenen Ehemann passionierte Seglerin. Frau Fiedler schnarchte sehr stark, so dass man dies des nachts bis in das Treppenhaus hörte. Frau Fiedler war mit Frau Schulz aus der
zweiten Etage rechts befreundet. Nach dem Tod von Herrn Schulz zogen beide Damen in das Dibeliusstift. Parterre rechts lebte Frau Zschoche mit ihren drei jugendlichen Kindern (eine Tochter, zwei
Söhne). Es gab auch einen Hausmeister, der Haus reinigte und die Koksheizung betrieb, er hieß Kauz und war auch ein solcher. Ich habe gerne in der Stierstraße gewohnt.
2007 erfolgen über das Architekturbüro Freudenberg (AFM) Erneuerungen von Fassade, Balkonen, Dach und Treppenhäusern. Ein Jahr später wird mit der Umwandlung von einigen Mietwohnungen in Eigentumswohnungen begonnen. 2018 wurde „die Dachgeschosseinheit als Rohling veräußert“ und „mit dem Ausbau eine auf diesem Gebiet sehr erfahrene Firma“ betraut. Zu diesem Zweck wurde das gesamte Gebäude im Juni 2018 auf Front- und Hofseite eingerüstet
Vorgesehen sind Dachgeschossausbau und Anbau eines Fahrstuhls im Innenhof. Aus diesen geht hervor, dass in der Stierstraße Nr. 8 unter Erhalt der markanten Turmecke drei Dachgeschosswohnungen (a 90 bzw. 130 qm) mit zwei Terrassen zur Straße entstehen. Die Bennigsenstraße Nr. 6, Portal I und II, wird zur Straße hin mit sechs Dachgauben bedacht, hinter denen sich zwei bis drei Wohnungen mit Südterrassen verbergen. Auf dem Dach des Gartenhauses mit Zugang über das Portal II werden zwei Wohnungen mit Südterrasse entstehen.
Die Bauausführung übernimmt die „N+N Beteiligungs GmbH Zossen“. Sie wird 2016 im Handelsregister Potsdam eingetragen. „Gegenstand des Unternehmens ist der Erwerb, der Verkauf, das Halten und Verwalten von Beteiligungen im Bereich der Immobilienentwicklung im Inland. Kapital: 25.000 EUR. Geschäftsführer 1. Nenadic, Goran und 2. Nenadic, Zoran“. Laut Handelsregister ist Goran Nenadic „am 27.03.2018 nicht mehr Geschäftsführer“. Das Portal für Firmeninformationen „North Data“ veröffentlicht dazu eine grafische Darstellung des Firmennetzwerks, die keinesfalls beruhigend wirkt. Zu hoffen ist, dass die aus Serbien herbeigeholten Bauarbeiter eine zufriedenstellende handwerkliche Arbeit abliefern und auch „ordnungsgemäß“ entlohnt werden.
Stierstraße Nr. 10
Helene Paetznick (Werbegraphikerin)
Da wohnen wir seit mehr als drei Jahrzehnten in der Stierstraße und erfahren erst im Juli 2023 von Wolfgang Behr aus Recklinghausen, daß eine mit Hans Fallada verbundene Friedenauer Künstlerin von den 1920ern bis in die 1970er Jahre gegenüber in der Stierstraße Nr. 10 wohnte – also in Ihrer Nachbarschaft: Helene Paetznick illustrierte 1946/47 für den Aufbau-Verlag die beiden Neuausgaben von Falladas ‚Jeder stirbt für sich allein‘ und ‚Wer einmal aus dem Blechnapf frißt‘.
Wolfgang Behr, Spezialist für die Illustrationen in den Fallada-Büchern, wird demnächst eine Spurensuche starten, um detailliertere Daten zur Lebensgeschichte und zum künstlerischen Schaffen zu erforschen. Wir sind gespannt und halten unter der Stierstraße Nr. 10 schon mal Platz für seine Recherchen bereit.
Bisher können wir nur mitteilen, daß ihr Vater, der Maurerpolier Karl Paetznick, 1907 das schmale Grundstück von den Hewald’schen Erben erworben hat. Viel Platz blieb ihm nicht, zur Rechten das Eckhaus Nr. 9 zur Benningsenstraße, zur Linken das Eckhaus Nr. 11 zur Hähnelstraße. Entstanden ist ein Mietshaus für acht Parteien, in das 1908 der Buchhändler M. Boas, die Musikdirektorin Ida Bock, der Kaufmann B. Hartmann, der Elektrotechniker H. Heintz, der Städitische Lehrer R. Jancke, der Zeichenlehrer R. Piayda, der Rentier J. Stiebel und der Vizewachtmeister H. Stiebel eingezogen waren. Kleine Wohnungen mit drei bis vier Zimmern, Küche, Bad, WC und Balkon zur Straßenseite nach Osten.
Im Berliner Adreßbuch von 1942 erscheint unter den Mietern der Stierstraße Nr. 10 erstmals der Eintrag Helene Paetznick, Graphikerin. Sie soll die Kunstgewerbeschulen in Berlin und Zürich besucht und sich zwischen 1934 und 1939 für heraldische Studien in der Schweiz aufgehalten haben. Eine erste Publikation erscheint 1944 im Vier Tannen Verlag Scheider & Co. Berlin – die Buchdeckelzeichnung für das Das fremde Mädchen von Hilde Fürstenberg. Nach dem Weltkrieg war Helene Paetznick für das Verkehrsamt Berlin, den Sender Freies Berlin und diverse Firmen tätig, die mehr oder weniger mit Papier zu tun hatten, darunter der Langenscheidt Verlag Berlin; dessen Stand sie 1954 für die Frankfurter Buchmesse gestaltete.
Vorläufig bleibt verborgen, wie die Friedenauer Werbegraphikerin aus dem amerikanischen Sektor für den 1945 in Ost-Berlin vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gegründeten Aufbau Verlag zu dem Auftrag für die Umschlaggestaltung kam – zumal sich der Verlag vor allem um Exilliteratur und antifaschistische Werke bemühte.
Nun also ihre Umschlaggestaltungen für zwei Fallada-Bücher: Die Erstausgabe von Jeder stirbt für sich allen und Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Dieser Roman war bereits 1934 im Rowohlt Verlag erschienen – ausgestattet mit einem vom Typografen und Grafiker Emil Rudolf Weß gestalteten Schutzumschlag. Unverkennbar der Respekt von Helene Paetznick vor diesem grandiosen Schrift- und Buchkünstler. Auch sie setzt auf wenige Striche, aber es gelingt ihr bei beiden Büchern nicht, die Weiß’sche Eindringlichkeit zu erreichen.
Stierstraße Nr. 12
Antiquariat Barasch
Rüdiger Barasch lebt seit mehr als 40 Jahren in Friedenau. 1972 zog er in den 3. Stock des Gartenhauses Perelsplatz Nr. 16. Auf den zwei Ecken von Hähnel- und Stierstraße hatte er seine Antiquariate, zuerst 1977 in 12/5 als Nachmieter des „alternativ-bunten Kinderladens“, dann ab 1978 in 6/6. Bauherr und Eigentümer war Schlächtermeister Wilhelm Behr, Inhaber der Fleischwarenfabrik in der Schöneberger Kolonnenstraße Nr. 57/58, Aktionär der „Viehmarkts-Aktiengesellschaft“ von Johann Christian August Sponholz und Kunde der einflussreichen Vieh- und Fleischmarktbank „Sponholz, Ehestädt & Schröder“. Im Jahr 1905 zog Behr ein. Fünf Jahre später war er „Rentier“ und Abonnent der „Allgemeinen Fleischer Zeitung“ aus dem Verlagshaus „Sponholz GmbH Berlin-Schöneberg“. Im Haus gab es zwei Läden, mal Schlächter, Schuhmacher, Parfümerie oder Sattler.
Im Vergleich zu den permanenten Eigentümerwechseln der benachbarten Anwesen bleibt das Eckhaus 12/5 bis mindestens 1943 vier Jahrzehnte im Besitz des Wurstfabrikanten. Am 1. April 1978 bot sich Rüdiger Barasch die Gelegenheit, „günstigst einen Eckraum in der Stierstraße Nr. 6 Hähnelstraße Nr. 6 zu mieten“. 1998 beendete er das Mietverhältnis. In den folgenden zwei Jahrzehnten gab es laufend Ein- und Auszüge mit ziemlich variantenreichen Nutzungen. Aktuell ist dort die „Putz-Zeit Gebäudereinigung Deutschland GmbH & Co. KG“ untergekommen, nach eigener Beurteilung „flexibel, kompetent, leistungsstark und zuverlässig“, in sozialen Netzwerken allerdings heftig umstritten.
Stierstraße Nr. 14 & 15
Max Herrmann-Neiße.(1886-1941)
Berliner Sonntag
Parterre: die Fremdenpension
ist ausnahmsweis radaulos.
Den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn
übt drüben die Rentiere Kohn.
Herr Schmidt ist seine Frau los,
die zu Besuch nach Spandau fuhr,
pennt junggesellenselig!
Lolott prüft ihre Staatsfigur
und geht befriedigt auf die Tour.
Der Arzt liebt außerehlich,
weil er heut keine Sprechstund hält.
Im zweiten Stock - nanu! - nanu! -
sind alle Fensterläden zu.
Im dritten Kinderkreischen gellt.
Dann grölt ein schwerbetrunkner Mann.
Das Fräulein vom Theater
übt ihre Rolle nebenan.
Im vierten wird wer Vater.
Und eine Schreibmaschine tickt,
und ein Kanarienvogel singt.
Vielleicht daß auf dem Dach verrückt
ein Dichter nach dem Glück ausblickt
und in die Wolken springt;
daß drunten gar im Keller tief
ein Mordgespenstlein schneller lief,
das Dynamit gelegt ist,
und eh die Uhr noch einmal schlägt,
alles, was diese Straße trägt,
als Staub ins All gefegt ist!
. . . Schon zündet einer vis-à-vis
die erste Lampe. Diebe gehn
mit ihrer Beute heim. Nichts schrie,
nichts liebte, nichts war Poesie.
Man wird jetzt nach dem Nachtmahl sehn.
Und morgen früh
ist Montag.
Dieses Gedicht entstand am 11. Februar 1923 in der Stierstraße Nr. 14/15. In das Gartenhaus Parterre links waren nach der Hochzeit am 14. Mai 1917 Max Herrmann und seine Frau Leni geborene Gebek eingezogen. Von da an fügte er seinem Nachnamen den Namen seiner Heimatstadt an: Max Herrmann-Neiße. Dort war er 1886 geboren worden, gezeichnet von Hyposomie. Zu dieser Kleinwüchsigkeit kam, dass sein Vater 1916 verstorben war und seine Mutter sich ein Jahr später in der Neiße ertränkte. Einziger Halt für den verwachsenen Gnom war seine aufopfernde Gefährtin Leni (1896-1960). Das blonde, schöne Mädchen träumte vom Theater und überredete ihn zum Umzug nach Berlin. In Friedenau glaubte er zuerst, dass er dem Berliner Betrieb als hoffnungslos unpraktischer Provinziale und körperlich Benachteiligter niemals gewachsen sein würde. Er gab nicht auf, schrieb nieder, was er erlebt und erlitten hatte. Als 1918/19 drei Verlage seine Gedichte herausbrachten, wurde er als Dichter gefeiert. Die offenherzigen autobiographischen Texte, gepaart mit seiner körperlichen Auffälligkeit, machten ihn obendrein interessant, weckten die Begierde der Gesellschaft.
Für eine Privatbühne war es eine Attraktion, dass zur Uraufführung seiner Komödie Albine und Aujust der bucklige Autor als Unikum selbst auf der Bühne stand. Über seinen Auftritt witzelte er: Erstens wird man kein Wort verstehen, weil er zu leise knödelt, dann spricht er zu schlesisch, drittens wird er steckenbleiben - in summa: Schuster, bleib bei deinem Leisten! Das blieb er, auch wenn er nun regelmäßig mit seinen Gedichten und Chansons in Kabaretts auftrat. Für Else Lasker-Schüler (1869-1945) waren sie große pietätvolle Wanduhren, schlagen herrlich, wenn er sie vorträgt. Er wurde zum bekanntesten Berliner Literaten der Goldenen Zwanziger. Das berühmt gewordene Porträt des Schriftstellers Max Herrmann-Neiße von George Grosz gehörte ebenso in diese Welt wie sein Brief vom 18. Mai 1926 an Alfred Kerr (1867-1948): Leni ist ja leider so ganz im ‚mondänen‘ Berlin aufgegangen, dass sie da nicht mehr loszueisen ist. Seine Briefe sind so offen wie die Ehe. Nach sechs Ehejahren kam er gegen Lenis Liebe zum Juwelier Alphonse Sondheimer (1881-1960) nicht an. Er ging in Bordelle und suchte weibliche Zuwendung aller Art. Nach einem Aufenthalt in Breslau schrieb er: Also, ich werde auch ungefickt, ja sogar ungeküßt und ungerammelt von dannen schreiten.
Leni sorgte am 27. Oktober 1926 für den Wohnungswechsel von Friedenau nach Charlottenburg: Berlin W 15, Kurfürstendamm 215, Gartenhaus, 2. Stock, vis-à-vis dem Uhlandeck, also dichte bei Romanischem Café und Nelson-Theater. Nach dem Reichstagsbrand war damit Schluss. Am 2. März 1933 hatte Leni den Nörgler Max und den Zappelphilipp Alphonse nach Zürich geschleppt, und damit beiden das Leben gerettet. Später ging dann in der gemeinsamen Londoner Wohnung das tragikomische Lust-Spiel weiter – zu dritt. Bis zu seinem Tod am 8. April 1941 arbeitete er an dem Roman Unglückliche Liebe. Die letzten Zeilen entstanden in der vorletzten Nacht seines Lebens: Da ist die Frau, die ich geliebt und geheiratet habe. Wie seltsam sind wir uns im Laufe der Jahre entglitten! Ich kann nicht einmal sagen, wie es gekommen ist. Eigentlich lieben wir uns noch, wenigstens in den besseren Stunden unseres Selbstbewusstseins. Wir küssen uns vor dem Einschlafen und liegen dann Hüfte an Hüfte, eins dem andern vertrauend. Aber wir schlafen nicht, heucheln nur voreinander Schlummer, und jedes ist mit seinen eigenen Gedanken, Ängsten, Lüsten und Wünschen unlösbar allein.
Max Herrmann-Neiße wurde am 15. April 1941 auf dem East Finchley Cemetery London (Grab P3- 31) bestattet. Nach seinem Tod heirateten Sondheimer und Leni und nannten sich fortan Helen und Alphonse Sandhurst. Nach Sondheimers Tod im Herbst 1960 nahm sich Leni am 22. Oktober das Leben. Den schriftlichen Nachlass vermachte sie dem Literaturarchiv Marbach.
Das Grab von Max Herrmann Neiße in London
Max Herrmann-Neiße wurde am 15. April 1941 auf dem East Finchley Cemetery London (Grab P3- 31) bestattet. Als seine Verehrer 2001 zum 60. Todestag an ihren „schlesischen Dichter" erinnern wollten, fragten sie bei der Deutschen Botschaft in London an, wie es denn um die Pflege seines Grabes stehen würde. Mitgeteilt wurde ihnen, „dass die Kosten für die Grabpflege in diesem Jahr [wie bereits schon seit 1999] nicht vom Auswärtigen Amt getragen werden. Wegen der angespannten Haushaltslage und den immer größer werdenden Einsparungen muss sich das Amt bedauerlicherweise aus Grabpflegeverpflichtungen zurückziehen. Ich möchte Sie bitten zu prüfen, ob nicht private Förderer wie Literaturzirkel oder Stiftungen bereit wären, die Kosten für die Grabpflege zu übernehmen“.
Nachdem sich Menschen gefunden hatten, die Kosten zu übernehmen, ging die Geschichte erst richtig los. Die Botschaft fragte beim Auswärtigen Amt an, ob dazu die Erlaubnis gegeben würde.
Am 19. Februar 2002 kam die Antwort: „Eine regelmäßige Pflege des Grabes würde in den kommenden Jahren einzig auf dem gelegentlichen Waschen des Steines und dem Wegräumen von Laub beruhen. Der allgemeinen Verfassung der Grabstätte würde hierdurch jedoch nicht aufgehalten werden können. Im Interesse einer dauerhaften und angemessenen Sicherung sollte jedoch dringend eine umfassende, hinsichtlich der anfallenden Kosten vergleichbare einmalige Sanierung ins Auge gefasst werden. Ich hoffe, Sie stimmen mit mir überein, dass mit einer grundlegenden Sanierung der Grabstätte von Max Herrmann-Neiße die Voraussetzung geschaffen ist, dem Andenken des Dichters eine angemessene und würdige Dauer zu verleihen." Eine mehr als zynische Antwort.
Da 2016 sowohl der 130. Geburtstag als auch der 75. Todestag von Max Herrmann-Neiße anstand, fragten wir den Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts Dr. Andreas Görgen. Die Antwort kam aus der Londoner Botschaft: „Die Grabstätte von Max Herrmann-Neiße wurde 2002 einer ausführlichen Instandsetzung unterzogen. Die Deutsche Botschaft London war damals in Kontakt mit der Friedhofsverwaltung. Für die Kosten kamen zwei private Sponsoren auf. Ob die beiden Herren sich weiterhin um die Grabpflege kümmern, ist uns nicht bekannt.“ Auf unsere Bitte, wenigstens die Inschrift wieder lesbar zu machen, teilte uns der Kulturchef des AA am 4. Dezember 2017 mit: „Wir werden mit den Kollegen in London sprechen.“ Danach Stillschweigen bis heute.
Die beigefügten Fotos der Grabstätte machen deutlich, dass sich seit Jahren niemand um das Grab kümmert.
Max Herrmann-Neiße war nach dem Reichstagsbrand 1933 mit seiner Frau Leni in die Emigration gegangen und hatte sich schließlich in London niedergelassen. 1938 haben ihm die Nationalsozialisten offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Er beantragte die englische – ohne Erfolg. 1941 ist er gestorben, an „Heimweh und Herzeleid“, ohne Nachkommen. Auf unsere Nachfrage, ob Max Herrmann-Neiße nun als Deutscher oder Staatenloser einzustufen ist, bekamen wir von der Deutschen Botschaft in London folgende Antwort:
„Die NS-Zwangsausbürgerungen, von denen auch Max Herrmann-Neiße betroffen war, sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes (Entscheidungen vom 14. Februar 1968 - 2 BvR 557/62 - und 15. April 1980 - 2 BvR 842/77 -) als nichtig anzusehen. Verfolgte haben durch diese Zwangsausbürgerungen ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren, soweit sie nicht zu erkennen geben, dass sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen wollen. Da die Zwangsausbürgerungen nichtig sind, haben auch Verfolgte, wie Max Herrmann-Neiße, die den 8. Mai 1945 nicht überlebt haben, ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren.“
Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen,
die Heimat klang in meiner Melodie,
ihr Leben war in meinem Lied zu lesen,
das mit ihr welkte und mit ihr gedieh.
Die Heimat hat mir Treue nicht gehalten,
sie gab sich ganz den bösen Trieben hin,
so kann ich nur ihr Traumbild noch gestalten,
der ich ihr trotzdem treu geblieben bin.
In fremder Ferne mal ich ihre Züge
zärtlich gedenkend mir mit Worten nah,
die Abendgiebel und die Schwalbenflüge
und alles Glück, das einst mir dort geschah.
Doch hier wird niemand meine Verse lesen,
ist nichts, was meiner Seele Sprache spricht;
ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen,
jetzt ist mein Leben Spuk wie mein Gedicht.
Aus dokumentarischen Gründen hätten wir Photographien aus den Friedenauer Jahren auf dieser Website veröffentlicht. Diese Aufnahmen wurden einst dem Deutschen Literaturarchiv Marbach überlassen, sicher nicht fürs Archiv, sondern wohl für die Öffentlichkeit, um die Erinnerung an Max Herrmann-Neiße wachzuhalten. Da die Veröffentlichungsgebühren des vollständig von der Bundesregierung finanzierten Deutschen Literaturarchivs Marbach für unsere nicht kommerzielle Website in keinem Verhältnis zu unserem privaten Engagement stehen, müssen wir auf diese Aufnahmen leider verzichten. Dankbar sind wir hingegen der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, die uns aus der Sammlung Max Herrmann-Neiße nachfolgende acht Photographien aus den Londoner Exiljahren nach 1934 kostengünstig überlassen hat. Danke!
http://www.ulb.uni-muenster.de/sammlungen/nachlaesse/nachlass-herrmann-neisse.html
Stierstraße Nr. 19
Meta, Lotte und Käte Laserstein
Stolpersteine sollen an das Schicksal der Menschen erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben, deportiert, ermordet wurden. Sie werden nach den Richtlinien des Initiators Gunter Demnig vor dem letzten vom Opfer frei gewählten Wohnort verlegt. Für die Rekonstruktion einer Straßengeschichte, gar als Gedächtnis einer Straße reicht das nicht aus, weil im Zweifel andere Schicksale ausgeblendet bleiben.
In der Stierstraße Nr. 3 lebte der Schriftsteller Julius Berstl (1883-1975). An ihn, den Juden, wird nicht erinnert, weil er sich 1936 nach England retten konnte. Vor dem Haus Stierstraße Nr. 4 wurde ein Stolperstein für Stanislaus Graf Nayhauß-Cormons (1875-1933) verlegt, dessen Lebensgeschichte auf bisher nicht überprüften Selbstangaben beruht. Im Haus Stierstraße Nr. 14 & 15 lebte Max Herrmann-Neiße (1886-1941), ein Arier, wie man damals kategorisierte, aber kleinwüchsig, weil er an Hyposomie litt. Er floh 1933 nach London. Auch an ihn denken die Stolperstein-Aktionisten nicht. Die Fälle sind bezeichnend für die Fragwürdigkeit dieses Gedächtnisunternehmens.
Wir gehen einen anderen Weg und versuchen, einen vollständigeren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zu ermöglichen. So zum Haus Stierstraße Nr. 19, bei dem uns Herr Michael Hoffmann aus Charlottenburg zur erneuten Recherche animierte. Am 22. Februar 2020 schrieb er: Meta Laserstein lebte mit ihren Töchtern Dr. Käte Laserstein, meine Lehrerin, und Lotte Laserstein, die berühmte Malerin, in der Stierstraße Nr. 19, später in Steglitz, Immenweg Nr. 7. Meta wurde im Frauengefängnis Ravensbrück ermordet, Käte überlebte versteckt in einer Laube, Lotte in Schweden. Wäre schön, wenn sie an die Vorgenannten erinnern könnten. Wir trugen zusammen, was wir finden konnten. Hilfreich waren die Beiträge von Anna-Carola Krausse, Maria Kublitz-Kramer, Michael Hoffmann, Claudia Schoppmann, dem Verborgenen Museum Berlin, der Stiftung Stadtmuseum Berlin, dem Städel Museum Frankfurt am Main, der Nationalgalerie Berlin und der Berlinischen Galerie. Dafür danken wir.
Hugo und Meta Laserstein
Am 13. November 1897 meldete die Apotheker-Zeitung unter Personal-Nachrichten: Verlobt: Fräulein Meta Birnbaum in Danzig mit Herrn Apothekerbesitzer Hugo Laserstein in Preußisch-Holland. Am 8. Februar 1898 erschienen im Standesamt Danzig zum Zwecke der Eheschließung 1. der Apothekenbesitzer Hugo Laserstein, evangelischer Religion, geboren den 8. April 1859 zu Preußisch Holland, wohnhaft Preußisch Holland, Markt Nr. 78, Sohn des zu Preußisch Holland verstorbenen Kaufmanns Leopold Laserstein und dessen Witwe Rosalie geb. Wohl, wohnhaft zu Königsberg in Preußen, Königsstraße Nr. 22, 2. die unverehelichte Anna Ida Meta Birnbaum, ohne eigenen Erwerb, evangelischer Religion, geboren den 18. Mai 1867 zu Preußisch Holland, wohnhaft in Danzig, Neugarten Nr. 35, Tochter des zu Danzig verstorbenen Landgerichtsdirektors Salomon Birnbaum und dessen Witwe Maria Dorothea Ida geb. Linhuber, wohnhaft zu Danzig, Neugarten Nr. 35.
Irgendwie war auch Eile geboten, denn am 28. November 1898 wurde die erste Tochter Lotte Meta Ida Laserstein in Preußisch-Holland geboren, am 27. Mai 1900 kam die zweite Tochter Käte Rosalie Ida zur Welt. In der Apotheker-Zeitung wird Hugo Laserstein als Apothekenbesitzer bezeichnet, wobei nicht klar wird, ob er ein pharmazeutisches Studium abgeschlossen hat und die Approbation erteilt wurde. Die Eltern von Hugo Laserstein waren Juden. Seine Ehefrau Meta hatte einen jüdischen Vater. Nach dem Rassengesetz von 1933 waren sie Dreivierteljüdinnen, auch wenn das Jüdische in ihrem Leben keine Bedeutung hatte. Die Töchter wuchsen in einem assimilierten, wohlhabenden und bildungsbürgerlichen Elternhaus auf.
Im Jahr 1901 wurde beim Vater ein Herzleiden diagnostiziert. Für die Behandlung kam nur das noble hessische Bad Nauheim in Betracht: Dort gab es das Sanatorium des Spezialisten für Herzkrankheiten Isidor Groedel (1850–1921). Das Anwesen in Preußisch-Holland samt Apotheke wurde verkauft. In Bad Nauheim erwarb Ehefrau Meta ein Haus und zog mit den Töchtern ein. Von langer Dauer war das nicht. Hugo Laserstein starb am 2. März 1902 im Alter von 42 Jahren. Das Haus blieb im Familienbesitz: Bezüglich der Restitution des Hauses von Meta Laserstein in Bad Nauheim ist ab 1948 eine langwierige Korrespondenz dokumentiert.
Nach dem Tod ihres Ehemanns übersiedelte Meta Laserstein mit den Töchtern in das Haus ihrer inzwischen verwitweten Mutter Ida Birnbaum. Im Neugarten Nr. 35 in Danzig gab es fortan einen reinen Frauenhaushalt: Witwe Ida mit unverheirateter Tochter Elisabeth (Elsa), Witwe Meta mit den Töchtern Lotte und Käte. Elsa war Malerin und betrieb eine private Malschule, in der Lotte unterrichtet wurde.
Im Hinblick auf die weitere Ausbildung von Lotte und Käte dann 1912 der Entschluss von Meta Laserstein, mit ihren Töchtern und deren Großmutter Ida Birnbaum nach Berlin zu ziehen. In der Friedenauer Stierstraße Nr. 19 wurden von der Handelsgesellschaft für Grundbesitz in dem 1910/11 erbauten Haus zwei Wohnungen gemietet. Im Adressbuch finden sich die Einträge Laserstein, M., verw. Apotheker sowie Birnbaum, I., vw. Geh. Justizrat.
Lotte und Käte absolvierten das vom Architekten Paul Egeling (1856-1937) in den Jahren von 1905 bis 1908 erbaute Chamisso-Lyzeum am Barbarossa Platz in Schöneberg. Dort legten sie das Abitur ab.
Lotte Laserstein (1898-1993)
Lotte und Käte absolvierten das vom Architekten Paul Egeling (1856-1937) in den Jahren von 1905 bis 1908 erbaute Chamisso-Lyzeum am Barbarossa Platz in Schöneberg. Dort legten sie das Abitur ab. Lotte Laserstein immatrikulierte sich 1921 an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums Berlin für Malerei und Radierkunst und die Klasse von Erich Wolfsfeld (1884-1956). Nach dem Studium eröffnete sie 1927 eine private Malschule, beteiligte sich an Wettbewerben und sorgte dafür, dass ihre Arbeiten publik wurden: In der Zeitschrift Die Woche 1928 das Gemälde Russisches Mädchen mit Puderdose (1928), im Modemagazin Bazaar 1930 unter dem Titel Sport in der modernen Kunst die Tennisspielerin. Die Illustrierten veröffentlichten weitere Arbeiten: In meinem Atelier (1928), Motorradfahrer (1929), Morgentoilette (1930). Im Berliner Tageblatt war 1929 zu lesen: Lotte Laserstein – diesen Namen wird man sich merken müssen. Die Künstlerin gehört zu den allerbesten der jungen Maler Generation, ihr glanzvoller Aufstieg wird zu verfolgen bleiben!
Nach dem Tod von Großmutter Ida Birnbaum verließ Lotte Laserstein die Familienwohnung in der Stierstraße und zog 1930 nach Wilmersdorf in die Nachodstraße Nr. 15 – an der Haustür ein selbstgebasteltes Schild: Zeichen und Malschule Lotte Laserstein, W 50, Nachodstraße 15, Telefon Rheingau 1611. Für die vom Deutschen Staatsbürgerinnenverband 1930 organisierte Ausstellung Die gestaltende Frau im Haus Wertheim Leipziger Straße schuf sie den Plakatentwurf. Die Galerie Gurlitt in der Matthäikirchstraße Nr. 27 ermöglichte ihr 1931 die erste Einzelausstellung. Ab 1935 mussten alle Künstler Mitglied im Fachverband Bund Deutscher Maler und Graphiker der Reichskammer der bildenden Künste sein. Lotte Laserstein kam dieser Pflicht nicht nach. Ihre Malschule wurde geschlossen, ihren Beruf konnte sie nicht weiter ausüben.
Sie fand eine Anstellung als Kunstlehrerin an der höheren jüdischen Privatschule von Luise Zickel in Berlin-Schöneberg. Der Kulturbund Deutscher Juden wies eine Zusammenarbeit mit dem Hinweis zurück, man wollte sich auf den Kreis der Mitglieder der Berliner jüdischen Gemeinde beschränken. 1937 nutzte sie die Einladung der Stockholmer Galerie Moderne. So gelangten einige ihrer Werke nach Schweden. Über eine Scheinehe mit dem Kaufmann Sven Marcus (1876-1940) erhielt sie die schwedische Staatsbürgerschaft.
In Deutschland wurde Lotte Laserstein vergessen. Am 18. August 1965 war Lotte Laserstein noch einmal in Berlin – zum Begräbnis ihrer Schwester Käte. Außer den Lehrern und Schülern der Gertrauden-Schule in Dahlem, an der Dr. Käte Laserstein als Studienrätin tätig war, und den Nachbarn aus dem Haus Immenweg Nr. 7, in dem sie wohnte, interessierten sich weder Museen noch Medien für die inzwischen 65-jährige Malerin.
Es war 1987 die Londoner Belgrave Gallery, die das Werk von Lotte Laserstein wieder in Erinnerung brachte. Nach dem Ende des Nationalsozialismus vergingen sieben Jahrzehnte, bis sich Deutschland erinnerte. 2003 präsentierten das Verborgene Museum und die Stiftung Stadtmuseum die Retrospektive Lotte Laserstein – Meine einzige Wirklichkeit im Ephraim-Palais. Die Resonanz war mäßig. BZ und Neues Deutschland gaben Besprechungen ab. Der Tagesspiegel verpennte die Chance.
Richtig bekannt wurde Lotte Laserstein in Berlin erst im Frühjahr 2019 mit der vom Frankfurter Städel-Museum übernommenen Ausstellung Lotte Laserstein – Von Angesicht zu Angesicht in der Berlinischen Galerie. Das wiederum brauchte auch einen Anstoß. 2010 wartete Deutschland mit einer Sensationshascherei auf: Der Berliner Nationalgalerie war es gelungen, für eine halbe Million Euro bei Sotheby das Gemälde „Abend über Potsdam“ von Lotte Laserstein zu erwerben. Die Kunstkritiker griffen sofort zu Superlativen: Schlüsselwerk, Meisterwerk, Hauptwerk.
Den Abend über Potsdam hatte Lotte Laserstein mit in die Emigration genommen. Jahrzehntelang soll das Gemälde im schwedischen Heim über dem Sofa gehangen haben, als Erinnerung an meine Freunde, die sich 1930 über den Dächern von Potsdam zusammengefunden hatten. Damals mit dabei Gertrud Süssenbach, genannt Traute, verheiratete Rose, seit 1924 Freundin, Muse und Lieblingsmodell von Lotte Laserstein, vielleicht auch mehr. Sie schilderte die Entstehung des Bildes: Zunächst wurde vor Ort die Gruppe skizziert und der Hintergrund mit der Potsdam-Topografie angelegt. Dann ging es mit der riesigen Holztafel per S-Bahn zurück nach Berlin ins Atelier, wo die Feinarbeit stattfand. Meine Position außen links vor dem Geländer stand fest, ebenso die meines Mannes, der unseren Hund zu seinen Füßen hatte. Die Mittelfigur war zuerst ein Mädchen im roten Pullover, die allerdings nicht lange genug durchhielt und schließlich durch das Mädchen im gelben Hemdchen ersetzt wurde. Der neben ihr sitzende romantische Mann hat auch einen Vorgänger. Er wurde zu seinem großen Bedauern ausgewischt. Das im Vordergrund stehende Mädchen in Grün war passend, konnte aber nicht so lange stehen. Also stand ich Modell für ihre Beine. Mein Mann Ernst, der seinen zurückgelehnten Kopf auf die Hand stützt, hatte am meisten Schwierigkeiten, seine Pose zu halten.
Lotte Laserstein starb am 21. Januar 1993 im Alter von 94 Jahren im südschwedischen Kalmar.
Im Feuilleton der FAZ ist am 19. Mai 2021 auf Seite 11 unter Verschiedenes eine winzige Anzeige von 4,5 x 1,5 mm erschienen:
Lotte Laserstein
Aus einer schwedischen Privatsammlung zu verkaufen: Gemälde aus den 1920er und 30er Jahren von Lotte Laserstein. amnell@home.se
Lotte Laserstein (1898-1993) hatte Glück im Unglück. Nachdem die Malerin ab 1935 ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte, fand sie erst einmal eine Anstellung als Kunstlehrerin an der höheren jüdischen Privatschule von Luise Zickel in Schöneberg. 1937 erhielt sie eine Einladung für eine Ausstellung in der Stockholmer Galerie Moderne. So gelangten einige ihrer Werke nach Schweden, darunter das Gemälde Abend über Potsdam (1930). Über eine Scheinehe mit dem Kaufmann Sven Marcus (1876-1940) erhielt sie die schwedische Staatsbürgerschaft.
Nach der NS-Zeit vergingen Jahrzehnte, bis sich Deutschland an Lotte Laserstein erinnerte. 2003 präsentierten Verborgenes Museum und Stiftung Stadtmuseum eine Retrospektive. 2010 konnte die Nationalgalerie ihr Gemälde Abend über Potsdam erwerben. Jahrzehntelang soll das Gemälde in ihrem Heim über dem Sofa gehangen haben, als Erinnerung an meine Freunde: Lotte Laserstein starb am 21. Januar 1993 im südschwedischen Kalmar.
Nun stehen die Gemälde zum Verkauf an. Ist Berlin interessiert?
Käte Laserstein
Lotte Lasersteins Schwester Käte, die spätere Lehrerin von Michael Hoffmann an der Gertraudenschule in Dahlem, besuchte ebenfalls die Chamisso-Schule. Die Ausbildung an dieser höheren Mädchenschule war explizit auf einen zukünftigen akademischen Beruf ausgerichtet. Nach dem Abitur schrieb sich Käte Laserstein 1919 für das Fach Deutsch an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität ein. Später kamen Englisch, Kunstgeschichte und Germanistik hinzu. 1923 schloss sie ab. 1924 reichte sie an der Philosophischen Fakultät der Universität München ihre Dissertation ein: Der Griseldisstoff in der Literaturgeschichte. Eine Untersuchung zur Stoff- und Stilgeschichte.
Im Promotionsgutachten von Literaturhistoriker Franz Muncker (1855-1926) heißt es: Fräulein Laserstein legt eine Geschichte der verschiedenen Bearbeitungen der Griseldissage von Boccaccio und Petrarca bis auf die Gegenwart vor. Das ganze außerordentlich umfangreiche Stoffgebiet ist mit größtem Fleiß und Scharfsinn durchforscht; die einzelnen Texte sind streng philologisch miteinander verglichen, die Änderungen und Fortschritte in der Auffassung wie im Technischen geschichtlich untersucht, nach ihrer psychologischen wie nach ihrer künstlerischen Bedeutung sehr sorgfältig und feinsinnig gewürdigt. Eine Fülle treffender Bemerkungen, die stets auf gründlicher Beobachtung und selbständiger Prüfung beruhen, findet sich in allen Teilen der ausführlichen Arbeit, überall wissenschaftlich ungemein fördernd.
Das Werk von Frau Dr. phil. Käte Laserstein wurde mit Unterstützung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft und der Philosophischen Fakultät München 1926 im Weimar Verlag Alexander Duncker veröffentlicht. 1928 erschien im Verlag Emil Ebering Wolframs von Eschenbach Germanische Sendung. Ein Beitrag zur Stellung des Dichters in seiner Zeit, 1931 bei de Gruyter Die Gestalt des bildenden Künstlers in der Dichtung. 1931 schrieb sie sich an der Universität Greifswald ein, wo sie 1932 das Preußische Staatsexamen für das Lehramt an Höheren Schulen mit Auszeichnung ablegte.
Bereits 1930 hatte Käte Laserstein mit ihrer Mutter Meta Birnbaum eine gemeinsame Wohnung im Immenweg Nr. 7 in Steglitz bezogen. Am 1. April 1932 trat sie in Berlin ihr Referendariat an. Im Oktober 1933 wurde sie aufgrund des Beamtengesetzes als nichtarisch aus dem Schuldienst entlassen. Nachdem sie nicht mehr an arischen Schulen unterrichten durfte, konnte sie an der 1911 von Luise Zickel (1878-1942) gegründeten Höheren Privatschule für Knaben und Mädchen und jüdische Volksschule als Lehrerin tätig werden. Im ehemaligen Lorenz-Lyzeum in der Schmargendorfer Straße Nr. 25 in Friedenau wurden mehr als 200 Schüler in Englisch, Französisch, Hebräisch und Religion unterrichtet. Dort lernte Käte Laserstein ihre Lebensgefährtin kennen, die Lehrerin Rose Ollendorff. 1939 wurde die Schule geschlossen. Käte Laserstein ging für einige Zeit nach England, kehrte aber wegen der Mutter nach Berlin zurück. „Ab dem gesetzlichen Datum, dem 1. September 1941, trug ich den Judenstern und war somit von einem menschenwürdigen Dasein in Freiheit ausgeschlossen.“
Meta Laserstein
Mutter Meta Laserstein, mit den Nürnberger Gesetzen zum Schutze des deutschen Blutes von 1935 Mischling I. Grades, konnte noch 1939 ihre Tochter Lotte in Schweden besuchen, kehrte aber am 3. September 1939 nach Berlin zurück. Die Bemühungen von Lotte, Mutter und Schwester nach Schweden zu holen, scheiterten. Ein Versuch der Freundinnen, in die Schweiz zu fliehen, misslang. Als Rose Ollendorff im Januar 1942 die Aufforderung zur Deportation erhielt, nahmen Mutter Meta und Tochter Käte die Freundin Rose Ollendorff in der Wohnung Immenweg 7 auf. Als Käte Laserstein am 14. Juli 1942 von ihrer geplanten Deportation erfuhr, tauchten beide unter.
Meta Laserstein wurde von der Gestapo nach dem Aufenthaltsort ihrer Tochter befragt. Da sie keine Auskunft geben konnte oder wollte, wurde sie verhaftet und am 23. Dezember 1942 in das Frauen-KZ Ravensbrück gebracht, wo die 76-Jährige am 16. Januar 1943 starb. Am 3. Juli 2010 wurde in Steglitz Immenweg Nr. 7 ein Stolperstein für Meta Laserstein verlegt: Hier wohnte META LASERSTEIN geb. Birnbaum. JG. 1867. VERHAFTET 29.7.1942. RAVENSBRÜCK. ERMORDET 16.1.1943.
Käte Laserstein und Rose Ollendorff
Käte Laserstein und Rose Ollendorff fanden Unterschlupf bei einer Tante in Schöneberg, dann in einer Laube in Schmargendorf und schließlich ab Februar 1945 in der Wohnung von Elisabeth (Lilly) Wust (1913-2006) in der Friedrichshaller Straße Nr. 23 in Schmargendorf. Lilly schrieb am 9. Februar 1945 in ihr Tagebuch: „Mein Gott, wie leben diese Frauen. Sie können nur bei Dunkelheit ein- und ausgehen. Sie waschen sich in den Restaurants und trocknen ihre Wäsche heimlich an den Stühlen, auf denen sie sitzen. Ein Glück, dass jetzt der Krieg endlich fast zu Ende geht. Es wird schon werden. Ich denke mir, so viel Frechheit auf einmal werden sie mir gar nicht zutrauen. Ich habe schon im ganzen Haus von meinen ausgebombten Cousinen aus Frankfurt herumgetratscht, die ich jetzt leider auch noch auf dem Buckel habe.
Das Tagebuch verarbeitete die Autorin Erica Fischer 1994 zur dokumentarischen Erzählung Aimée & Jaguar, in der sie mit Hilfe von Zeitzeugen die Liebesbeziehung zweier Frauen in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus nachvollzieht. Im Zentrum stehen die Erinnerungen von Lilly Wust an ihre Geliebte Felice Schragenheim (1922-1945). Die Frauen lernten sich im Sommer 1942 kennen und lieben. Nach vier Monaten zog Felice bei der Freundin ein. Felice nannte Lilly Aimée und Lilly nannte Felice Jaguar. Die Liebesbeziehung zwischen den beiden Frauen fand ein jähes Ende, als Felice am 21. August 1944 von der Gestapo abgeholt wurde und im KZ Bergen-Belsen ums Leben kam. Der gleichnamige Film von 1999 mit Maria Schrader als Jaguar (Felice) und Juliane Köhler als Aimée (Lilly) machte den (nicht unumstrittenen) Einsatz von Elisabeth Wust zur Rettung mehrerer Jüdinnen bekannt – darunter Rose Ollendorff und Käte Laserstein, die im Tagebuch von Lilly Wust als Katja erwähnt wird.
Käte Laserstein und Rose Ollendorff (geboren am 19. Juli 1907, gestorben im Sommer 1960) überlebten in Berlin. Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft zogen sie im Mai 1945 wieder in die alte Steglitzer Wohnung Immenweg Nr. 7. Auch hier ging es nicht ohne Probleme. Bis 1959 zog sich die Korrespondenz bezüglich der Restitution der Einrichtung aus der Wohnung in Berlin-Steglitz, Immenweg 7 hin.
Von Juli bis Oktober 1945 war Käte Laserstein als Dolmetscherin bei der britischen Militärbehörde in Berlin tätig. Am 1. Dezember 1945 begann sie als Lehrerin im Rang einer früheren Studienrätin an der Lankwitzer Oberschule für Mädchen in der Barbarastraße. Im Juli 1946 siedelte sie nach Stockholm zu ihrer Schwester über, kehrte aber nach acht Jahren 1954 wieder nach Deutschland und in ihre ehemalige Wohnung Immenweg Nr. 7 zurück.
Nach den Sommerferien 1954 übernimmt Käte Laserstein ihre erste Klasse als Lehrerin für Deutsch und Englisch an der Gertraudenschule in Dahlem. Der frühe Tod ihrer erst 53-jährigen Freundin Rose Ollendorff im Sommer 1960 wird „zum Denken über das gelebte Leben“ – „Ich habe arbeiten gelernt, aber nicht leben.“ Am 8. oder 9. August 1965 erleidet sie beim Schwimmen einen Herzinfarkt. Zur Trauerfeier am 18. August 1965 reiste Schwester Lotte aus Schweden an, was weder Lokal- noch Kulturredaktionen bemerkten. Es versammelten sich Lehrer und Schüler der Gertraudenschule und die Nachbarn aus dem Immenweg Nr. 7.
Schüler beschrieben sie als ca. 1,60 groß, korpulent, dicke runde Brillengläser, kurzes, graues, sehr dünnes, krauses Haar, das um den Kopf herum stand und durch das die Kopfhaut hindurch schien; intelligentes Gesicht, sinnlicher Mund; starker Gegensatz zu der eher plumpen Figur die auffallend kleinen Füße und Hände, hübsche, zierliche Hände mit kurzen, rund gefeilten Fingernägeln; an der linken Hand trug sie einen Ring mit einem runden, goldgefassten, dunklen Stein, ansonsten keinerlei Schmuck. Die Kleidung bestand immer, sommers wie winters, aus strengen, doppelreihigen Schneiderkostümen in gedeckten Farben mit hochgeschlossenen Blusen und Gesundheitsschuhen an den Füßen. Niemals trug sie irgendetwas Farbiges und schon gar nicht Lippenstift oder sonstige Schminke.
Für Michael Hoffmann war Frau Oberstudienrätin Dr. Käte Laserstein ab Herbst 1960 meine Klassenleiterin. Sie unterrichtete Deutsch und Englisch und führte mich im März 1963 zum Abitur. Noch heute, Jahrzehnte später, ist sie für ihn mit ihrer Kompetenz als Lehrerin, ihrem scharfen Verstand und besonders auch mit ihrem Witz in lebendiger Erinnerung. Ohne Zweifel war sie eine herausragende, ungewöhnliche und prägende Persönlichkeit. Ihr Unterricht stets interessant gestaltet. Besonders ihre Aperçus hatten es mir angetan. Dazu hat er einige Anekdoten und Zitate parat:
Laserstein: Wiederholen sie bitte, was wir in der letzten Stunde zum Thema erörtert haben. Aber fangen sie nicht beim Ersten Punischen Krieg 264 v. Chr. an.
Laserstein: Was ist Bildung? Bildung ist, wenn man den Namen Klopstock hört und nicht lacht!
Laserstein: Wie nähert man sich einem Gemälde? Man nähert sich einem Gemälde wie einem König: Man wartet, dass es einen anspricht.
Laserstein zu der Phrase, wir wollen einmal das Thema X „beleuchten“: Mit wieviel Watt?
Laserstein zur Benutzung von „laufend“: Es ist widersprüchlich, wenn man formuliert: Sie saß laufend am Fenster. Richtig ist: Sie saß ständig am Fenster!
Und Michael Hoffmann. Er hatte in einem Hausaufsatz aus dem Feuilleton des „Tagesspiegel“ Abgeschriebenes aufgenommen – ohne es als Zitat zu kennzeichnen. Michael, ich lese auch den Tagesspiegel. Zitat erwünscht, Plagiat unerwünscht. Und bei anderer Gelegenheit: Sagen sie mal, Michael, wo haben sie eigentlich dieses Portiersdeutsch her?“ Ich hatte in typisch Berliner Idiom in einer Diskussion die Bemerkung getätigt: Darauf kommt es nicht drauf an. Schließlich wollte Frau Dr. Laserstein als Beispiel für „Thema verfehlt“. Teile aus seinem Hauaufsatz vorlesen lassen. Mir war peinlich, dass mein pubertäres Geschwurbel quasi halböffentlich werden sollte, daher bat ich davon Abstand zu nehmen. Käte Laserstein wurde heftig: Es geht hier nicht um Michael Hoffmann, sondern darum, dass die Klasse etwas lernt.
Nachzutragen ist, dass nach einer Umfrage durch die „Schülermitverantwortung“, welcher Lehrer den modernsten Unterricht gebe, die Schülerschaft den Preis der schon 65 Jahre alten Oberstudienrätin Dr. Käte Laserstein zuerkannte.
Stierstraße Nr. 17-19
Die Wohnhäuser auf den Grundstücken Stierstraße Nr. 17-20 haben den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Geblieben sind halbe Ruinen. Die Aufnahmen von 1953/54 belegen, dass ein Wiederaufbau gerechtfertigt gewesen wäre. Die Struktur der Fassaden mit Balkonen, Loggien, Risaliten und Erkern ist deutlich erkennbar. Das Schöneberger Hochbauamt stufte die Bauten jedoch, ähnlich dem Vorgehen mit dem Rathaus Friedenau, „als schwer beschädigt“ ein – was Abriss bedeutete. Über das Schicksal der Hausbewohner Stierstraße Nr. 17-20 in den nationalsozialistischen Jahren informiert Petra T. Fritsche ausführlich in der Publikation „Stolpersteine – Das Gedächtnis einer Straße“ (2014). Wir ergänzen diese Angaben aus den Adressbüchern von 1943:
Nr. 17 Witwe Anna Kallien, Neukölln, Weserstraße Nr. 39 (1954 Kallien-Garagen, Neukölln, Weserstraße 39); Nr. 18 Kaufmann Dr. K. Liedemann München, vertreten durch Architekt Heinrich Seidel, Rubensstraße Nr. 114 (Seidel hatte 1927-1928 zusammen mit Peter Jürgensen das Gemeindehaus der Nathanael-Kirche am Grazer Platz Nr. 2 gebaut.); Nr. 19 Hausfrieden-Grundstücks-GmbH, alleinige Mehrheits-Gesellschafterin und Geschäftsführerin Elfriede Friedemann. Das Grundstück hatte Elfriede Friedemann dem Steuerberater Lahmann im Juli 1941 übereignen müssen. 1951 wurde der Grundbucheintrag zurückgenommen; Nr. 20 und Nr. 21 T. Wolf mit Adresse Freiherr von Stein Straße Nr. 7.
Im Jahr 1954 richtete die Berliner Stadtmission im Haus Stierstraße Nr. 14-15 eine Gemeindeschwesternstation ein. Ende der 1950er Jahre erwarb die Evangelische Kirche von den drei Eigentümern die Grundstücke Nr. 17-19 für den Bau einer Kirche – das Ende der geschlossenen Wohnbebauung. 1958 entschied sich der Gemeindekirchenrat für den Entwurf von Architekt Hansrudolf Plarre (1922-2008), der 1957 mit dem Einkaufszentrum Hansaviertel (Läden, Gaststätte, Kino (Grips-Theater) und U-Bahn-Eingang) gerade „en vogue“ war. Am 24. Juni 1962 wurde die Philippus-Kirche eingeweiht.
Die Architektur besteht aus zwei Teilen: Kirche und Glockenturm. Der Kirchenbau wurde auf einem sechseckigen Grundriss mit einem spitz zur Stierstraße ausgestellten Giebel als Stahlbetonskelettbau errichtet. Von der Straße her auffallend ist das farbige Glasfenster, eine malerische blau-grüne Farbkomposition von Florian Breuer (1916-1994). Der heute schon „fast vergessene“ Künstler hatte an den Kunsthochschulen in Berlin und Dresden studiert und sich danach am Gustav-Müller-Platz Nr. 8 in Schöneberg niedergelassen. Dort sollen sich schließlich „mehr als 1200 Aquarelle gestapelt“ haben. Da Breuer viel reiste, wurde er auch als „Wanderer zwischen Berlin und Asien“ bezeichnet. Er starb am 18. Dezember 1994 und wurde zwei Monate nach seinem Tod in der Urnengrabstelle Abt. 3-89 auf dem Friedhof Stubenrauchstraße beigesetzt.
Das Grab existiert nicht mehr. Bedauerlich ist, dass die Philippus-Gemeinde sich nicht um den Erhalt der Grabstätte gekümmert hat.
Im Inneren fand vor der beeindruckenden farbigen Glaswand der um zwei Stufen erhöhte Altarraum, abgesetzt vor einer weißen Wand, mit Kanzel, Taufbecken und dem Kreuz des Bildhauers Waldemar Otto (geb. 1929) seinen Platz. Entsprechend dem eigenwilligen spitzwinkligen Grundriss wurden die Kirchenbänke parallel zum Giebelverlauf in der Mitte „geknickt“ aufgestellt. Die 1964 eingeweihte Orgel der Potsdamer Firma Schuke fand ihren Platz auf der rückseitigen Empore.
Mit Abstand zum Kirchenraum entstand der Campanile, ein im Grundriss trapezförmiger Turm aus drei Sichtbetonwänden. Hinter der mit waagerechten Holzlamellen verschalten „Glockenstube“ hängen seit 1962 die drei Bronzeglocken der Glockengießerei Petit & Gebr. Edelbrock: Schlagton „es“, Gewicht 1450 kg, Durchmesser 132 cm, Inschrift ER IST UNSER FRIEDE; Schlagton „ges“, Gewicht 810 kg, Durchmesser 110 am, Inschrift O, CHRISTE, REX GLORIA, DONA NOBIS PACEM; Schlagton „as“, Gewicht 550 kg, Durchmesser 98 cm, Inschrift SEID GETROST; ICH HABE DIE WELT ÜBERWUNDEN.
Am Glockenturm unmittelbar neben dem Haupteingang wurde als Skulptur eine „Reliefmauer“ des Bildhauers Gerson Fehrenbach (1932-2004) aufgestellt, dessen Grab sich auf dem Friedhof Stubenrauchstraße befindet (Abt. 13-372).
2010 wurde die Philippus-Kirche von der Bauaufsicht gesperrt. Das Dach drohte einzustürzen. Nachdem die Gemeinde den Eigenanteil beisammen hatte, wurde die Dachkonstruktion ab Januar 2012 erneuert. Prominentester Nachbar der Philippus-Kirche mit Wohnung Stierstraße Nr. 3 war in den 1960er Jahren der Schriftsteller Uwe Johnson (1934-1984), der die DDR 1959 verlassen musste. Am 19. November 1969 schrieb er eine „Rede zum Bußtag“:
Ich lebe in einer Berliner Straße, aus der die Bomben drei Miethäuser herausgetrennt haben, gegenüber der einstmals leeren Fläche, auf der die evangelische Kirche ein Haus für den Dienst an Gott und eins für die Geselligkeit hat hochziehen lassen, in einer recht modeseligen Auffassung von Baukunst, und nicht nur die auswärtigen Besucher stehen versonnen an meinem gemieteten Fenster und sprechen unverhofft von einem Ski-Übungshang. Dennoch sind unsere Beziehungen zu dieser Niederlassung Gottes verblüffend innig. Das kommt von dem frei stehenden Glockenturm, der, besonders am Freitag, zu oft knalligen Lärm in die Schallkanäle zwischen den vierstöckigen Häusern drückt, die Fenster dröhnen macht und nicht nur Kleinkindern Ohrenschmerzen bereitet. Einer Fluggesellschaft würde die Bürgerschaft zumindest fahrlässige, wahrscheinlich vorsätzliche Körperverletzung vorwerfen. Aber diese Körperschaft des öffentlichen Rechts nimmt ein jungmädchenhaft gekränktes Wesen an, wenn man sie behandelt wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, und ich habe nicht angefangen, Unterschriften zu sammeln. Und wenn diese Kirche nicht nach mir ruft in ihrer grobianischen Manier, traue ich mich in ihre Nähe und lese die Ankündigungen im Schaukasten, die Farblichtbildervorträge über die Seilstraßenbahnen in San Francisco oder die Erstickung des Individuums in den Zwängen und Isolierungen der modernen Industriegesellschaft, mit Diskussion, und bin regelmäßig verdutzt durch die Hartnäckigkeit, mit der dies Institut die feuilletonistischen Entwicklungen verfolgt, nicht nur in der Architektur, auch in der zeitgemäßen Reform seines Betriebsauftrags, der in der Erklärung der Welt für Mitglieder und Schwankende besteht. Und wie viele meiner Nachbarn drücke ich meine Hochachtung schweigend aus, und gehe nicht hinein.
Als das Haus 1902 an der stumpfwinkligen Ecke gebaut wurde, hieß die Hauptstraße noch Friedenauer Straße. Sie gehörte politisch zu Schöneberg und postalisch zu Friedenau. Die Stierstraße hatte noch gar keinen Namen. Das heutige Grundstück Stierstraße Nr. 21-22 und Hauptstraße Nr. 77 war zuvor „Holzplatz“ und im Besitz von Gutsbesitzer G. Mette. Um die Jahrhundertwende muss es Franz Fedler erworben haben, da er gleichzeitig als Bauherr und Architekt fungiert.
Franz Fedler gehört zu den „vergessenen“ Architekten von Berlin, dabei gehört er neben Georg Ermisch, Richard Friedrich und Martin Wagner zu den Baumeistern des Strandbads Wannsee. Als 1928 mit der Neuplanung der Anlage begonnen wurde, schuf er die bis heute erhaltenen Eingangs-, Kassen-, Verwaltungs- und Toilettengebäude im anmutigen „Heimatstil“. Beide Teile, sein Entrée und die sachlich modernen Bauten, entstanden etwa zur gleichen Zeit.
Fedlers viergeschossiges Mietswohnhaus hat den Zweiten Weltkrieg nicht unbeschadet überlebt. Geblieben sind die Gebäudeteile Hauptstraße Nr. 77 und Stierstraße Nr. 22, geblieben sind an der Ecke der breite Erker mit Welscher Haube obendrauf sowie links davon die Loggien. Vom ursprünglichen Glanz der Nr. 21 hatte die Weltkriegsbombe wohl nichts übriggelassen. Was vielleicht noch an Stuck zu retten gewesen wäre, wurde in der Nachkriegszeit – wie an manch anderem Haus der Stierstraße – mit „senatsgeförderten Stuckabschlagsprämien modernisierungssüchtig“ (Barasch) entsorgt. Der Publizist Wolf Jobst Siedler hat das 1964 in seinem Buch „Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum“ skandalisiert.
Noch in den Mauerjahren ging es der Dachlandschaft an den Kragen, so auch dem „Tor zur Stierstraße“. Eingebaut wurden, obwohl das Haus längst unter Denkmalschutz gestellt war, über die gesamte Dachfläche in 3er-Formation „.Klapp-Schwingfenster, Kunststoff mit Holzkern“. Inzwischen hat sich die Dachausbaulobby „weiterentwickelt“, weshalb das Haus seit Herbst 2017 zur weiteren Verwertung aufwändig eingerüstet ist. Getan hat sich bisher nichts.
Ein Blick zurück: Am 28. März 2013 wurde vor dem Haus Stierstraße Nr. 21 eine Stolperschwelle verlegt. Sie soll daran erinnern, dass in der Privatwohnung „Vorderhaus 1. Etage rechts“ von 1933 bis 1938 ein Gebetsraum des 1911 gegründeten „Jüdischen Religionsvereins Friedenau-Steglitz und der südwestlichen Vororte e.V.“ existierte – Zentrum jüdischen Lebens im Südwesten Berlins. Es gab eine Bibliothek und einen Raum, der für Veranstaltungen und Gottesdienste genutzt wurde. Mit der „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938, dem organisierten Pogrom der Nationalsozialisten, kam das Aus. Bemerkenswert ist, dass das Regime in den folgenden Jahren in das Haus regelrecht „systematisch“ Juden einquartierte, die ab 1942 nach Auschwitz und Theresienstadt deportiert und anschließend ermordet wurden.
Auf dem nachfolgenden LINK finden Sie eine Übersicht über Stolpersteine in Friedenau.
Nachtrag
Kommen wir am Schluss zu Erfreulicherem: Es gibt immer noch Berliner Eckkneipen, die einfach alles überstehen. Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Die „Kogge“ in der Stierstraße Nr. 22 gehört dazu. Die Kneipengeschichte beginnt eigentlich im Jahr 1872, als sich Rixdorfer Gastwirte zusammentaten und die „Kindl Brauerei“ gründeten. Für den Absatz in Berlin und den Vororten sorgte ein ausgeklügeltes Liefersystem, anfangs mit Holzfässern auf Pferdefuhrwerken, später mit Lkw. Mehr und mehr Gaststätten schwenkten von „Pilsner Bier“ auf „Berliner Kindl“ um. Damit konnte „Kindl“ auch ihre Brauereibindung erreichen. So auch die Kneipe an der stumpfen Ecke von Haupt- und Stierstraße. Sie existiert spätestens seit 1914 mit dem Gastwirt G. Haar. 1928 war es dann Wirt C. Gerdes – gleich nebenan der Zigarrenladen von R. Lindemann. Zur Realität gehört, dass die Pächter fast jährlich wechselten. Die Stammgäste blieben, weil die Atmosphäre blieb. Bleiben wir bei dem, was eindeutig zu recherchieren ist: Am 1. September 1970 übernahm Günter Liefke den Laden. Das Steak soll richtig berühmt gewesen sein. Heute gibt es Buletten und Bockwurst, die keiner mehr so richtig würdigen will. Sky ist auch dazu gekommen, und wenn Hertha live übertragen wird, ist in die Bude kein Reinkommen mehr. Vier Jahrzehnte standen Liefke und seine Schwester Erika hinter der Theke. Dann verabschiedeten sie sich. Ein neuer Pächter kam und mit diesem auch der neue Name „Friedenauer Pub“. Die Stammgäste blieben – trotz puffig-roter Leuchtreklame über der Tür, die zu diesem schönen Haus so gar nicht passt, aber von den Denkmalschützern wohl „genehmigt“ wurde, trotz der Gerüste, auf denen sich seit Sommer 2017 nichts tut. Der Name „Friedenauer Pub“ bleibt für den Kiez ein Fremdwort. Es ist die „Kogge“.
Bäume für die Stierstraße
Im April 2017 haben „Freunde der Stierstraße“ zu einer Spendenaktion aufgerufen, mit der sie beim Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg eine Beschleunigung der überfälligen drei Baumnachbepflanzungen bewirken wollten. Der Aufruf war und ist umstritten. Ein Anwohner sah darin „die schleichende Abkehr, den Verrat an einer öffentlichen Pflichtaufgabe, die parteiübergreifend einst als sinnvolle ökologische Übereinkunft galt. Zähneknirschend spende ich 40 Euronen. Auch mir blutet das Herz, wenn ich die trostlosen Stümpe sehe!“
Auch wir haben uns gegen das „im Grunde genommen ehrenwerte Anliegen“ ausgesprochen. Wenn Nachbarn „mit einer Spendensammlung dafür sorgen sollen, dass Bäume nachgepflanzt werden, macht das – mit Verlaub – den Bock zum Gärtner. Die Verwaltung stiehlt sich aus der Verantwortung und nutzt bürgerschaftliches Engagement schamlos aus“.
„Friedenau erweckte durch seinen ursprünglich angelegten Baumschmuck von jeher den Eindruck einer Gartenstadt. Die Gemeindeverwaltung hat sich stets bemüht, diesen Charakter zu erhalten und zu pflegen. Sie hat es verstanden, die in dem engen Bebauungsplan übrig gebliebenen geringen Grünflächen in geschmackvoller Weise anzulegen und gärtnerisch zu erhalten“, so der Friedenauer Gemeindebaurat Hans Altmann im Jahr 1924. Um die Pflege von Grünanlagen und Straßenbäumen ist es mehr als schlecht bestellt. Der Blick über den Vorgartenzaun der Stierstraßenhäuser ist angesagt. Ringsherum in Bennigsen-, Haupt-, Lauterstraße und auf dem Perelsplatz gibt es Dutzende gefällter Bäume, die seit geraumer Zeit nicht ersetzt wurden.
Die gespendeten Bäume wurden gesetzt und der Jubel bei den „Freunden der Stierstraße“ ist groß: „Wir sehen uns vielleicht am Ende der Woche für eine spontane Feier bei ‚unseren‘ Bäumen.“ Einen Grund zum Feiern können wir nicht erkennen. Nachzutragen ist, dass die Senatsverwaltung für Umwelt die Aktion der „Stierstraßenfreunde“ in ihrem Baumkatalog immerhin würdigt: „Baumpflanzstandort 0716F124, Stierstraße, 12159 Berlin. Baumart (lat.) Crataegus laevigata 'Paul's Scarlet'. Baumart (dt.): Echter Rot-Dorn. Gespendet.“