Exkurs Stierstraße Nr. 17 bis Nr. 19

 

 

In seiner Rede zum Bußtag lässt Uwe Johnson am 19. November 1969 wissen, dass er in einer Berliner Straße lebt, aus der die Bomben drei Miethäuser herausgetrennt haben, gegenüber der einstmals leeren Fläche, auf der die evangelische Kirche ein Haus für den Dienst an Gott und eins für die Geselligkeit hat hochziehen lassen, in einer recht modeseligen Auffassung von Baukunst, und nicht nur die auswärtigen Besucher stehen versonnen an meinem gemieteten Fenster und sprechen unverhofft von einem Ski-Übungshang.

 

Der Dichter beider Deutschland war 1959 nach West-Berlin gezogen. Nach dem Mauerbau gelang seiner Freundin Elisabeth Schmidt die Flucht. Im April 1963 heiraten die beiden und beziehen mit ihrer Tochter die Familienwohnung in der Stierstraße Nr. 3, gegenüber den Grundstücken Nr. 17 bis Nr. 22, deren Häuser im März 1943 durch Bomben der Royal Air Force in Schutt und Asche gelegt wurden.

 

Für Uwe Johnson waren die Beziehungen zu dieser Niederlassung Gottes verblüffend innig. Das kommt von dem frei stehenden Glockenturm, der, besonders am Freitag, zu oft knalligen Lärm in die Schallkanäle zwischen den vierstöckigen Häusern drückt, die Fenster dröhnen macht und nicht nur Kleinkindern Ohrenschmerzen bereitet … Und wie viele meiner Nachbarn drücke ich meine Hochachtung schweigend aus, und gehe nicht hinein. Ab und an traue ich mich in ihre Nähe und lese die Ankündigungen im Schaukasten, die Farblichtbildervorträge über die Seilstraßenbahnen in San Francisco oder die Erstickung des Individuums in den Zwängen der modernen Industriegesellschaft …

 

Fünf Jahrzehnte später ist das Angebot breiter geworden: Spanisch-Kurs für Senioren, Computer-Kurs für Fortgeschrittene, Smartphone, Tabletkurse, Qi Gong & Tai Chi, Koreanischer Theater-Club, Yoga. Ein weiterer Schaukasten ist hinzugekommen, in dem die Stolpersteininitiative Stierstraße über jene Unbekannten informiert, die ab 1935 zuerst in die Wohnungen eingewiesen und dann in die Vernichtungslager deportiert wurden. Das war ein Anfang, dem nichts folgte. Erinnerung aber ist mehr.

 

Erst über das Digitalisierungsprojekt Online-Portal „1000 x Berlin", im Jahr 2020 gestartet aus Anlass des 100. Jubiläums von Groß-Berlin, erfährt die breite Öffentlichkeit, dass seit Jahrzehnten Fotografien aus der Nachkriegszeit in den Archiven der Bezirksmuseen und des Stadtmuseums Berlin verwaltet wurden. Über diese Dokumente werden die Veränderungen des Stadtbilds sichtbar. Der Bezirk Schöneberg könnte einwenden, dass sein Museum bereits 2015 mit der Ausstellung Ruinen und Rolleiflex und der Publikation Das zerstörte Schöneberg einige Ruinenfotos präsentiert hatte. Das war – schaut man sich jetzt die 4244 Objekte der Sammlung Herwarth Staudt komplett an – eine armselige Angelegenheit, zumal der Ortsteil Friedenau damals ausgeklammert wurde.

 

Der Fotograf Herwarth Staudt (1924-1994) hatte 1949 vom Baulenkungsamt Schöneberg den Auftrag erhalten, Kriegsruinen zu fotografieren. Mit Blick auch auf diese Fotos prüfte die Verwaltung die Bausubstanz – und entschied dann, ob sich ein Wiederaufbau der Häuser lohnte oder ob sie abgerissen werden mussten. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Rut geb. Böhm (1925-2002) dokumentierte er zwischen Februar 1949 und Herbst 1957 sowohl die Ruinen von Friedenau als auch jene des Friedenauer Ortsteil von Schöneberg. Erfreulich ist, dass die Fotografen auch ganze Straßenzüge dokumentierten, so dass die Veränderungen heute teilweise nachvollziehbar sind.

 

1988 bot Herwarth Staudt Negative und Abzüge dem Bezirksamt Schöneberg zum Kauf an. Nach dem Tod ihres Mannes übergab Rut Staudt im Jahr 2000 weitere Dokumente und Arbeitsutensilien. Vom Vermessungsamt Schöneberg kamen ca. 300 Originalabzüge hinzu. Museumsleiterin Irene von Götz, seit 2017 auf diesem Posten, schätzt sich glücklich, insgesamt ca. 5000 Fotoarbeiten von Herbert und Rut Staudt im Bestand zu haben. Geflissentlich verschweigt sie, dass diese historisch so relevanten Ruinenfotos seit Jahrzehnten im Archiv lagerten und der Öffentlichkeit vorenthalten wurden.

 

Kommen wir auf die Stierstraße zurück. Die Grundstücke in Lauter-, Hähnel-, Bennigsen- und Stierstraße gehörten bis 1940 politisch zu Schöneberg, postalisch aber zu Friedenau. Erst Mitte der 1950er Jahre wurde die ganze Gegend dem Ortsteil Friedenau zugeordnet. So kam es, dass die Stadt Schöneberg 1901 der neuen Straße nahe der Ringbahn den Namen Stierstraße gab. Bereits ein Jahr später wurde über den Bebauungsplan Klage geführt, da in den Hinterhäusern nur Wohnungen von 3 Zimmern aufwärts und solche in den Vorderhäusern von 4 Zimmern aufwärts gebaut werden dürfen. Schönebergs Stadtverordneter Treugebrodt hielt dagegen: Nachdem nun einmal im Grundbuch festgelegt sei, daß nicht anders gebaut werde und daß trotzdem zwei Eckhäuser davon freigelassen sind, er wenigstens die 11 übrigen Baustellen, welche dazwischen liegen, den Eintragungen gemäß, also mit Vor- und größeren Hintergärten erhalten sehen möchte. Die Einwohner des Friedenauer Ortstheils von Schöneberg hätten das größte Interesse daran, daß auch diesem Theile der vornehme Charakter gewahrt bleibe und keine Miethskasernen entstehen.

 

Im Herbst 1902 musste sich die Schöneberger Tiefbaudeputation erneut mit dem Problem beschäftigen, da der Eigenthümer der Grundstücke, Baumeister Utz, nunmehr ersucht, in die Löschung der Bedingungen zu willigen, daß die Grundstücke nur 53 Meter tief bebaut und nur vier- bis siebensiebenzimmerige Wohnungen errichtet werden dürfen. Dagegen soll die Verpflichtung bestehen bleiben, die freiliegenden Theile der Grundstücke mit gärtnerischen Anlagen zu versehen und letztere zu unterhalten; ferner ist die Errichtung von Fabrik-Betrieben ausgeschlossen. Zur Sicherstellung dafür, daß er diese Bedingungen jederzeit erfüllen wolle, verpflichtet sich Baumeister Utz für jedes seiner sieben Grundstücke eine Kaution von 3000 Mk. zusammen also 21000 Mk. zu hinterlegen. Der Friedenauer Lokal-Anzeiger konstatiert 1907: Die auffallend rege Bautätigkeit erregt Aufsehen in weitesten Kreisen, besonders aber in denen des weitverzweigten Bauhandwerks. Während das Leben des letzteren überall stockt, bewegt es sich auf der genannten Strecke in ganz unerwarteter Weise. Es spricht von der Solidität der Unternehmerfirmen, daß sie in der Lage sind, so zahlreiche Bauten gegenwärtig zur Ausführung zu bringen. Im Zuge der Bennigsen-, Hähnel- und Stierstraße entsteht ein ganz neues Stadtviertel.

 

Ganz so glanzvoll war es wohl nicht: Im Wege der Zwangsvollstreckung soll das Stierstraße Nr. 21 belegene, im Grundbuche von Schöneberg zur Zeit der Eintragung des Versteigerungsvermerkes auf den Namen des Maurermeisters Otto Berheine in Schöneberg, Stierstraße 22, eingetragene Grundstück am 8. Oktober 1907 versteigert werden. Immerhin ist den Akten zu entnehmen, dass das Grundstück 17ar 86 qm groß ist, aus Vorgarten und Hofraum mit Wohngebäude besteht und der Grundsteuer-Nutzungswert 15000 M. beträgt. Otto Berheine, dies sei hinzugefügt, schuf 1901 als Bauherr den Entwurf für das erhaltene und inzwischen unter Denkmalschutz stehende Mietswohnhaus in der Rheinstraße Nr. 50. An diesem viergeschossigen Bau mit Loggien, Erkern und reichem Jugendstildekor lässt sich in etwa nachvollziehen, was Berheine in der Stierstraße geschaffen hatte.

 

1909 eröffnete im Hause Hauptstraße Nr. 76 Ecke Stierstraße Nr. 22 das Bellevue. Dem Café-Restaurant schließt sich eine Weinstube sowie ein Billard- und Spielzimmer an. Nur die besten Weinsorten werden vorgesetzt, ein erstklassiges Neuhusen'sches Billard ist vorhanden und im Spielzimmer lässt sichs wirklich gut verweilen, auch eignet sich dieses für kleinere Gesellschaften zu Zusammenkünften und Besprechungen. Musterhaft sind die beiden Verbandskegelbahen, die mit allen technischen Neuerungen ausgerüstet sind. Keglern dürfte allein schon die Besichtigung der sehr geräumigen, gut angelegten Bahnen Interesse bieten. Speisen und Getränke werden selbstverständlich nur in vorzüglicher Güte verabfolgt und auf entgegenkommende flotte Bedienung wird besonderer Wert gelegt.

 

Auffallend ist, dass für die erbauten 6-Zimmer-Wohnungen während Kaiserzeit, Weimarer Republik und Nationalsozialismus permanent im Friedenauer Lokal-Anzeiger Annoncen für Vermietung von Zimmern geschaltet wurden. 1943 erschien das letzte Adressbuch der Reichshauptstadt. Genannt werden folgende Hauseigentümer:

 

Nr. 17 Witwe Anna Kallien aus Neukölln, Weserstraße Nr. 39, wo sie auch in den Nachkriegsjahren die „Kallien-Garagen“ betrieb.

Nr. 18 Kaufmann Dr. K. Liedemann aus München, vertreten durch den Architekten Heinrich Seidel, Rubensstraße Nr. 114, der 1927/28 zusammen mit Peter Jürgensen das Gemeindehaus der  Nathanael-Kirche am Grazer Platz Nr. 2 errichtet hatte.

Nr. 19 Eigentümer Hausfrieden-Grundstücks GmbH, alleinige Mehrheits-Gesellschafterin und Geschäftsführerin Elfriede Friedemann geb. Frank. Bereits 1941 war allerdings für das Grundstück der Verwalter K. Börner, W8, Unter den Linden 51 eingesetzt. 1943 wird als Eigentümer E. Lahmann, NW87, Flotowstraße Nr. 6, aufgeführt.

Nr. 20 und Nr. 21 Eigentümerin T. Wolf aus der Freiherr v. Stein-Straße Nr. 7

Nr. 22 Eigentümer war der Kaufmann W. Zimmerling, auch von Hauptstraße Nr. 77

 

Einzig die Geschichte des Hauses Stierstraße Nr. 19 lässt sich einigermaßen bis zum Ende erzählen. Das Grundstück wurde 1922 von Dr. Gustav Friedemann erworben. 1926 ist als Eigentümer die Grundstücksgesellschaft mbH Hausfrieden mit Justizrat Friedemann als Verwalter eingetragen. 1931 fungieren die Grundstücksgesellschaft mbH Hausfrieden und Frau Elfriede Friedemann geb. Frank (1878-1970) als Eigentümer.

 

In Stolpersteine – Das Gedächtnis einer Straße schreibt Petra T. Fritsche: Elfriede Frank kam am 29. Juni 1878 in Brandenburg als Tochter des Ziegeleibesitzers Julius Frank und seiner Frau Johanna geborene Joel auf die Welt. Sie heiratete den Juristen Gustav Friedemann, 1906 wurde die Tochter Susanne geboren. Die Familie lebte in der Potsdamer Straße Nr. 35, wo ihr Mann seine Kanzlei als Rechtsanwalt und Notar hatte. Als Gustav Friedemann 1933 starb, zog sie mit ihrer Tochter Susanne und deren Ehemann Botho Holländer in das ihr gehörende Haus Stierstraße Nr. 19. Kurz vor der Deportation tauchte Elfriede Friedemann unter. Sie hinterließ einen Brief, in dem sie ihren Selbstmord ankündigte. Die Gestapo meldete sie daraufhin mit dem Vermerk „SM“ (für Selbstmord) beim Einwohnermeldeamt ab. Unter anderem mit Hilfe der Württembergischen Pfarrhauskette konnte Elfriede Friedemann überleben. Sie starb 1979 in Berlin. Ihre Tochter Susanne überlebte auch im Untergrund.

 

Eine Ergänzung fanden wir bei der Kirchenrechtlerin Judith Hahn, die wir ungeprüft und auszugsweise übernehmen: In den 1950er Jahren stellte Elfriede Friedemann Anträge auf Entschädigung. Sie erhielt zwar eine kleine Rente, jedoch bis 1952 keine Entschädigungszahlungen. Ihre Tochter Susanne, die ebenfalls im Untergrund überlebt hatte, stellte deshalb im Juni 1952 den dringenden Antrag, einen Vorschuss auf die Ansprüche ihrer Mutter zu zahlen ... Der Entschädigungsantrag wurde jedoch im Oktober 1963 als sachlich nicht begründet abgewiesen ... Erst zwei Jahre später gelang es Elfriede Friedemann, in einer Berufung einen Vergleich zu erwirken. Sie erhielt eine Abfindung in Höhe von 5.000,-- DM. Ihr Antrag auf Anerkennung erhöhter Lebenshaltungskosten wurde abschlägig beschieden ... Ein halbes Jahr später kam es zu einem Vergleich: Elfriede Friedemann wurden erhöhte Lebenshaltungskosten in Höhe von 750,-- DM zugestanden. Elfriede Friedemann versuchte außerdem, den ihr in der Pfandleihe Jägerstraße im Jahr 1938 abgenommenen Schmuck erstattet zu bekommen. Im November 1954 wurde die Rückgabe bzw. Entschädigung abgelehnt. Dennoch erhält sie schließlich einen Betrag in Höhe von 7.500,-- DM.

 

1951 wurde der Grundbucheintrag Eigentümer E. Lahmann, NW87, Flotowstraße Nr. 6, zurückgenommen und Elfriede Friedemann wieder als Eigentümerin des Ruinengrundstücks Stierstraße Nr. 19 eingetragen. Im Laufe der 1950er Jahre war es der Evangelischen Kirche gelungen, von den drei Eigentümern die Grundstücke Nr. 17-19 zu erwerben – vermutlich forciert vom Architekten Hansrudolf Plarre (1922-2008), der 1957 mit dem Einkaufszentrum Hansaviertel (Läden, Gaststätte, Kino, Theater und U-Bahn-Eingang gerade en vogue war. Am 26. November 1958 erteilte die Bezirksverordnetenversammlung von Schöneberg die Zustimmung zum Bebauungsplan XI-51 für die Grundstücke Stierstraße Nr. 17-19. In der Zeit vom 30. Januar 1959 bis 27. Februar 1959 wurde der Plan öffentlich ausgelegt. In den Planergänzungsbestimmungen des Stadtplanungsleiters Lüer vom 26. Juni 1959 heißt es: Für die Grundstücke Stierstraße 17-19 (Vorbehaltsbauplatz für soziale und kirchliche Zwecke) wird als Maß der baulichen Nutzung eine größte Baumasse von 3,6 m3 umbauten Raumes je m2 Baugrundstück festgesetzt. Innerhalb der privaten Freifläche können ausnahmsweise feste Garagen für den Eigenbedarf der Bewohner und bauliche Nebenanlagen wie Müllhäuschen usw. zugelassen werden. Am 2. Oktober 1959 erteilte der Senator für Bau- und Wohnungswesen Rolf Schwedler (1914-1981) seinen Segen.

 

Die Ruinenaufnahmen von Herwarth und Rut Staudt von 1953/54 belegen, dass ein Wiederaufbau der Häuser Stierstraße Nr. 17 bis Nr. 19 gerechtfertigt gewesen wäre. Die Struktur der Fassaden mit Balkonen, Loggien, Risaliten und Erkern ist deutlich erkennbar. Das Schöneberger Bauamt stufte die Bauten jedoch als schwer beschädigt ein – was den Abriss und die Aufgabe der historischen Blockbebauung bedeutete.

 

Warum zehn Gehminuten von der Kirche Zum Guten Hirten am Friedrich-Wilhelm-Platz mit der Philippus-Kirche überhaupt ein weiteres Gotteshaus notwendig war, erschließt sich nicht. Entstanden ist ein städtebaulich mißratenes Anwesen mit Kirche, Glockenturm, Diakoniestation und Parkplätzen, dem das Bezirksamt Schöneberg nebenan auf dem Grundstück Stierstraße Nr. 20A noch den einstöckigen Klinkerbau der Seniorenfreizeitstätte hinzufügte.

 

Von links: Die Häuser Stierstraße 22 bis 19 etwa um 1910. Archiv Rüdiger Barasch