Uwe Johnson, Rede zum Bußtag
Uwe Johnson, „Dichter der beiden Deutschland“, wurde 1934 in Cammin (Pommern) geboren. 1945 floh die Familie nach Mecklenburg. Der Vater wird verhaftet und in die Sowjetunion deportiert, wo er 1946 stirbt. Die Mutter und Tochter verlassen 1956 die DDR und ziehen nach Westberlin. Sohn Uwe studierte zunächst in Rostock und Leipzig Germanistik. 1959 übersiedelte der 22jährige schließlich auch nach Westberlin. Er wohnte zunächst als Untermieter in der Dahlemer Spechtstraße 5, bis ihm im Oktober die Atelierwohnung in der Niedstraße 14 zugewiesen wurde. 1962 heiratete er seine nach dem Mauerbau aus der DDR geflüchtete Freundin Elisabeth Schmidt. Im selben Jahr wurde Tochter Katharina geboren. Die Atelierwohnung wurde zur Schreibstätte des Schriftstellers. 1963 beziehen die Johnsons ihre Familienwohnung in der Stierstraße 3, II. Stock.
Am 19. November 1969 schrieb Uwe Johnson eine Rede zum Bußtag:
Ich lebe in einer Berliner Straße, aus der die Bomben drei Miethäuser herausgetrennt haben, gegenüber der einstmals leeren Fläche, auf der die evangelische Kirche ein Haus für den Dienst an Gott und eins für die Geselligkeit hat hochziehen lassen, in einer recht modeseligen Auffassung von Baukunst, und nicht nur die auswärtigen Besucher stehen versonnen an meinem gemieteten Fenster und sprechen unverhofft von einem Ski-Übungshang. Dennoch sind unsere Beziehungen zu dieser Niederlassung Gottes verblüffend innig. Das kommt von dem frei stehenden Glockenturm, der, besonders am Freitag, zu oft knalligen Lärm in die Schallkanäle zwischen den vierstöckigen Häusern drückt, die Fenster dröhnen macht und nicht nur Kleinkindern Ohrenschmerzen bereitet. Einer Fluggesellschaft würde die Bürgerschaft zumindest fahrlässige, wahrscheinlich vorsätzliche Körperverletzung vorwerfen. Aber diese Körperschaft des öffentlichen Rechts nimmt ein jungmädchenhaft gekränktes Wesen an, wenn man sie behandelt wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, und ich habe nicht angefangen, Unterschriften zu sammeln. Und wenn diese Kirche nicht nach mir ruft in ihrer grobianischen Manier, traue ich mich in ihre Nähe und lese die Ankündigungen im Schaukasten, die Farblichtbildervorträge über die Seilstraßenbahnen in San Francisco oder die Erstickung des Individuums in den Zwängen und Isolierungen der modernen Industriegesellschaft, mit Diskussion, und bin regelmäßig verdutzt durch die Hartnäckigkeit, mit der dies Institut die feuilletonistischen Entwicklungen verfolgt, nicht nur in der Architektur, auch in der zeitgemäßen Reform seines Betriebsauftrags, der in der Erklärung der Welt für Mitglieder und Schwankende besteht. Und wie viele meiner Nachbarn drücke ich meine Hochachtung schweigend aus, und gehe nicht hinein ....
Aus: Uwe Johnson, Berliner Sachen. Suhrkamp, 1975
Weitere Beiträge zu Uwe Johnson finden Sie unter Niedstraße 14 und Stierstraße 3.