Fregestraße im Jahr 1903. Archiv H&S

Aus historischer Sicht gehört die Straße zu den Gemarkungen Friedenau, Schöneberg und Steglitz, damals unter dem Namen Straße 27. Am 29. April 1884 erhielt sie den Namen Fregestraße, benannt nach dem Theologen Ferdinand Ludwig Frege (1804-1883), der von 1846 bis zu seinem Tod 1883 als Pfarrer in Schöneberg und Lankwitz wirkte. In der Vergangenheit gab es über die Zuständigkeiten zu Belangen der Fregestraße manche Verwirrungen. Bis 1940 gehörten zu Friedenau die Häuser 25 bis 30, zu Schöneberg 1 bis 24 und 57 bis 81 und zu Steglitz 32 bis 54. Danach gehörten zu Friedenau 1 bis 30 und 57 bis 64, zu Schöneberg 65 bis 81 und zu Steglitz 32 bis 54. Ab Mitte der 1950er Jahre gehörten zu Friedenau die Hausnummern 1 bis 30, zu Schöneberg 57 bis 81 und zu Steglitz 32 bis 54. Aktuell lautet die Aufteilung Nr. 1-27B (Friedenau), Nr. 31-55 (Steglitz) und Nr. 57-81 (Schöneberg). So kommt es, dass für die Fregestraße unterschiedliche Postleitzahlen existieren: Nr. 1-24A und 57-81 die PLZ 12159 und Nr. 25-55 die PLZ 12161.

Grabstein Ludwig Frege, 23.03.2015. Foto Hahn & Stich

Die Geschichte der Familie Frege

 

Ferdinand Ludwig Frege (1804-1883) war der Sohn des Berliner Schneidermeisters Johann Christoph Frege (1750-1829) und seiner in Berlin geborenen Ehefrau Marie Caroline Wolf (1816-1910). Er besuchte das Gymnasium zum Grauen Kloster, studierte Theologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität und wurde nach seiner Ordination 1829 zunächst Erzieher der Prinzen Adalbert (1811-1873) und Waldemar (1817-1849) von Preußen. 1835 wurde er Schloßprediger in Schwedt und Küstrin, wo Tochter Hedwig Maria Gertrud (1841-1922) und Sohn Franz Friedrich Konrad (1843-1920) geboren wurden. 1845 wurde Ludwig Frege zum Pfarrer von Schöneberg und Lankwitz berufen. Die Familie zog in das Pfarrhaus Alt Schöneberg. Er wird als geborener Städter und politischer Mensch beschrieben, als einer der ersten Befürworter für den Anschluss von Schöneberg an Berlin. 1864 gründete er in seinem Amtsbezirk die Zwölf-Apostel-Gemeinde und legte das erste Kirchenbuch an. Bereits 1839 verfasste er Berlin unter dem Einfluss der Reformation im 16. Jahrhundert, dem 1850 die Geschichte des preußischen Volksliedes und 1855 Das Interim und der Augsburger Religionsfriede folgten.

 

Ludwig Frege starb am 6. Juli 1883 und wurde auf dem Evangelischen Kirchhof Alt Schöneberg im Grab Abt. W-3-4 beigesetzt. Das Teltower Kreisblatt schrieb seinerzeit: Der Schloßprediger Ludwig Frege hierselbst, 79 Jahre alt, ist am Freitag früh um 10 Uhr verstorben. Der Tod ereilte ihn gerade an seinem Geburtstage, und die von allen Seiten nach dem Pfarrhause eilenden Gratulanten traten in ein Todtenhaus. Von Allen, die ihn gekannt haben, hochgeachtet, von seinen Gemeinden geliebt und verehrt, hat er nahe an 40 Jahre in unserem Orte segensreich gewirkt. Prediger Frege ist einer derjenigen Menschen, die nach ihrem Tode keinen Feind zurücklassen. Er war ein steter Wohltäter der Armen und ließ sich nicht abschrecken, wenn auch seine Wohlthaaten häufig gemißbraucht wurden.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Inschrift: Hier ruhet in Gott Ferdinand Ludwig Frege, geb. zu Berlin am 6. Juli 1804, gest. zu Schöneberg am 6. Juli 1883. Pfarrer in dieser Gemeinde vom Jahre 1846 bis zu seinem Heimgange in das ewige Leben. Dazu Psalm 23: Der Herr ist mein Hirte, / nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen / und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; / er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, / ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, / dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch / vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, / du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang / und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.

 

Ein Jahr nach seinem Tod erhielt die bisherige Straße 27 am 29. April 1884 den Namen Fregestraße. Zeitgleich wurde die als Verbindung zwischen Schmargendorf, Friedenau und Tempelhof gedachte Schmargendorfer Straße von der Rheinstraße an mit dem Namen Hedwigstraße bedacht – benannt nach Hedwig Neumann geb. Frege (1841-1921), der einzigen Tochter des Pfarrers Ludwig Frege, die zu diesem Zeitpunkt erst 43 Jahre alt war, in erster Ehe eine verheiratete Apel, in zweiter Ehe eine verheiratete Neumann und die schließlich zur Majors-Witwe wurde. Hedwig lebte noch bis 1921 und soll auf der Grabstelle ihres Vaters auf dem alten Schöneberger Kirchhof beigesetzt worden sein – wofür die Kirchhofsverwaltung bis heute keine Unterlagen vorlegen kann. Die Benennung in Hedwigstraße bleibt ein Rätsel.

 

Schloßpredigers-Witwe Marie Frege geb. Wolf zog nach dem Tod ihres Ehemannes 1899 nach Görlitz, zuerst in die Hartmannstraße Nr. 5, später in die Moltkestraße Nr. 13 pt. Dort war ihr Sohn Franz Friedrich Konrad (1843-1920) nach dem Studium und einer Zwischenstation als Königlicher Staatsanwalt-Gehilfe in Angermünde erster Staatsanwalt für Liegnitz und Görlitz geworden – mit Wohnung in Görlitz, Berliner Straße Nr. 42. Später wurde er Generalbevollmächtigter des Fürsten Solms-Baruth. Er heiratete 1873 Auguste Hedwig Agnes Nitsche (geb. 1846). Aus seiner zweiten Ehe mit Anna Maria Luise Christiani stammt der in Potsdam geborene Sohn Wolfgang Christian Ludwig Frege (1884-1964). Dieser studierte in Heidelberg, Berlin und Breslau Rechts- und Staatswissenschaften, promovierte 1908, trat 1912 in den preußischen Justizdienst ein und brachte es beim Preußischen Oberverwaltungsgericht in Berlin bis zum Oberverwaltungsgerichtsrat. 1918 heiratete er laut Trauregister Berlin-Grunewald Eva Reitzenstein (1894-1964) die Tochter des Landgerichtspräsidenten Dr. jur. Hermann Freiherr von Reitzenstein und Hermina geb. Friedensburg. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zunächst Präsident des Bezirksverwaltungsgerichtes Berlin-Zehlendorf und 1953 erster Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes.

 

Sein Sohn Joachim Frege (1919-1997) studierte Jura, wurde Richter und heiratete die Engländerin Jeannie Whittaker (1926-2000). Aus der Ehe stammen fünf Kinder, darunter der 1962 geborene Andreas Frege – bekannt unter seinem Künstlernamen Campino, dem Frontmann der Toten Hosen.

 

Soweit, so gut. Ludwig Frege war fast vier Jahrzehnte Pfarrer von Schöneberg. Sein Grab auf dem Ev. Kirchhof Alt Schöneberg existiert seit 1883. Im Jahr 1910 wurde dort auch seine Ehefrau Marie Frege geb. Wolf beigesetzt. Die verwitterte Inschrift lautet: Hier ruhet in Gott Frau Prediger Marie Frege geb. Wolf geb. in Berlin am 19. September 1816, gestorben in Görlitz am 23. November 1910. Da in allen Friedenau-Publikationen zu lesen ist, dass Tochter Hedwig Neumann geb. Frege auf dem alten Schöneberger Kirchhof auf der Grabstelle ihres Vaters beigesetzt wurde, suchten wir am 25. September 2022 unter dem mit Efeu überwucherten Grab nach einem Hinweis und fanden eine flach auf dem Boden liegende Grabplatte mit der Inschrift: Hedwig Neumann geb. Frege 1841-1921. Selig sind die da Leid tragen. Die geschiedene Majors-Witwe Hedwig Neumann geb. Frege war ein Jahr nach ihrer Mutter nach Görlitz gezogen und wohnte dort im Haus der Mutter Moltkestraße Nr. 13 Parterre. Nach ihrem Tod wurden die sterblichen Überreste nach Berlin überführt und auf dem Kirchhof Alt Schöneberg bestattet.

 

Erfreulich ist, dass die Evangelische Kirchengemeinde Alt-Schöneberg die Grabstätte Frege Abt. W-3-4 bisher nicht eingeebnet hat. Getan hat die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz allerdings für Erhalt und Pflege nichts. Vergessen ist, dass der Pfarrer von seinen Gemeinden in Schöneberg und Lankwitz geliebt und verehrt wurde, segensreich gewirkt hatte, ein steter Wohltäter der Armen war, und sich nicht abschrecken ließ, wenn auch seine Wohlthaaten häufig gemißbraucht wurden. Es ist an der Zeit, dass Bischof Christian Stäblein seinen warmen Grußworten Taten folgen läßt und sich persönlich dafür einsetzt, Pfarrer Ludwig Frege und seiner Familie eine würdige Ruhestätte zu gewähren.

 

Wir haben 2003 mit der Initiative Lange Nacht auf dem Südwestkirchhof, wo mehr als 120 Künstler ohne Honorar auftraten und 30.000 Euro für die Sanierung von Grabdenkmälern eingingen, auch mit dem Auftun von privaten Spendern für die Sanierung der Grabstätte des Pfarrers Paul Vetter auf dem Friedhof Stubenrauchstraße einiges für die Erinnerung getan. Jetzt ist die Kirche dran!

 

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Programm Lange Nacht auf dem Südwestkirchhof, 2002

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Fregestraße 6, 1950. Sammlung Staudt. Museum Schöneberg

Fregestraße Nr. 6

 

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Fregestraße 7 & 7A. Foto LDA

Fregestraße Nr. 7 & 7A

Baudenkmal Mietshaus

Datierung 1910-1911

Ausführung Bauunternehmer Wilhelm Tillack

Bauherr Baubüro M. & S. Stöckel

 

Das vier-, teilweise fünfgeschossige Wohnhaus in der Fregestraße 7-7 A wurde 1910 nach Plänen des Architekten Wilhelm Tillack erbaut.  Es ist ein außergewöhnliches Haus mit zwei Eingängen, also ein Doppel-Mietswohnhaus. Es zeigt eine ungemein lebhaft gegliederte, asymmetrische Straßenfassade, in der im unteren Bereich sogar versetzte Geschosse sichtbar werden. Die Eingänge liegen auf verschiedenen Niveaus. Die Fassade wird strukturiert durch zwei unterschiedliche Erker mit seitlichen, offenen Loggien und Balkons; die Erker werden von einem Walm- beziehungsweise einem Turmdach abgeschlossen. In der Fassadenmitte herrscht eine vertikale Gliederung durch schmale, hochrechteckige Fenster vor, die durch Bay-Window-Brüstungen in ihrer Vertikalität betont werden. Die Brüstungen zeigen kleine Medaillons als Schmuck. Ansonsten ist die Fassade glatt verputzt. Im Hochparterre fällt in der Mitte der Fassade ein vorspringender Balkon mit einem Dach auf zierlichen Holzstützen auf. Dadurch werden die verspringenden Niveaus ausgeglichen. Die beiden Hauseingänge öffnen sich in schmale, holzvertäfelte Vestibüle mit Terrazzofußboden. Das Haus Nr. 7 ist ein Ein-, Nr. 7 A ein Zweispänner. Das Doppelhaus zählt zu den Meisterwerken des Reformmietshausbaus in Friedenau. Topographie Friedenau, 2000

 

In diesem Haus lebte der Afrikaforscher Karl Dove (1863-1922), der von 1892 bis 1894 Süd-West-Afrika bereiste.

 

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Fregestraße 8, 1951. Sammlung Staudt. Museum Schöneberg

Fregestraße Nr. 8

 

 

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Fregestraße 13. Foto Hahn & Stich, 2021

Fregestraße Nr. 13

DIE HEILSARMEE

 

 

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Hans Magnus Enzensberger am S-Bahnhof Friedenau, um 1970, Archiv hme

Fregestraße Nr. 19

Hans Magnus Enzensberger (1929-2022)

 

Die Geschichte des Hauses Fregestraße Nr. 19 beginnt eigentlich mit einem Brief vom 23. Dezember 1959. Da nahm der gerade von Ost nach West gewechselte Schriftsteller Uwe Johnson Kontakt mit dem beim Suhrkamp Verlag als Lektor tätigen Hans Magnus Enzensberger (1929-2022) auf. Fünfzig Jahre später offenbart der bei Suhrkamp erschienene Briefwechsel Enzensberger. Johnson ihre Auseinandersetzung über Möglichkeiten und Grenzen von Freundschaft. Bereits im Oktober 1966 forderte Uwe Johnson, den gemeinsamen Briefwechsel nicht mehr für eine künftige Edition und Altersversorgung einzurichten sondern für Zwecke der brutalen Verständigung. Über scheinbar Alltäglichem kommt es zu prinzipiellen Betrachtungen und zuletzt zu einem Zerwürfnis.

 

 

 

 

Ein Jahr später erreicht selbst diese Verständigung ihre Grenzen – unter Hinterlassung einer Korrespondenz, bei der sich beide Partner nichts schuldig bleiben: am wenigsten den hochpointierten Dialog zweier grundverschiedener Naturen. Dabei hatte es so gut angefangen. Enzensberger interessierte sich für ein Haus in Friedenau, für sich, seine Frau Dagrun und Tochter Tanaquil: ihr hättest nichts dagegen wenn wir in eure Nachbarschaft kämen, schreibt er am 7. Oktober 1964 hilfesuchend an Johnson, der ihm bei der Suche behilflich sein sollte. Der Brief enthielt seine Spezifikationen – selbstverständlich in der von Enzensberger bevorzugten Kleinschreibung:

 

1. größe: minimum fünf zimmer, maximum bei acht oder neun zimmern, je nach größe und Verteilung der räume, ideale Verteilung: zweistöckig, mit (plus) ausbaubarer mansarde für ein gästelogis.

2. alter: ein neubau kommt nicht in betracht, je älter, desto besser, es sollte ein haus aus dem 19. jahrhundert sein.

3. lage: am liebsten friedenau … am liebsten städtischer charakter mit guten einkaufsmöglichkeiten und verkehrsverbindungen. keine hauptverkehrsstraße. ruhe ist ein vorteil.

4. ästhetische kriterien: bitte geh von den deinen aus.

5. preis: für das richtige haus würde ich viel geld bezahlen, dabei ist aber der bauzustand zu berücksichtigen; je mehr ich für die herrichtung des hauses aufwenden muß, umso weniger kann ich bar bezahlen, mehr als 60.000 mark in bar habe ich nicht, davon müßte ich bezahlen: die ‚anzahlung‘, die grunderwerbssteuer und die gebühren, die notwendigsten instandsetzungsarbeiten, die obere grenze für den gesamtaufwand läge bei etwa 120.000 mark, dh ich könnte schulden in höhe von 60.000 mark aufnehmen.

6. grundstück: je größer je besser, ein kleiner garten oder ein hinterhof mit bäumen wäre schön.

7. technische details: das wichtigste ist die heizung. zentrale ölfeuerung wäre das beste, das zweitbeste Zentralheizung mit koks. das haus sollte voll unterkellert sein, warmwasseranlage. bad. die küche kann primitiv eingerichtet, sie dürfte aber nicht zu klein sein: wir würden selber das nötige einbauen lassen, falls kein telefonanschluß vorhanden, sollte wenigstens die technische möglichkeit dazu gegeben sein, (rückfrage bei der post.) Heizung, warmwasser, küchenverhältnisse wären mit dem preis in vergleich zu setzen, je mehr davon zur hand ist, desto teurer darf das haus sein.

 

Nach langem Suchen fand Johnson das Haus in der Fregestraße Nr. 19. Da sich Uwe Johnsons zu dieser Zeit bereits in New York City befand, bat er Günter Grass, der das Haus schon einmal von innen angesehen hatte, während meiner Abwesenheit die Sache für Herrn Enzensberger wahrzunehmen. Die Enzensbergers sind im November 1966 eingezogen. Das Glück währte nicht lange. Bereits am 8. Januar 1967 teilte Dagrun Enzensberger Johnson mit, dass Hans Magnus und ich uns für einige Zeit trennen werden. So kam es, dass Uwe Johnson während seines Aufenthalts in New York seine Familienwohnung in der Stierstraße 3 an Dagrun und seine Arbeitswohnung in der Niedstraße 14 ab Mai 1966 Enzensbergers Bruder Ulrich zur Verfügung stellte. Ein Jahr später gab es die Kommune I, die letztendlich beide Wohnungen auf den Kopf stellte. Hans Magnus Enzensberger, in den 1960er Jahren das „literarische Sprachrohr einer ganzen Generation, erklärte dazu in einem Brief an Johnson vom 30. März 1967:

 

hier muß nun ich (ich will nicht: ich muß) auf eben dem beharren was ich dir vor deiner abreise nicht nur ein sondern mehrere male, nicht ohne nachdruck, gesagt habe; nämlich daß ich in dieser frage der hüter meines bruders nicht sein; keine Verantwortung übernehmen kann für die einhaltung eures Vertrages; und somit aus jeder meinungsverschiedenheit, die zwischen euch entstehen mag, ausgeschlossen bleiben möchte, das selbe gilt nun freilich (und das habe ich wohl nicht deutlich genug ausgedrückt) auch für dagrun. du weißt daß wir uns getrennt haben - diese trennung erstreckt sich auch auf unsere Verpflichtungen allen anderen leuten gegenüber; so hat dagrun sichs gewünscht; ich nahm an sie hätte dirs geschrieben; es wäre ihre Sache gewesen. im einen wie im andern fall kann ich dir nicht zustimmen wenn du sagst: ihr hättet eure Wohnungen im grunde mir zur Verfügung gestellt, als ihr sie ‚teilen meiner familie‘ überließt. ich habe allerdings versucht zu tun was in meinen möglichkeiten stand, das hat zur Zerstörung dieser möglichkeiten geführt. ich gehöre keiner kommune an, habe mit keiner kommune etwas zu schaffen. ich habe mehr als einmal von ulrich und von dagrun verlangt, sie möchten dir schreiben, ob sie es getan haben, weiß ich nicht, versprochen haben sie es. - es ist mein ernst: ich habe keinen einfluß mehr auf die beiden, ich kann für sie nicht haften, du kannst mich nicht dafür haftbar machen, was sie tun und lassen.

 

Johnson ist enttäuscht. Er hatte von Enzensberger ein Mehr an Vertrauen und Verantwortlichkeit erwartet.

 

Bebauungsplan, 1964

Fregestraße Nr. 20-22

 

 

 

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Bebauungsplan von 1964. Quelle Bezirksamt Schöneberg, 1990

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Todesanzeige Moritz Stöckel, 1910

Fregestraße Nr. 26

Moritz und Gertrud Stöckel

 

Der Verein Denk mal an Berlin bemängelte im April 2021, dass die Bauunternehmer Moritz und Siegmund Stöckel einige Häuser in der Fregestraße gebaut hatten und auch dort wohnten – aber auf dieser Webseite nicht zu finden sind. Anstoß sind wohl die Stolpersteine, die vor dem Haus Fregestraße Nr. 71 für Elise Felicitas und Siegmund Stöckel verlegt – und hier nicht gewürdigt wurden. Abgesehen davon, dass wir gegen dieses Archivieren von Geschichte sind, gibt die vom Museum Tempelhof-Schöneberg veranlasste Biografische Zusammenstellung der Kirchenrechtlerin Dr. Judith Hahn nur eine fragmentarische und auch fehlerhafte Darstellung der Stöckel’schen Familiengeschichte her.

 

Die Geschichte beginnt in Czortkow in der westlichen Ukraine, was Galizien war und zu Österreich-Ungarn gehörte. Kurz vor Geburt der Brüder Moritz Stöckel (1862-1910) und Siegmund Stöckel (1868-1939) wurde Galizien 1873 eine Autonomie unter polnischer Führung gewährt, so dass die Stöckels polnische Pässe erhielten. Mit diesen machten sie sich in den späten 1880er Jahren auf den Weg nach Berlin, um in der prosperierenden Reichshauptstadt beruflichen Aufstieg und privates Glück zu suchen. Bis sie sich schließlich mit ihren Familien in den Häusern Fregestraße Nr. 26 und Nr. 71 dauerhaft niederließen, verlief ihr Lebensweg ziemlich unterschiedlich.

 

 

 

 

Der jüngere Siegmund unterhielt vorerst eine über neun Jahre währende uneheliche Beziehung und zeugte zwei Töchter. Am 19. März 1903 heiratete er in Berlin die 31-jährige Elise Felicitas Hollaender (1872-1943). Ab 1909 lebte das Ehepaar in der Fregestraße Nr. 71. Unter dieser Adresse finden Sie einen ausführlichen Bericht zu Siegmund und Elise Felicitas Stöckel.

 

Heiratsurkunde vom 28. März 1893

Der ältere Moritz Stöckel erschien bereits am 28. März 1893 in Berlin vor dem Standesbeamten zum Zweck der Eheschließung:

 

1. der Buchhalter Moses Ber Stöckel (später Moritz Stöckel), mosaischer Religion, geboren den 31. Januar 1862 zu Czortkow in Galizien, wohnhaft zu Berlin, Brunnenstraße 26, Sohn des Kaufmanns Isaak Stöckel und seiner Ehefrau Fadil geborene Stöckel, beide wohnhaft in Czortkow,

 

2. die unverheiratete Gertrud Landsberg, ohne besonderen Beruf, der Persönlichkeit nach durch ihren Geburtsschein bekannt, mosaischer Religion, geboren am 6. Oktober 1867 in Posen, wohnhaft zu Berlin, Calvinstraße 7 Pt., Tochter des Rentiers Samuel Landsberg, und seiner verstorbenen Ehefrau Johanna geborene Kastan.

 

Korrekt sind diese Angaben nicht. Samuel Landsberg, geboren 1823 in Posen, war Sohn des Kaufmanns Jonas Landsberg und seiner Ehefrau Blume geb. Brand. Nach ihrem Tod zog er nach Berlin und ging eine zweite Ehe mit Johanna ein. 1889 wohnte die Familie im II. Stock der Saarbrücker Straße Nr. 10. Nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau zog er 1893 um: S. Landsberg, Partikulier, NW Calvinstraße Nr. 7, Parterre. Als Partikulier verfügte er über ausreichende Einkünfte aus seinem Vermögen.

 

 

 

 

 

1894 taucht das Ehepaar Stöckel mit Schwiegervater Samuel Landsberg erstmals in Friedenau unter M. Stöckel, Buchhalter, Kirchstr. 13 I. als Mieter im Haus des Bauunternehmers A. Sotscheck auf. 1895 war Moritz Stöckel schon Eigentümer des zweigeschossigen Hauses Rheinstraße Nr. 17 – beste Lage unmittelbar neben der Adler-Apotheke von Albert Hirt. Ohne Mitgift wäre der Kauf wohl nicht möglich gewesen. Der Buchhalter wurde zum Wohnungsvermittler mit Büro im II. Stock und Sprechzeiten von 1-3 und 6-8. Im Friedenauer Lokal-Anzeiger wurden Annoncen placiert: 1895 Nur Vorderwohnungen. Moselstraße Ecke Ringstraße, 3 bis 7 Zimmer, Bad, 1 Eckladen und 1 kleiner Laden mit Wohnung. Näheres bei Stöckel, Rheinstr.17. 1896 Moselstraße 6 Ecke Ringstraße zu vermiethen Laden mit Wohnung event. Gegen Portierstelle und Zuzahlung, Eckladen mit Wohnung für sauberes Geschäft. 1898 kam der Immobilienhändler: Grundstücksverkauf: Das Moselstraße 6, Ecke der Ringstraße, belegene Grundstück, dem Baumeister Herrn Stöckel gehörig, ist von Herrn Fabrikbesitzer Stresemann aus Friedenau erworben worden.

 

Todesurkunde 1896 Samuel Landsberg

Am 18. Januar 1896 zeigte Schwiegersohn und Eigenthümer Moritz Stöckel, wohnhaft zu Friedenau, Rheinstraße Nr. 17, an, dass der Privatier Samuel Landsberg, 73 Jahre, 11 Monate 2 Tage alt, mosaischer Religion, wohnhaft zu Friedenau, Rheinstraße Nr. 17, in seiner Wohnung am 18. Januar 1896 vormittags um vier drei viertel Uhr verstorben sei. Das Standesamt Friedenau meldete für die Woche vom 18. bis 24. Januar 1896 unter Sterbefälle: Der Privatier Samuel Landsberg, 73 Jahre alt. Eine Todesanzeige gab es nicht. Der Beerdigungsort ist nicht bekannt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Am 4. März 1896 beehren sich Moritz Stöckel und Frau Gertrud geb. Landsberg die glückliche Geburt eines munteren Töchterchens anzuzeigen: Johanna Caecilie (genannt Cilly). Das Standesamt Friedenau teilt am 7. März 1896 für die Woche vom 29. Februar bis 6. März 1896 unter Geburten mit: Eine Tochter, dem Eigenthümer Moses Ber Stöckel. Es folgten am 29. August 1897 Susanna Rebeka (genannt Susi) und am 30. Juli 1900 Margarete (genannt Grete).

 

 

 

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Rheinstraße, das Stöckelsche Haus neben der Adler-Apotheke

1897/98 hatten in Friedenau einige Grundstücksverkäufe stattgefunden, und es scheint, als ob der Umsatz von Grundstücken sich wieder heben will, und auch gleichzeitig eine Steigerung der Bauthätigkeit platzgreifen wird. Stöckel verkaufte sein Anwesen in der Kirchstraße für eine Summe von 235000 M., erwarb für den Preis von 35 000 das Grundstück Saarstraße 15, auf dem die alte Villa abgerissen werden soll, um einem stattlichen Neubau Platz zu machen. Außerdem kaufte er ein Villengrundstück in der Fregestraße, das demnächst mit mehreren stattlichen Wohnhäusern bebaut werden soll. Moritz Stöckel wird Bauunternehmer.

 

Mit dem Jahr 1900 änderten sich die Geschäfte. Hatte sich Moritz Stöckel mit seinem Büro in der Saarstraße Nr. 15 bisher im Umkreis der Kaisereiche betätigt, weitete er nun seine Bauunternehmungen auf das Terrain der Schöneberg-Friedenauer Terraingesellschaft aus. Laut Friedenauer Lokal-Anzeiger vom 7. Dezember 1900 haben im November im Schöneberger Ortsteil jenseits der Wannseebahn bedeutende Grundstücksverkäufe stattgefunden.

 

 

 

 

In der Menzelstraße sind sechs Grundstücke in andere Hände übergegangen. Von diesen hat Herr Bauunternehmer Stöckel zwei erworben hat und mit dem Bau von schönen Wohnhäusern beginnen lassen will. Ein anderes Grundstück ist Rohbau fertig und auf zwei weiteren ist mit dem begonnen worden. Der ganze Baublock ist vom Dürerplatz, von der Cranach-, Becker-, Menzel- und Rembrandtstraße begrenzt und wird nach Beendigung der Stöckel'schen Bauten und des Neubaus in der Cranachstraße vollständig bebaut sein. Auf dem Block stehen 31 Vorderhäuser.

 

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Private Veränderungen zeichneten sich ab. War bisher unter Saarstraße Nr. 15 als Eigentümer Baumeister Moritz Stöckel angegeben, stand fortan Rentier Moritz Stöckel – im Alter von 38 Jahren.

 

Am 28. Dezember 1901 erschien erstmals eine Annonce von Siegmund Stöckel: Zum 1. April 1902 3, 4 u. 5 Zimmer, Menzelstraße 13. Näheres daselbst oder bei S. Stöckel, Menzelstraße 33. Nicht zu klären ist, ob Siegmund Stöckel damit ein eigenes Geschäft eröffnete oder in die Unternehmungen seines Bruders Moritz einstieg.

 

1903 konnten der Rentier Moritz Stöckel, seine Ehefrau Gertrud und die Töchter Johanna Caecilie, Susanna Rebeka und Margarete in das Neun-Parteien-Haus Fregestraße Nr. 23 einziehen. Infolge Ausbaues der Fregestraße ist am 29. September 1910 allerdings eine neue Numerierung der Grundstücke notwendig geworden, so dass daraus Fregestraße Nr. 25, Nr. 26 und Nr. 27 wurde.

 

1910/11 entstand auf dem Grundstück Fregestraße Nr. 7-7A das heute unter Denkmalschutz stehende Doppel-Mietwohnhaus. Für die Ausführung nennt Topographie Friedenau, 2000 den Bauunternehmer/Architekten Wilhelm Tillack und als Bauherrn Stöckel, M. & Stöckel, S. (Baubüro). Das vier-, teilweise fünfgeschossige Wohnhaus ist ein außergewöhnliches Haus mit zwei Eingängen. Es zeigt eine ungemein lebhaft gegliederte, asymmetrische Straßenfassade, in der im unteren Bereich sogar versetzte Geschosse sichtbar werden. Die Eingänge liegen auf verschiedenen Niveaus. Die Fassade wird strukturiert durch zwei unterschiedliche Erker mit seitlichen, offenen Loggien und Balkons; die Erker werden von einem Walm- beziehungsweise einem Turmdach abgeschlossen. In der Fassadenmitte herrscht eine vertikale Gliederung durch schmale, hochrechteckige Fenster vor, die durch Bay-Window-Brüstungen in ihrer Vertikalität betont werden. Die Brüstungen zeigen kleine Medaillons als Schmuck. Ansonsten ist die Fassade glatt verputzt. Im Hochparterre fällt in der Mitte der Fassade ein vorspringender Balkon mit einem Dach auf zierlichen Holzstützen auf. Dadurch werden die verspringenden Niveaus ausgeglichen. Die beiden Hauseingänge öffnen sich in schmale, holzvertäfelte Vestibüle mit Terrazzofußboden. Das Haus Nr. 7 ist ein Ein-, Nr. 7A ein Zweispänner. Das Doppelhaus zählt zu den Meisterwerken des Reformmietshausbaus in Friedenau.

 

Am 8. Oktober 1910 erschien im Friedenauer Lokal-Anzeiger folgende Todesanzeige: Statt besonderer Meldung! Heute Nacht um 12 ½ Uhr entschlummerte sanft nach langem, schweren Leiden mein innigst geliebter Mann, unser herzensguter und fürsorglicher Vater, der beste Sohn, unser treuer Bruder, Onkel, Schwager u. Neffe Herr Moritz Stöckel im blühenden Alter von 48 Jahren. Die tieftrauernden Hinterbliebenen Frau Gertrud Stöckel geborene Landsberg, die Kinder Cilly Stöckel, Susi Stöckel, Grete Stöckel, Issak Stöckel als Vater. Friedenau, Czortkow, Berlin, den 8. Okt. 1910, Fregestraße 26. Die Beerdigung findet am Montag, den 10. Oktober, mittags 12 Uhr, von der Leichenhalle des jüd. Friedhofes in Weissensee aus statt.

 

Dazu der Friedenauer Lokal-Anzeiger am 10. Oktober 1910: Im besten Mannesalter von 48 Jahren hat der Tod einen edlen Menschen, allen Friedenauern wohl bekannt, plötzlich abgerufen. In der Nacht zum Sonnabend verstarb der Baumeister Moritz Stöckel. Zwar zehrte schon jahrelang ein böses Leiden an seinem Körper, doch seine kräftige Natur unterdrückte es immer wieder, bis nun doch der Tod Sieger wurde. Herr M. Stöckel wohnte 20 Jahre in Friedenau; er hat viele prachtvolle Mietshäuser hier erstehen lassen und erfreute sich als Baumeister, wie auch als Mensch, hoher Sympathien. Seinen Angestellten und Arbeitern war er ein guter Chef. Die Lieferanten und Handwerker, mit denen er bei seinen Bauten zusammenarbeitete, loben ihn als einen rechtschaffenen Unternehmer, der seinen Verpflichtungen ihnen gegenüber jederzeit pünktlich nach kam. Auch Wohltaten übte er verschiedentlich. So stiftete er der Gemeinde-Beamten-Vereinigung 1000 M. zur Unterstützung hilfsbedürftiger Mitglieder jener Vereinigung; ferner machte er der Gemeinde eine Stiftung von 500 M. zur Unterstützung hilfsbedürftiger Personen aus dem Gewerbe- und Arbeiterstande. Auch unserer Ferienkolonie überwies er mehrfach hohe Beträge. Er war ferner Mitglied des Haus- und Grundbesitzer-Vereins. So wird sein Scheiden vielfach herzlich betrauert werden. Die Beerdigung des trefflichen Mannes hat heute bereits stattgefunden. Er ruhe sanft!

 

Im Januar 1911 erfuhr die Gemeinde Friedenau, dass Moritz Stöckel letztwillig einen Betrag für wohltätige Zwecke hinterlassen habe. Da der Verstorbene viel Anteil an Friedenaus Entwicklung genommen habe, überweisen die Hinterbliebenen an folgende Stiftungen: 500 M zur Unterstützung hilfsbedürftiger Personen des Gewerbe- und Arbeiterstandes, 500 M zur Unterstützung hilfsbedürftiger Witwen und Waisen verstorbener Gemeindebeamten, 400 M für die Ferienkolonie, 300 M. für die Krippe des Vaterländischen Frauenvereins, 300 M für den Verein zur Bekämpfung der Tuberkulose. Die beiden ersten Stiftungen sind Erweiterungen der bestehenden Stöckel-Stiftungen.

 

Zeitnah wurde die Firma Moritz Stöckel im Handelsregister gelöscht. Eigentümerin der Anwesen Fregestraße Nr. 25 und Nr. 26 wurde 1912 Stöckel, G., vw. Baumeister, sowie von Fregestraße Nr. 27 Privatbaumeister Siegmund Stöckel. Am 11. Juni 1913 verkündete der Friedenauer Lokal-Anzeiger ein Zwangsversteigerungsergebnis: Ringstraße 16 in Gemarkung Berlin-Friedenau, niemand gehörig. Fläche 4,80 Ar. Nutzungswert 5800 M. Mit dem Gebot von 28000 M in bar und Uebernahme von 72000 M Hypotheken blieb die verwitwete Frau Gertrud Stöckel geb. Landsberg in Berlin-Friedenau, Fregestraße 26, Meistbietende.

 

Es ging Gertrud Stöckel wohl nicht schlecht, aber sie musste vorsorgen. Die 46-jährige Witwe hatte sich um drei minderjährige Töchter zu kümmern: Johanna Caecilie (17), Susanna Rebeka (16) und Margarete (13). Sie schickte die Töchter auf das Stern'sche Konservatorium, wo Johanna Caecilie auch vom Pianisten Edwin Fischer unterrichtet wurden. 1918 gab es ein Konzert mit Johanna Caecilie, wofür der Friedenauer Lokal-Anzeiger lobende Worte fand: Die Stimme der liebenswürdigen Sopranistin ist von eigenem Schmelz, glockenrein und von schöner Klangfarbe. Ihre Vortragsart ist zwanglos, gewinnend, natürlich, ausdrucksvoll. Allerliebst sang sie die Schubertlieder, aber auch für Brahms fand sie den rechten Ton.

 

1922/23 verkaufte Gertrud Stöckel das Anwesen Ringstraße Nr. 16 an den Bankdirektor M. Schönlank und das Haus Fregestraße Nr. 26 an J. Borras (Paris). Ab Mitte der 1930er Jahre sind M. Biek und L. Körner als Eigentümerinnen eingetragen. Die Mutter finanzierte damit u. a. die Ausbildung ihrer Tochter Cilly am Neuen Wiener Konservatorium. 1921 heiratete Cilly den Violinisten Béla Zukmann-Bizony (1898-1959). 1924 wurde Sohn Michael Thomas Zukmann geboren. Die Ehe wurde 1934 geschieden. Cilly emigrierte nach England und war dort als Pädagogin für Alte und Neue Musik an der Guildhall School London tätig. Sie starb am 3. Dezember 1987 in London. Margaret Stöckel heiratete den Kaufmann Max Blank und flüchtete mit ihm 1939 über England in die USA. Margret starb am 28. März 1999 in San Diego.

 

Gertrud und Susanna Rebeka Stöckel blieben bis 1936 in der Fregestraße Nr. 26 als Mieter wohnen. Danach zogen sie in die Stübbenstraße Nr. 1 im Bayerischen Viertel. Am 4. August 1942 wurden sie nach Theresienstadt gebracht. Gertrud starb am 16. August 1942. Susanna Rebeka wurde am 29. März 1943 ermordet.

 

Gertrud und Susanna Rebeka Stöckel haben mehr als vier Jahrzehnte in Friedenau gelebt. Hier war ihre Heimat, hier hatten sie Freunde und Bindungen, die Modistin Toporski, den Friseur für Damen Rothe, die Schneiderin Kettner, den Bäcker Grimm, den Zahnarzt Dr. Dallmann, den Colonialwarenhändler, den Schlächtermeister, den Schuhmacher, den Kohlenhändler, auch die Rheinschloss-Lichtspiele. Nur weil für die Aktionisten der letzte vom Opfer frei gewählte Wohnort zählt (was galt in jenen Jahren überhaupt als frei gewählt?), wurden am 19. Dezember 2014 vor dem Haus Stübbenstraße Nr. 1 Stolpersteine für Gertrud und Susanna Rebeka Stöckel verlegt. Das ist abstrus.

 

Fregestraße Nr. 51

Otto Ring & Co.

SYNDETIKON ... klebt, leimt, kittet alles

 

 

 

 

 

 

Im Berliner Adressbuch von 1879 taucht erstmals der Eintrag Ring, Otto, Inh. e. Fbrk. chemisch-technischer Spezialitäten, Bülowstraße Nr. 71. Firma Otto Ring & Co. auf. Ein Jahr später verlegte die Firma ihre Produktion in die Blumenthalstraße Nr. 18. Durch Auskochen von allerlei Fischtheilen, Eingeweiden, Schwimmblasen etc. wurde ein dickflüssiger Klebstoff zusammengebraut – mit penetrantem Gestank. Nichtsdestotrotz gelang es der Firma, die von uns im Jahre 1880 zur Bezeichnung unseres flüssigen Leims geschaffene Wortmarke beim Kaiserlichen Patentamt Berlin unter Nr. 36438 eintragen zu lassen: Flüssiger Fischleim SYNDETIKON. Bestes Bindemittel. Der erste deutsche Alleskleber. Werbeslogan: SYNDETIKON klebt, leimt und kittet alles.

 

Mit seinem Fischleim und seiner konsequent durchgeführten Reklamestrategie gelang dem Unternehmer der Durchbruch, Dennoch sah er sich gezwungen, einen neuen Produktionsstandort aufzutun. Friedenau hatte ursprünglich wohl nicht die Absicht gehabt, der Industrie seine Tore zu öffnen. Als in der Nähe des Wannseebahnhofs aber mehrstöckige Wohnhäuser dicht beieinander errichtet wurden, kamen auch industrielle Ansiedelungen: Optische Anstalt C. P. Goerz, Carl Bambergs Werkstätten für Präzisions-Mechanik und Optik, Schraubstollen-Fabrik Gebr. Dähne, die Luxus-Papier-Fabrik Kistenmacher, Schulz & Co.

 

Otto Ring entschied sich für die Fregestraße, die Mitte der 1890er Jahre noch weitgehend unbebaut war. Er wurde Eigentümer des Grundstücks Fregestraße Nr. 51. Im Friedenauer Adressbuch von 1897 ist eingetragen: Otto Ring & Co. Fischleimfabrik. Es fügte sich, dass Otto Ring die Bekanntschaft mit Studenten der Unterrichtsanstalt am Königlichen Kunstgewerbe-Museum zu Berlin machte: Georg Belwe (1878-1954), Fritz Helmuth Ehmcke (1878-1965) und Friedrich Wilhelm Kleukens (1878-1956) hatten am 16. Oktober 1900 in der Fichtestraße 59 (heute Lepsiusstraße 23) die Steglitzer Werkstatt gegründet, die nun Aufträge für eine der ersten klassischen Werbeagenturen suchten. Otto Ring griff zu. Es entwickelte sich eine rege Zusammenarbeit. Fritz Helmuth Ehmcke erinnerte sich später: Herrn Rings große Bestellungen auf Rundschreiben, Bilderbogen, Schachtelausstattungen und allerlei Geschäftspapieren, die zumeist in Massen hergestellt wurden, waren willkommenes Futter für unsere Druckmaschinen. Die Agentur gestaltete und druckte fast alle Akzidentien von Otto Ring & Co. Später kamen die Grafiker August Hajduk (1880-nach 1918) und Fernand Schultz-Wettel (1872–1957) sowie die in der Handjerystraße lebenden Illustratoren Johann Bahr (1859-1930) und Franz Albert Jüttner (1865-1926) mit humorvollen Bildergeschichten hinzu.

 

Dann kam Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem (1854-1941). Die Boulevardautorin des Kaiserreichs veröffentlichte 1894 die Geschichten der Komtesse Käthe, darin die Humoreske SYNDETIKON. Wochenlang hatte ein ungeliebter Verehrer der Komtesse den Hof gemacht. Mit List hatte sie den aufdringlichen Mann auf einen Sessel gelockt, den sie zuvor mit SYNDETIKON präpariert hatte. Während der geleimte Liebhaber festsaß, konnte sich Käthe ungestört mit ihrem wahren Liebhaber verlustieren. Ein Novum in der Literatur. Zum ersten Mal war ein Markenprodukt zum Titel eines literarischen Werkes geworden. Mehrfach legte die Autorin ihren Figuren sogar den Werbeslogan SYNDETIKON klebt, leimt, kittet alles in den Mund. Eine bessere Werbung hätte sich Otto Ring kaum wünschen können. Dabei nahm er in Kauf, dass in der Humoreske immer wieder über den penetranten Geruch des Allesklebers gelästert wurde.

 

Für den Journalisten Christoph Joseph Clemens, der 1896 über Das gewerbliche Leben im Kreis Teltow schrieb, war klar: Wer sich in der Haushaltung daran gewöhnt hat, bei vorkommenden kleinen Arbeiten und nicht zu großen Unfällen an Möbeln und Geschirr mit diesem Bindemittel helfend einzugreifen, wird trotz vieler bereits erworbenen Erfahrungen immer wieder darüber erstaunt sein, zu welch neuen und überraschenden Leistungen dasselbe zu verwenden ist. Stets fertig zum Gebrauch und in ungebrauchtem Zustande dem Austrocknen kaum zugänglich, übt es als Leim seine Klebkraft in kürzester Zeit aus, bleibt aber lange genug insoweit flüssig, wie zum genauen Aneinanderpassen der zusammenzufügenden Teile erforderlich ist.

 

Die Firma Otto Ring & Co. ließ wissen, dass die von uns im Jahre 1880 zur Bezeichnung unseres flüssigen Leims geschaffene Wortmarke SYNDETIKON am 6. März 1899 unter Nr. 36438 vom Kaiserlichen Patentamt Berlin zur Eintragung in die Zeichenrolle gebracht worden ist. Missbrauch unserer Wortmarke SYNDETIKON ist verboten. Der Werbeslogan SYNDETIKON ...klebt, leimt, kittet alles wurde über Jahrzehnte beibehalten. Die Steglitzer Werkstatt entwickelte ab 1903 Bildmarken mit Werbemotiven. Diese drei mal fünf Zentimeter kleinen Reklame-Briefmarken waren teilweise gezähnt und verfügten über eine Gummierung – der Weg zum Sammelalbum. Als die große Zeit der Reklamemarke nach dem Weltkrieg vorbei war, verlegte sich Ring in den zwanziger Jahren auf Zeitungsannoncen und lustige Bilderserien.

 

Bemerkenswert ist, dass Otto Ring im Adressbuch ab 1925 mit Wohnadresse Potsdam und als Eigentümer des Anwesens Fregestraße Nr. 51 mit der Firma Otto Ring & Co. Syndetikon eingetragen ist. Dort erscheint allerdings als Prokurist in den folgenden Jahren ein Dr. phil. A. Ritzenfeld. 1932 entdeckte der Apotheker August Fischer einen Klebstoff auf Kunstharz-Basis. Der Siegeszug von UHU begann. Mit dem Tod von Otto Ring im Jahr 1937 gerieten SYNDETIKON und sein Geruch in Vergessenheit – die Werbebilder aus der Steglitzer Werkstatt allerdings auch.

 

Friedenauer Brücke

 

Bekannt wird die Ecke an der Grenze zwischen den Gemarkungen Friedenau, Schöneberg und Steglitz durch Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938). Im Jahr 1913 ist er in die Körnerstraße Nr. 45 gezogen. Von seinem Atelier hat er den Blick auf Friedenauer Brücke, Wannsee- und Stammbahn sowie die Brandmauern der zu Friedenau gehörenden Häuser Saarstraße Nr. 11 und Nr. 12. Dieses Motiv hielt er in Varianten fest.

 

Entstanden sind Blick aus dem Fenster, eine Variante ohne Züge, Die Eisenbahnüberführung, wo sich unter der Brücke zwei Dampfzüge begegnen, der schlichte Vorortzug von Berlin nach Wannsee und der elegante Bankierszug von Potsdam nach Berlin. Weniger bekannt sind die Handzeichnung Eisenbahnüberführung (Stiftung Stadtmuseum) und der Holzschnitt Überführungsbrücke der Wannseebahn. Ortsgeschichtlich interessant ist das Ölgemälde Straßenbahn und Eisenbahn (Museums Behnhaus Drägerhaus Lübeck), mit Vorort- und Fernzug unter und Straßenbahn auf der Brücke.

 

Die Saarstraße endete ursprünglich als Sackgasse vor den Bahntrassen. Jenseits davon schritt die Bebauung voran. Die Neu-Friedenauer forderten einen kürzeren Weg zu Station und Zentrum von Friedenau. Diese Verbindung wird 1900 als Saarbrücke eröffnet. 1905 wird die Straßenbahnlinie Nr. 60 von Weißensee nach Schöneberg über Hauptstraße, Rheinstraße, Saarstraße und Friedenauer Brücke zur Beckerstraße eingerichtet.

 

Mit dem Ausbau der Bundesallee in den 1960er Jahren und dem Zubringer Saarstraße zur Westtangente wird die Friedenauer Brücke verbreitert. Das Eckhaus Fregestraße Nr. 56 und Saarstraße Nr. 12 wird abgerissen. Zu beiden Seiten der Brücke entstehen sowohl an der Saarstraße als auch an der Rembrandtstraße Treppenhäuser hinunter zur Autobahn als Zugänge für die 1969 eingerichtete Haltestellenbucht Friedenauer Brücke der Buslinie A 84. Mit Wiederinbetriebnahme von Wannseebahn und S-Bahnhof Friedenau wird die Linie 1985 eingestellt. 2010/11 werden die überflüssigen Zugänge abgebrochen.

 

Fregestraße 56, Plan von 1957

Fregestraße Nr. 56

 

 

In Vorbereitung

Fregestraße Nr. 57. Entwurf Max Nagel 1889. Archiv Turnerschaft Berlin

Fregestraße Nr. 57

Von der Villa zum Studentenwohnheim

 

Im Adressbuch sind die Grundstücke Fregestraße Nr. 55 bis 59 bis 1889 als Baustellen ausgewiesen. Am 11. Januar 1889 stellen Grundstückseigentümer und Bauherr Friedrich Haselwander aus Berlin, Michaelkirchplatz Nr. 23, und der Unternehmer, Baumeister Max Nagel, ansässig am Friedrich-Wilhelm-Platz in Friedenau, beim Schöneberger Amtsvorsteher Bürgermeister Johann Adolph Albert Friedrich Feurig den Antrag zum Bau des Wohnhauses Fregestraße Nr. 57. Die beiden Nachbargrundstücke haben bereits Eigentümer, Nr. 56 (Peterson) und Nr. 58 (Schmidt), sind aber noch unbebaut.

 

Haselwander ist seit 1868 Eigentümer der Chenillen- und Posamentierfabrik in der Neuen Friedrichstraße Nr. 33. Das erworbene Grundstück grenzt nach Osten unmittelbar an die Trasse der Potsdam-Magdeburger-Eisenbahn und (seit den 1960er Jahren als Eckgrundstück) an die Saarstraße. Die Größe beträgt 33,5 x 42,30m (1417 qm) zzgl. Vorgarten 32,5 x 6,0 (198 qm). Davon durften 2/3 der Fläche bebaut werden (814 qm). Am 1.2.1889 stellt die Baupolizei Schöneberg den Bauerlaubnisschein Nr. 92 aus. Baubeginn ist der 13.2.1889. Der Rohbauschein wird am 7.8.1889 ausgestellt, der Gebrauchsabnahmeschein ist mit dem 6.3. 1890 datiert.

 

Max Nagel hat sich (nach den geradezu trostlosen Erfahrungen mit dem Putzbau vergangener Jahre) für die Ausführung in Ziegelrohbau entschieden. Das Dach ist allerdings nicht mehr mit seinen geliebten Siegersdorfer Falzziegeln, sondern in Schieferdeckung nach deutscher Art ausgeführt. Berücksichtigt hat er auch die Berliner Gewohnheit, alle erforderlichen Räume in einem einzigen Stockwerk zu vereinen: Im Erdgeschoss (Hochparterre) bzw. Erster Stock (Obergeschoss) Bad, WC, Speisekammer, Spülküche, Küche, 3 Schlafräume, 3 Stuben und ein großer Salon mit vorgebautem Erker zur Westseite. Dieser Grundriss wird auch für den Keller (Souterrain) beibehalten – mit anderen Nutzungen: 5 Kellerräume, Waschküche sowie Wohnung mit Küche für den Portier. Ein Ausbau des Dachgeschosses ist nicht vorgesehen. Das Gebäude erhält zwei in gesonderten Räumen befindliche (feuerfeste) Treppen.

 

 

 

Friedenau, 11. Januar 1889

An den Amtsvorsteher Herrn Bürgermeister Feurig Ritter pp. Hochwohlgeboren, Schöneberg

Den Amtsvorsteher von Schöneberg bitten wir ergebenst, die Erlaubnis zur Erbauung eines Wohnhauses gnädigst erteilen zu wollen. Dasselbe soll nach Maßgabe der anliegenden Zeichnung auf dem, Herrn Fabrikanten F. Haselwander in Berlin gehörigen, in Schöneberg an der Frege-Straße belegenen und auf dem ebenfalls anliegenden Situationsplane mit den Buchstaben a b c d e umschriebenen Grundstücke errichtet werden. Die Grundstücksnummer werden wir sofort beibringen, sobald mir dieselbe bekannt gegeben worden ist.

Der Besitzer F. Haselwander, Fabrikant; Der Unternehmer Max Nagel, Baumeister, Friedenau

***

Max Nagel, Architect, Friedenau, den 13. Februar 1889, Friedrich-Wilhelm-Platz

An den Amtsvorsteher Herrn Bürgermeister Feurig Hochwohlgeboren, Schöneberg

In Erfolg der Bestimmungen des dem Fabrikanten F. Haselwander in Berlin erteilten Bauconsenses vom 1. Februar I Nr. I 1232 Nr. 92 des Bauregisters I 88/89, teile ich ergebenst mit, dass mit dem Bau des Hauses sogleich begonnen werden soll. In Betreff der Grundstückslinie (muss) Herr Geometer Gallauch in Berlin- (?) um gefällige Festsetzung gebeten werden. Hochachtungsvoll ergebenst Max Nagel

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Friedenau, den 15.  Juni 1889

An den Amtsvorsteher Herrn Bürgermeister Feurig Hochwohlgeboren, Schöneberg

Unter Bezugnahme auf den Bauconsens vom 1. Februar unter I Nr. I 1232 und Nr. 92 der Bauregisternummer I 88/89, teile ich ganz ergebenst mit, dass der in der Fregestraße belegene Bau für den Fabrikanten Herrn F. Haselwander in Berlin, Michaelkirchplatz Nr.23, soweit befördert worden ist, dass die Hochbau-Abnahme stattfinden kann. Ich bitte herzlich, einen Termin für diese Abnahme demnächst bestimmen zu wollen. Max Nagel

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Max Nagel, Architect, Friedenau, den 10. Juli 1889, Friedrich-Wilhelm-Platz

An den Amtsvorsteher Herrn Bürgermeister Feurig, Schöeneberg

In Erfolg der geehrten Mitteilung vom 29. (?), welche am 6. Juli in mein Haus gelangt ist, I Nr. I 7632, bitte ich herzlich, ganz ergebenst, für die Abnahme des Haselwanderschen Hausbaus demnächst einen Termin anberaumen zu wollen. Hochachtungsvoll ergebenst Max Nagel

***

Max Nagel, Architect, Friedenau, den 27. Januar 1890, Friedrich-Wilhelm-Platz

An den Amtsvorsteher Herrn Bürgermeister Feurig Hochwohlgeboren, Schöneberg

In Erfolg der bestehenden Bestimmungen teile ich hiermit ganz gehorsamst mit, dass das Wohnhaus des Herrn Fabrikanten F. Haselwander, an der Fregestraße 57 belegen, nach den Bestimmungen des Bauconsenses vom 1. Februar 1889, IN I 1232 und Nr. 92 des Bauregisters I 88/89, fertig gestellt ist und bitte ich um geneigte Erteilung des Gebrauchs-Abnahme-Scheins. Hochachtungsvoll ergebenst Max Nagel

 

 

Fregestraße 57, Project zu einem Wohnhaus. Archiv Turnerschaft Berlin
Friedenauer Lokal-Anzeiger 1901 und 1906

Am 1. April 1890 bezieht Friedrich Haselwander mit Ehefrau Marie geb. Ahlmann das Hochparterre. Das Obergeschoss ist stets, aber kaum dauerhaft vermietet worden. 1891 kommen die ersten Mieter: Hauptkommissar Wulfert, Kaufmann Meyer (1892/96), Geheimer Ober-Baurat Zastrau (1897/99), Major Nieber, Schumacher Runge (1900). So geht es bis 1943 munter weiter: Kaufmann Schrape, Ingenieur Seelemann, Bankier Müller (1908/09), Verlagsbuchhändler Dr. Tetzlaff 1910/12), Regierungsrat Schmiedel (1913/18), Witwe Louise von Sanden geb. Zitzewitz mit zwei Kindern (1919/23), Kaufmann Lüttge (1925/26), Kaufmann Berendsen (1927/34), Witwe Rau (1928/32), Dipl.-Ing. Fries (1936), Ministerialrat F. Bamer (1937), Dr. Ing. Wieder (1938/43).

Vom Wechsel ist auch die Portierstelle betroffen. Schon zum 1. Juli 1901 suchte Haselwander ein kinderloses Ehepaar, von welchem die Frau die Portierstelle übernimmt – gegen freie Wohnung. 1906 ist es wieder einmal so weit: Kinderlose Leute finden zum 1. Oktober leichte Portierstelle gegen freie Wohnung (2 Stuben und Küche) im Hause Fregestraße 57.

 

 

Bereits im Jahr 1901 firmiert die nun in Berlin S, Inselstraße Nr. 10, III. ansässige Firma unter F. Haselwander Nachfolger, Inhaber Paul Schmidt. Haselwander selbst wird im Adressbuch unter Fregestraße Nr. 57 als Hauseigentümer und Rentier aufgeführt. Am 23. März 1895 taucht sein Name in der Wahlmännerliste von Schöneberg auf – ohne weitere Konsequenzen.

 

Mitteilung vom 31. Juli 1919. Archiv Turnerschaft Berlin

Am 5. Mai 1905 verschied nach längerem, schwerem Leiden im 70. Lebensjahr Ehefrau Marie. Beerdigt wurde sie auf dem alten Schöneberger Kirchhof an der Hauptstraße. Im Namen der Hinterbliebenen werden in der von Fritz Haselwander unterzeichneten Traueranzeige nur unsere gute Schwägerin und Tante aufgeführt. Die Ehe der Haselwanders war kinderlos geblieben.

 

1911 zieht in die Villa seine Schwester Ww. Therese Beyer geb. Haselwander. Friedrich Haselwander  stirbt am 20. März 1917 und findet seine letzte Ruhe ebenfalls auf dem Schöneberger Kirchhof. Therese Beyer wird Erbin. Am 19. Juni 1919 geht das Anwesen an Oberingenieur Artur Schmidt und Ehefrau Anna geb. Rennert über. Artur Schmidt ist möglicherweise der Sohn von Paul Schmidt, Inhaber der Chenillenfabrik F. Haselwander Nachfolger. 1928 ist er als Ingenieur und Direktor des Technischen Büros bei der Siemens & Halske AG tätig.

 

Mit ihm, dessen Eigentümerschaft bis 1943 recherchiert werden kann, kommen die ersten größeren Veränderungen am Haus: Balkonanbau auf der Ostseite sowie Anlage eines Müllhäuschens“ (1930), Einbau einer Etagenheizung (1931) und Bau einer Garage nebst Tor und Einfahrtstor (1935) nach Plänen des Architekten Harry Kreich (Sieglindestraße Nr. 1). Nach dem Weltkrieg wird das Anwesen vom Berliner Frauenbund 1945 e.V. genutzt. 1963 ist die Erbengemeinschaft Frau Schmidt und Söhne in Herleshausen als Eigentümer genannt.

 

Am 5. Mai 1905 verschied nach längerem, schwerem Leiden im 70. Lebensjahr Ehefrau Marie. Beerdigt wurde sie auf dem alten Schöneberger Kirchhof an der Hauptstraße. Im Namen der Hinterbliebenen werden in der von Fritz Haselwander unterzeichneten Traueranzeige nur unsere gute Schwägerin und Tante aufgeführt. Die Ehe der Haselwanders war kinderlos geblieben.

 

1911 zieht in die Villa seine Schwester Ww. Therese Beyer geb. Haselwander. Friedrich Haselwander  stirbt am 20. März 1917 und findet seine letzte Ruhe ebenfalls auf dem Schöneberger Kirchhof. Therese Beyer wird Erbin. Am 19. Juni 1919 geht das Anwesen an Oberingenieur Artur Schmidt und Ehefrau Anna geb. Rennert über. Artur Schmidt ist möglicherweise der Sohn von Paul Schmidt, Inhaber der Chenillenfabrik F. Haselwander Nachfolger. 1928 ist er als Ingenieur und Direktor des Technischen Büros bei der Siemens & Halske AG tätig.

 

Mit ihm, dessen Eigentümerschaft bis 1943 recherchiert werden kann, kommen die ersten größeren Veränderungen am Haus: Balkonanbau auf der Ostseite sowie Anlage eines Müllhäuschens“ (1930), Einbau einer Etagenheizung (1931) und Bau einer Garage nebst Tor und Einfahrtstor (1935) nach Plänen des Architekten Harry Kreich (Sieglindestraße Nr. 1). Nach dem Weltkrieg wird das Anwesen vom Berliner Frauenbund 1945 e.V. genutzt. 1963 ist die Erbengemeinschaft Frau Schmidt und Söhne in Herleshausen als Eigentümer genannt.

 

Grundstück Berlin 41, Fregestraße 57. 13.09.1963. Archiv Turnerschaft Berlin

1963 Das Grundstück ist verkauft worden.

Der Weg zum Studentenwohnheim

 

Mit der Reaktivierung von studentischen und akademischen Verbindungen in den 1950er Jahren strebt auch die Turnerschaft Rhenania im CC ein eigenes Vereinshaus an. Es soll zugleich Studentenwohnheim sein, da die Wohnungssituation für Studenten in Berlin schon damals schwierig ist, zumal auch Quartiere für die in West-Berlin studierenden Vereinbindungsmitglieder aus der Sowjetischen Besatzungszone gebraucht wurden. So wird am 28. April 1960 der Hausverein Rhenania Berlin e.V. gegründet. Am 24. Juli 1963 wird der Kaufvertrag für das Haus Fregestraße Nr. 57 geschlossen. Der Kaufpreis von 75.000 DM wird durch 40.000 DM Hypothek, 29.000 DM Bausparkassendarlehen und 6.000 DM Eigenmittel beglichen.

 

 

Am 1. Oktober 1963 geht das Haus in das Eigentum des Hausvereins über. Fregestraße Nr. 57 ist inzwischen Eckgrundstück, da in den 1960er Jahren mit dem Ausbau der Bundesallee als Zubringer zur Westtangente das bisherige Eckgrundstück Fregestraße Nr. 56/Saarstraße Nr. 12 abgebrochen und Saarstraße sowie Friedenauer Brücke verbreitert wurden. In der Fregestraße Nr. 57 wohnen Ende 1963 allerdings noch im Souterrain ein Hausmeisterehepaar und in der ersten Etage mehrere Damen des „Berliner Frauenbunds“. Nachdem das Haus leergezogen ist, wird das ganze Ausmaß der heruntergekommenen Liegenschaft deutlich. Die Aktiven (Verbindungsmitglieder) übernehmen Maler-, Fußboden- und Elektroarbeiten, bauliche Veränderungen werden Handwerkern übertragen. Schon bald musste die dringend notwendige Sanierung (Dach, Trockenlegung der Fundamente, Sanierung Souterrain, Fassade, Sanitäranlagen, Grundstückseinfriedung, Innenausstattung, Gartenpflege usw.) durch die Aufnahme einer Hypothek finanziert werden. Mit dem Ausbau des Dachgeschosses 1972/73 sind weitere Zimmer entstanden.

 

1963 Wohnheimausbau, Bauzeichnungen. Archiv Turnerschaft Berlin

 

1995 wird aus dem Hausverein Rhenania Berlin e.V. der neue Eigentümer Hausverein Fregestraße 57 e.V. Nach dem Jahr 2000 ist eine grundlegende Sanierung und Modernisierung unumgänglich. Dazu gehören Fassade, Eingangsportal, Dachentwässerung, Abwasserleitung, Fensterverglasung, Sanitärbereich, Küchentrakt, Energieversorgung, Umstellung auf Fernwärme, Warmwasserversorgung und Neugestaltung des Gartenbereichs. Damit entstehen Kosten von 329.500 €. Das Haus ist inzwischen mit Krediten nicht mehr belastet.

 

Die Gründung der Turnerschaft Berlin geht auf das Jahr 1873 zurück. Der Bund ist heute Mitglied des 1951 gegründeten Dachverbands Coburger Convent (CC). Unter dem Wahlspruch Ehre, Freiheit, Freundschaft, Vaterland und dem Grundsatz Selbsterziehung seiner Mitglieder finden sich in den Korporationen Studenten und Alte Herren zu gelebten Freundschaften unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, verschiedener Religionszugehörigkeit und unterschiedlichster Parteizugehörigkeit zusammen. Die Farben des pflichtschlagenden Männerbundes sind rot-weiß-schwarz-weiß-rot. Grundgedanke des Hauses Fregestraße Nr 57 ist es, den Studenten der Berliner Universitäten und Hochschulen ein angemessenes Umfeld zum Studieren zu geben. Dabei wird Wert gelegt auf geselliges Zusammenleben von verschiedenen Studiengängen und Altersstufen zur Pflege des studentischer Brauchtums. Voraussetzung sind Toleranz in politischer, nationaler, konfessioneller und ethnischer Hinsicht auf der Grundlage der deutschen freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das angestrebte Netz zwischen Alt und Jung steht und fällt mit der Akzeptanz zu diesem Generationenvertrag. Das eigene Haus des gemeinnützigen Hausverein Fregestraße 57 e.V. mit 16 preiswerten Studentenzimmern, 2 Gästezimmern und diversen Gesellschaftsräumen - und die Dependance in der Fregestraße Nr. 81 für Studentinnen - fördert über den täglichen Kontakt Bundesbrüderlichkeit und Persönlichkeitsbildung.

 

***

Wir danken den Herren Peter Andrews, Dietrich Fleischer, Carl-Wilhelm Fricke, Christhard George, Tom Goeres, Hannes Höschel, Christian Lütje, Henning Mohr, Marcus Raabe, Hans-Joachim Rödiger, Burkhart Rüster, Karl-Heint Ruwisch, Jürgen Schwemmer und Jürgen Wagner für Hilfe und Material.

Fregestraße 58. Foto Hahn & Stich, 2019

Fregestraße Nr. 58

 

Es kommt nicht alle Tage, aber inzwischen immer häufiger vor, dass uns Dokumente zur Geschichte eines Hauses zur Veröffentlichung auf dieser Webseite angeboten werden. Am 17. Januar 2021 erreichte uns eine Mail, in der uns Herr Dr. Wolfgang Heckmann Unterlagen zu seinem Haus sowie Materialien zu den wahrlich tragischen Lebensumständen seines Hausvorbesitzers Herrn Dr. Freund zur Verfügung stellen würde. Einen Monat später trafen wir uns in jener Landhausvilla, die der Architekt Max Nagel 1889 geschaffen hatte. Was uns Dr. Heckmann (*1950) als Hauseigentümer präsentierte, geben wir gerne weiter. Herzlichen Dank.

 

Es geht um das Project zu einem Wohnhaus für den Herrn Th. Schmidt, Königlicher Hofopernsänger. Grundbuch von Schöneberg Band 26 Blatt J 1064. So titelte der Architekt Max Nagel am 29. Oktober 1889 seine Entwürfe zu diesem Landhaus. Details lieferte er gleich mit: Ganze Fläche: 20,00 x 42,55 = 851 qm; Vorgarten 20,00 x 6,00 = 120 qm; 731 qm. Davon darf bebaut werden: 2/3 = 487 qm. Es werden bebaut: 142,60 qm.

 

 

 

In der Topographie Schöneberg von 2018 heißt es dazu: Der zur Erbauungszeit frei stehende eingeschossige Backsteinbau mit Turm, hohem Souterrain und einem zweigeschossigen Quergiebel zum traufständigen, flach geneigten Satteldach verkörpert noch die typische Form der Bebauung aus der Frühzeit der 1871 gegründeten Landhauskolonie Friedenau. Der Rohziegelbau ist durch einen roten teppichartigen Ziegeldekor geschmückt, die Fenster an der Straßenfassade sind mit Segmentbogen im Erdgeschoss und Rundbogen im Obergeschoss abgeschlossen.

 

 

Lange hat es der Hofopernsänger Theodor Schmidt (1840-1913) in der Fregestraße nicht ausgehalten. Bereits 1893 ist Kaufmann Caspari als Eigentümer eingetragen. 1926 erwarben Sanitätsrat Dr. med. Siegfried Freund und seine Ehefrau Else Elisabeth gemeinsam von Witwe Caspari das Landhaus. Was im Nachfolgenden über die Familie Freund wiedergegeben wird, beruht auf eigenen Recherchen. Zitiert werden auch Texte der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin, die im Einzelnen bisher nicht überprüft wurden.

 

Siegfried Fred Freund kam am 27. Juli 1867 im schlesischen Pschow als Sohn der jüdischen Eltern Carl David Freund und seiner Ehefrau zur Welt. Der Bruder seiner Mutter, der Hirschberger Tuchhändler Eduard Mosler, ermöglichte ihm das Medizinstudium in Leipzig und Breslau. 1893 erhielt er die Approbation. 1894 heiratete er seine Cousine Else Elisabeth Mosler, die am 24. Juni 1875 in Hirschberg geborene Tochter von Eduard und Cäcilie Mosler. Das junge Ehepaar zog nach Berlin, wo Dr. med. Freund im II. Stock Hauptstraße Nr. 107 Ecke Mühlenstraße Nr. 19 eine Praxis als praktischer Arzt eröffnete (Sprechzeiten von 8-10 und 4-5). Am 16. September 1895 wurde Sohn Werner und am 20. Mai 1897 Tochter Stephanie geboren. Am 13. November 1897 trat die Familie aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus und wurde evangelisch getauft.

 

Von 1913 bis 1916 befand sich die Praxis in der Hauptstraße Nr. 48, unmittelbar neben dem Evangelischen Kirchhof von Alt-Schöneberg, auf dem die Eltern im Sommer 1915 ein Erbbegräbnis für ihren 19-jährigen Sohn Werner anlegten, der als Kriegsfreiwilliger den Heldentod für das Vaterland starb. Auf dem Grab eine Marmorplatte mit der Inschrift: Sein Leben flog dahin wie ein Frühlingswind, aufrecht und unverdorben, ein Knabe an Körper, im Herzen ein Kind, ist er als Mann gestorben.

 

 

Kurz zuvor war Dr. Freund Zeuge einer Familientragödie geworden, von der im Friedenauer Lokal-Anzeiger am 13. Juni 1915 berichtet wurde: Gestern Abend nahmen Hausbewohner im Hause Bennigsenstr. 9 starken Gasgeruch aus der Wohnung des Beamten Flügel wahr. Da sich auf Klingeln und Klopfen niemand meldete, riefen Hausbewohner durch den Feuermelder vor dem Restaurant Haar, Ecke Stierstraße, die Feuerwehr herbei. Diese öffnete gewaltsam die Wohnung. Es bot sich den Eintretenden ein schrecklicher Anblick dar. Im Bett lag Frau Flügel bewusstlos und hielt in den Armen ihre beiden sieben und vier Jahre alten Kinder. Die Sanitäre der Feuerwehr stellten sofort Wiederbelebungsversuche an. Inzwischen wurde auch Dr. Freund gerufen. Den vereinten Anstrengungen gelang es, die Frau ins Leben zurückzurufen. Die beiden Kinder aber waren tot. Wie sich ergab, hatten die Kinder den Tod durch Ersticken erlitten. Die Mutter hatte ihnen ein Taschentuch tief in den Mund, bis in den Hals hineingesteckt, so dass es von dem Arzt anfänglich gar nicht bemerkt worden war. Was die Frau zu der schrecklichen Tat veranlasst hat, ist nicht erklärlich, da das Familienleben ein glückliches gewesen sein soll. Man nimmt an, dass sie die Tat in einem Anfall von Geistesgestörtheit beging.

 

Von 1916 bis 1919 lebte das Ehepaar Freund mit Tochter Stephanie in Eisenach, wo der Vater ab 1. Oktober 1916 als Lazarettarzt tätig war. Im Stadt-Handbuch für Eisenach von 1917 heißt es: Dr. Freund, Siegfried, Sanitätsrat, Arzt im Wartburg-Sanatorium, Kapellenstraße 5. Offensichtlich war das privat geführte Sanatorium mit Chefarzt Dr. med. Peters und Sanitätsrat Dr. med. Freund im zweiten Weltkriegsjahr in ein Lazarett umgewandelt worden.

 

Im März 1919 kehrten die Freunds nach Berlin zurück. Sie zogen in die Wohnung Stierstraße Nr. 16. Schräg gegenüber befand sich in der ersten Etage im Haus Stierstraße Nr. 2 bis 1920 die Praxis. Ab 1921 hieß es: Sanitätsrat Dr. med. Siegfried Freund, Stierstraße 16, Sprechzeiten 8-10 und 4-5 ½ Uhr. Zwischenzeitlich gab es laut Berliner Adressbuch auch eine Praxis in der Dresdener Straße Nr. 8 in Kreuzberg.

 

Tochter Stephanie hatte den Dentisten Robert Fust geheiratet. Am 3. April 1921 wurde Sohn Gerhard Werner in der Stierstraße Nr. 16 geboren. Die Familie Fust lebte danach im niederschlesischen Glogau, wo Robert Fust Inhaber der Zahnpraxis Karl Janke Lange Straße 29/30 war.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Häuser Fregestraße Nr. 57, 58 & 59 vor 1939

 

1926 erwarben Sanitätsrat Dr. med. Siegfried Freund und seine Ehefrau Else Elisabeth gemeinsam von Witwe Caspari das Landhaus in der Fregestraße Nr. 58. Im Souterrain, dessen Räume laut Max Nagel 0,50 m unter Terrain liegen, gab es neben zwei Kellern und einer Waschküche eine Wohnung mit Küche, Kammer und Stube. Dort wohnte seit 1919 Pförtnerin Agnes Mahlkow, inoffiziell wohl auch ihr Lebensgefährte A. Schröder, der nun von den neuen Besitzern offiziell als Portier angestellt wurde. Freund forcierte einen Erweiterungsbau für eine Arztpraxis. Der Anbau erfolgte zum Nachbargrundstück Nr. 59 hin und hatte eine Breite von 6,50 m. Zwischen Haupt- und Anbau wurde eine Eingangstreppe für den Zugang zu den Wohnräumen und der Praxis angelegt. Im Anbau entstanden Warte-, Arzt- und Operationszimmer. Das von Max Nagel konzipierte Haus blieb in der räumlichen Struktur nahezu unverändert – im Erdgeschoss die Privaträume mit drei Zimmern und Küche, darüber das Dachgeschoss mit Boden, zwei Stuben und Baderaum – genehmigt am 30. September 1926 mit Bauschein Nr. 291 durch das Baupolizeiamt Schöneberg

 

Neue Töne erklangen. Mit der Reichsärzteordnung vom 1. April 1936 waren nur noch solche Ärzte zur Behandlung und Gesundheitsführung ‚deutscher‘ Menschen neu zuzulassen, die in ‚rassischer‘ Beziehung den nationalsozialistischen Anforderungen genügten. Mit dem Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938 erloschen die Approbationen jüdischer Ärzte. Mit dem Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17. August 1938 mussten Juden, sofern sie nicht einen jüdischen Vornamen trugen, der ‚im deutschen Volk als typisch angesehen wurde‘, zusätzlich den Vornamen Israel oder Sara annehmen.

 

Die Schwierigkeiten mit dem Regime wurden innerhalb der Familie deutlicher, als das Ehepaar Stephanie und Robert Fust 1936 in die Vereinigten Staaten reiste und der Ehemann allein zurückkam. Jahrzehnte später erläuterte ihr Sohn Gerhard Werner den Hintergrund: Mein Vater nutzte die neuen Gesetze, um sich von meiner Mutter zu trennen. Er überzeugte meine Mutter, dass sie aufgrund der jüdischen Abstammung ihrer Großeltern durch das Hitler-Regime gefährdet wäre und ließ sie mittellos in den USA, reichte in Deutschland die Scheidung ein und heiratete seine Sekretärin.

 

Abbazia, 1902

Siegfried Freund (71) und seine Frau (63) planten die Flucht. Else Elisabeths jüngere Schwester  Helene Mosler (1884-1943) gab ihre Wohnung in der Sponholzstraße Nr. 53-54 auf und zog, ausgestattet mit Vollmachten über Konto und Grundstück, in die Fregestraße Nr. 58. Im Sommer 1938 reiste das Ehepaar Freund nach Abbazia und mietete ein Haus, wo sie der 18-jährige Enkel 1939 noch besuchte. Der Ort war mit Bedacht gewählt. Seit 1918 gehörte er zum Königreich Italien, Triest und sein Hafen lagen nebenan. Aus Berlin kamen schlimme Nachrichten: Am 9. Dezember 1938 wurde Siegfried Freund die Kassenzulassung entzogen, am 27. November 1941 erfolgte die Ausbürgerung der Eheleute Freund und der Eintrag im Berliner Adressbuch: Eigentümer Freund, F. S. Israel, Dr. San. Rat (Ausland). V. Wieck & Meißner Verwaltung Charlottenburg, Tauentzienstraße 7. Am 29. April 1942 wurde das Vermögen beschlagnahmt. Für das Anwesen Fregestraße Nr. 58 wird nur noch die Wieck & Meißner Verwaltung genannt.

 

Das einst mondäne Seebad der Donaumonarchie wartete noch immer mit Grand Hotels, Sanatorien und Kuranstalten auf, so dass Siegfried Freund in Abbazia-Fiume wenigstens praktizieren konnte. 1943 übernahm der faschistische Satellitenstaat Republica Sociale Italiana von Salò die Kontrolle der Provinz und begann mit der Auslieferung von Juden an die Deutschen. Die Wehrmacht setzte die Aktion nach der Eroberung von Abbazia 1944 fort und brachte Juden in das von der SS betriebene Sammellager Risiera di San Sabba in Triest.

 

Hier endet die Geschichte von Siegfried Fred und Else Elisabeth Freund. Mehr ist nicht bekannt. Alle Veröffentlichungen der neueren Zeit, auch jene der Initiative Stolpersteine, gehen von Annahmen und Vermutungen aus. Nichts ist belegt, weder ihr Freitod in Abbazia noch ihr Transport nach Auschwitz. Dafür ist hier kein Platz.

 

Helene Mosler wählte am 4. März 1943 den Freitod und wurde am 15. März 1943 auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee beigesetzt.

 

Enkel Gerhard Werner Fust durfte aufgrund der Nürnberger Gesetze nicht studieren. Als Wehrunwürdiger blieb ihm die Wehrmacht erspart. 1944 wurde er von der Organisation Todt in der Normandie im Bergbau eingesetzt und schließlich von den Alliierten befreit. Er erhielt ein Einwanderungsvisum, wanderte 1946 in die USA aus und heiratete. Aus dieser Ehe stammen die Kinder Heidi, Dieter, Conrad und Steve. Gerhard Werner Fust, nun Gary Fust, starb 2012 im Alter von 91 Jahren.

 

Tochter Stephanie Fust geb. Freund heiratete nicht wieder und lebte in White City Park Lot 91, 3049 6. St. South, St. Petersburg, Florida, USA. Als Rechtsnachfolgerin ihrer Eltern Siegfried Fred und Else Elisabeth Freund bekam sie das Anwesen Fregestraße Nr. 58 zurück. Das Haus war während des Krieges beschädigt worden. Der markante Spitzturm hatte beim Einsturz weiteren Schaden angerichtet. Meine Mutter wollte dafür kein Geld ausgeben – und Sohn Gary hatte kein Geld zum Hereinstecken.

 

Kaufvertrag vom 5. November 1954

Genau gegenüber wohnte seit 1950 in der Fregestraße Nr. 23 das Ehepaar Heckmann in einer Fünf-Zimmer-Wohnung mit Offenheizung. Während Augenarzt Dr. Karl Heinz Heckmann (1915-1982) in der Neuköllner Schierker Straße Nr. 29 praktizierte, nutzte Frau Dr. Christa Heckmann (1921-1999) Wohnräume für die Praxis.

 

Am 5. November 1954 erschienen vor dem Notar Paul Schmall Frau Ida Lihs, wohnhaft Berlin-Friedenau, Ringstraße Nr. 9, handelnd als Bevollmächtigte der Frau Stephanie Elisabeth Fust geb. Freund, und die Ärztin Frau Dr. med. Christa Heckmann geb. Baumeister, Berlin-Friedenau, Fregestraße Nr. 23, und schlossen folgenden Grundstückskaufvertrag für das im Grundbuch des Amtsgerichts Berlin-Schöneberg von Friedenau, Blatt 4429, verzeichnete Grundstück Friedenau, Fregestraße Nr. 58: Das Grundstück ist bebaut. Die Straße ist angelegt. Das Grundstück wird verkauft, wie es steht und liegt und von der Käuferin besichtigt ist. Die Gewährleistung für Mängel wird ausgeschlossen. Das Grundstück ist frei von jeglicher Belastung. Der Kaufpreis beträgt 25.000,-- DM. Die Übergabe erfolgt am 1.11.1954.

 

Das im Jahr 1915 erworbene Erbbegräbnis mit dem Grab für ihren im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Werner wurde 1959 aufgegeben. Stephanie Elisabeth Fust geb. Freund starb 1992 im Alter von 91 Jahren.

 

1968 bauten Christa und Karl Heinz Heckmann um. Laut Topographie Friedenau von 2000: Es erfolgte eine Aufstockung des Anbaus von 1926 und des Altbaus bis zum Quergiebel. Anbau und Aufstockung wurden in Material und Farbe dem Altbau sorgfältig angeglichen. Nach dem Tod seiner Mutter 1999 übernahm der Sohn, Augenarzt Dr. med. Wolfgang Heckmann

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Kaufvertrag vom 5. November 1954

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Brief von Gerhard Werner Fust (Gary) vom 18. November 2011

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Am 5. September 2012 wurden vor dem Haus Fregestraße Nr. 58 Stolpersteine für Else Elisabeth Freund geb. Mosler, Dr. Siegfried Fred Freund und Helene Mosler verlegt. In Abbazia (heute Opatija) wurde 1955 ein Denkmal für die aus dem Ort vertriebenen Juden eingeweiht, darunter auf der Gedenktafel auch die Namen Siegfried Freund und Ella (Else Elisabeth) Freund.

 

Am Bahnhof Czortkow begann die Reise nach Berlin

Fregestraße Nr. 71

Siegmund und Elise Felicitas Stöckel

 

Unter Fregestraße Nr. 71 soll die Geschichte der Familie Stöckel in Friedenau und das Schicksal einzelner Familienmitglieder in Umrissen dargestellt werden. Das ist geboten, da die Initiative Stolpersteine diese kaum in einen größeren, familiären Zusammenhang bringt. Zudem gibt es dort einige falsche Angaben. Deshalb kann auch dieser Beitrag nur ein Versuch der Annäherung sein.

 

 

 

 

 

 

Die Brüder Moritz und Siegmund waren Söhne des jüdischen Kaufmanns Isaak Stöckel und seiner Frau Fradel in Czortkow im damaligen Königreich Galizien. Ihre Vornamen lauteten ursprünglich Moses Ber und Samuel Nuchem, die sie später in Moritz und Siegmund umwandelten. Sie hatten zwei Schwestern Sara und Dwora. Letztere spielt für diesen Abriss insofern eine Rolle, als dass ihr Sohn Max Blank später eine der Töchter von Moritz Stöckel heiraten sollte – also seine Cousine. Doch davon später mehr.

 

Wann genau die Brüder nach Berlin übersiedelten, ist unklar. Es wird wohl um das Jahr 1890 herum gewesen sein. Als Berufsbezeichnung für Moritz taucht damals Buchhalter auf. 1893 heiratete Moritz Stöckel Gertrud Landsberg (1867-1942), deren jüdische Familie aus Posen stammte, aber seit vielen Jahren in Berlin wohnte. Sie lebte gemeinsam mit ihrem Vater Samuel Landsberg (1822-1896) in der Calvinstraße Nr. 7. Ihre Mutter Johanna Landsberg-Kastan (1829-1889) war bereits gestorben.

 

Das Ehepaar Moritz und Gertrud Stöckel zog 1894 gemeinsam mit Gertruds Vater Samuel Landsberg nach Friedenau in die Kirchstraße Nr. 13. Ein Jahr danach erfolgte der Umzug des Dreigespanns in die Rheinstraße Nr. 17, zunächst als Mieter, kurz danach ist Moritz Stöckel bereits Eigentümer des Hauses. Mutmaßlich hatte ihm die Ehe mit Gertrud Landsberg ein finanzielles Polster beschert, denn in den Folgejahren wird aus dem Buchhalter ein Wohnungsmakler und später ein Bauunternehmer, der in Friedenau mit Grundstücken handelt und zahlreiche Mietshäuser errichten lässt.

 

Wenige Wochen nach dem Tod von Samuel Landsberg wird dem Ehepaar Moritz und Gertrud Stöckel am 4. März 1896 die erste Tochter geboren: Johanna Caecilie (1896-1987). Es folgen Susanna Rebeka (1897-1943) und Margarete (1900-1999). Die Familie des Bauunternehmers Moritz Stöckel kann sich in den Folgejahren in Friedenau hohes Ansehen erwerben, einerseits durch den wirtschaftlichen Erfolg, aber auch durch ein nachgewiesenes soziales Engagement in der Gemeinde. Als Familiensitz lässt Moritz Stöckel 1910 das Haus Fregestraße Nr. 26 errichten. Kurz nach Fertigstellung stirbt er überraschend mit 48 Jahren am 8. Oktober 1910. Er hinterlässt seine Frau Gertrud und die noch jugendlichen Töchter im Alter von 14, 13 und zehn Jahren. 1911 wird die Firma Moritz Stöckel im Handelsregister gelöscht. Witwe und Kinder sind finanziell abgesichert.

 

Nach diesem zeitlichen Vorgriff sei ein Blick auf den zweiten Stöckel-Bruder Siegmund erlaubt. Sein Weg verlief weniger geradlinig, als der seines Bruders. Sein beruflicher Werdegang seit der Ankunft in Berlin bleibt im Dunkeln. Allerdings wurde unter dramatischen Umständen kurz vor seinem Tod bekannt, dass er wohl in den 1890er Jahren eine Beziehung zu einer nicht-jüdischen Frau unterhielt. Die neunjährige Partnerschaft mit Marie Weidner blieb sein Geheimnis. Weder seine spätere Ehefrau noch die engere Familie wussten davon. Zwei uneheliche Töchter gingen aus dieser Verbindung hervor, doch nur die 1895 geborene Alma Irmgard überlebte. Siegmund Stöckel unterstützte nach dem Ende der Partnerschaft Marie Weidner und später auch Tochter Alma Irmgard finanziell und ließ den Kontakt nicht abreißen. Dass seine Tochter in den 1920er Jahren den schwedischen Antiquitätenhändler Alfred Andersson heiratete, sollte noch einmal Bedeutung erlangen.

 

1901 Annonce S. Stöckel Menzelstraße 33. 28.12.1901

Im Dezember 1900 wurde bekannt, dass im Schöneberger Ortsteil jenseits der Wannseebahn bedeutende Grundstücksverkäufe stattgefunden haben. In der Menzelstraße sind sechs Grundstücke in andere Hände übergegangen. Von diesen hat Herr Bauunternehmer M. Stöckel zwei erworben und mit dem Bau von schönen Wohnhäusern beginnen lassen will. Ein anderes Grundstück ist Rohbau fertig und auf zwei weiteren ist mit dem begonnen worden. Der ganze Baublock ist vom Dürerplatz, von der Cranach-, Becker-, Menzel- und Rembrandtstraße begrenzt und wird nach Beendigung der Stöckel'schen Bauten und des Neubaus in der Cranachstraße vollständig bebaut sein. Kurz danach offeriert das Büro von M. Stöckel für die Menzelstraße 33, 3 Min. v. Wannseebahnhof, modern ausgestattete Wohn., 4, 5, 6 u. 7 große Zim., viel Nebengel., per 1.10. zu verm. Näh. Dort u. Saarstr. 15, bei Stöckel. Am 28. Dezember 1901 tritt S. Stöckel erstmals mit einer Annonce im Friedenauer Lokal-Anzeiger auf: Zum 1. April 3, 4 u. 5 Zimmer Menzelstraße 13. Näheres daselbst oder bei S. Stöckel, Menzelstraße 33 I. Obwohl unterschiedliche Adressen angegeben wurden, muss davon ausgegangen werden, dass zu diesem frühen Zeitpunkt nach dem Motto Getrennt bewegen, zusammen handeln die Geschäfte letztendlich über das Büro von Moritz Stöckel in der Saarstraße Nr. 15 abgewickelt wurden.

 

Am 19. März 1903 heiratete Siegmund Stöckel in Berlin Elise Felicitas Hollaender (1872-1943). Der Überlieferung zufolge kam die Verbindung mit Hilfe eines professionellen Heiratsvermittlers zustande, weil die Familie befürchtete, dass die bereits 31-jährige Elise keinen Mann mehr finden würde. Die Ehe blieb kinderlos. Auffällig ist, dass Siegmund nach der Eheschließung wirtschaftlich aktiver wurde und ein eigenes Bauunternehmen gründete. Offenbar hatte Elise ein größeres Vermögen in die Verbindung eingebracht. Dass diese beträchtliche Mitgift von einer ihrer Großmütter stammte, die dafür Aktien verkauft hatte, wird zwar berichtet, lässt sich abschließend aber nicht verifizieren. Das Paar lebte zunächst in der Fregestraße Nr. 80, im Jahr 1909 ließ Siegmund Stöckel schließlich die Villa in der Fregestraße Nr. 71 errichten, die fortan als Wohnsitz diente. Ein Jahr später zog die Familie Moritz Stöckel in die Fregestraße Nr. 26. Man kann sich vorstellen, dass die Familienangehörigen untereinander regen Austausch pflegten.

 

 

Die Brüder Stöckel aus Galizien waren zwei Jahrzehnte nach ihrem Umzug nach Berlin in der Friedenauer Gesellschaft offenbar angekommen und hatten sich eine gesicherte Stellung erarbeitet. Insbesondere durch ihre Ehefrauen waren sie zudem eingebunden in einen großbürgerlichen, jüdischen Verwandtschaftskreis, der sich gegenseitig stützte. Die Fregestraße war Lebensmittelpunkt. Dort sind die Töchter von Moritz und Gertrud Stöckel in Sicherheit und in Wohlstand aufgewachsen.

 

Schaut man auf die zweite Generation, dann fällt auf, dass sich neben der wirtschaftlichen Aktivität mehr und mehr auch künstlerische und wissenschaftliche Begabungen Bahn brachen. Dreh- und Angelpunkt dafür war in der Familie wohl Siegmund Stöckels Frau Elise Felicitas geb. Hollaender. Ihre Familie stammte aus Leobschütz in Schlesien. Als letztes von 13 Kindern war sie bereits in Berlin geboren worden. Ihr Vater, der Arzt Siegmund Hollaender (1824-1888), hatte in der Oranienstraße praktiziert und starb, als Elise 16 Jahre alt war. Sie blieb bis zu ihrer Heirat bei Mutter Renette geb. Danziger (1829-1906) wohnen.

 

Die Hollaenders waren nicht nur eine weitverzweigte Familie, sie brachten auch bedeutende Mediziner und Künstler hervor. Ausgangspunkt war in Leobschütz Elises musikbegeisterter Großvater, der Königliche Kommerzienrat und Wollwarenfabrikant Benjamin Rachel (1809–1884), der 1837 mit allerhöchster Erlaubnis den Nachnamen Hollaender annahm. Von Elises Vater war bereits die Rede, ihr Onkel Ludwig Heinrich Hollaender (1833–1897) war zudem ein Pionier der Zahnheilkunde und ab 1873 Professor in Halle. Die älteren Brüder Elises wurden bedeutende Musiker und Schriftsteller: Gustav (1855-1915) als Violinist, Victor (1866-1940) als Komponist und Felix (1867-1931) als Autor und Dramaturg.

 

 

Elise Felicitas Hollaender studierte ab 1898 als 26-Jährige am Stern'schen Konservatorium das Fach Deklamation. Zu dieser Zeit war Bruder Gustav Hollaender Direktor der Einrichtung, der zweite Bruder Victor folgte 1906 als stellvertretender Direktor. Es lag nahe, dass Elise ihren Nichten Johanna Caecilie, Susanna Rebeka und Margarete den Weg in das mit der Familie so eng verbundene Konservatorium ebnete. Die drei Töchter von Schwager Moritz Stöckel erhielten auf diese Weise sehr früh eine musikalische Ausbildung. Gleichzeitig besuchte übrigens auch Victors Sohn Friedrich Hollaender (1896-1976) das Konservatorium. Der später berühmte Chanson-Komponist war ein Vetter der Stöckel-Schwestern und etwa im selben Alter. Am intensivsten verfolgte Johanna Caecilie Stöckel die musikalische Karriere. Sie studierte bis 1916/1917 am Stern’schen Konservatorium und war Schülerin des Pianisten Edwin Fischer – auch er ein Friedenauer. Ihre Mutter Gertrud ermöglichte ihr ein Studium in Genf und am Neuen Wiener Konservatorium. Als Sängerin, Cembalistin und Komponistin konnte sich Johanna Caecilie schließlich durchsetzen. In Wien lernte sie den ungarischen Violinisten Béla Zukmann-Bizony kennen. Die beiden heirateten am 8. Mai 1921. Drei Jahre später kam Sohn Michael Thomas Bizony (1924-1994) in Wien zur Welt.

 

Die Schwestern Susanna Rebeka und Margarete blieben in Berlin und wohnten weiterhin gemeinsam mit Mutter Gertrud in der Fregestraße Nr. 26. Susanna Rebeka blieb ledig. Margarete ehelichte Anfang der 1920er Jahre ihren Cousin Max Blank, Sohn ihrer Tante Dwora. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, Stefanie (1928) und Ernst (1930). Anfang der 1930er Jahre kehrte schließlich auch Johanna Caecilie Zukmann-Bizony wieder nach Berlin in die Fregestraße zurück, um in Berlin als freischaffende Künstlerin zu arbeiten. Grund der Rückkehr war offenbar die Scheidung von ihrem Mann im Jahr 1934. Sohn Michael Thomas wurde für die nächsten vier Jahre laut Überlieferung in Letzlingen (Altmark) in einem jüdischen Trainingszentrum untergebracht.

 

Mit der Rückkehr Johanna Caecilias war die Familie Stöckel beinahe vollzählig wieder in der Fregestraße vereint. Doch die Verhältnisse hatten sich grundlegend verändert, seit die Nazis 1933 die Macht übernommen hatten. Das Baugeschäft von Siegmund Stöckel wurde arisiert, die finanzielle Lage der Familie verschlechterte sich rapide. Immerhin konnte Johanna Caecilia als nicht-arisches Mitglied der Reichsmusikkammer noch als Sängerin auftreten, 1935 wurde sie jedoch ausgeschlossen, was einem faktischen Auftrittsverbot gleichkam. Am Ende war das Haus Fregestraße Nr. 26 nicht mehr zu halten. Die Familie zog 1936 zunächst in eine Wohnung in der Jenaer Straße 6, 1938 in die Stübbenstraße 1 – beide Adressen in der Nähe des Bayrischen Platzes. Siegmund Stöckel und seine Frau Elise Stöckel-Hollaender blieben zunächst in der Fregestraße Nr. 71 zurück. Zu dieser Zeit hatten Elises Bruder Victor und dessen Sohn Friedrich Hollaender Berlin bereits in Richtung USA verlassen.

 

Aus der Familie Stöckel machte schließlich Johanna Caecilia den Anfang. Sie emigrierte mit Sohn Michael Thomas 1938 nach London. Unter dem Namen Celia Bizony hat sie in den folgenden Jahrzehnten in England, den USA und Kanada als Musikerin, Hochschulprofessorin und Musikschriftstellerin Karriere gemacht. Sie starb 1987 in London. Sohn Michael Thomas Bizony trat in die Royal Navy ein und wurde Mathematiker. Er starb 1994 mit 70 Jahren. Für die in Deutschland zurückgebliebenen Familienmitglieder verschärfte sich die Situation dramatisch. Weil sie die Nazis ihrer Herkunft wegen als polnische Juden einstuften, wurden Siegmund Stöckel und Max Blank Ende 1938 nach Polen abgeschoben. Der 70-jährige Siegmund Stöckel überlebte diese Strapaze nicht und starb in Warschau am 10. Januar 1939. Max Blank gelang die Rückkehr nach Berlin und im selben Jahr mit Frau Margarete und den Kindern die Flucht nach England. Später lebte die Familie in den USA. Max Blank starb 1984 in New York, seine Frau Margarete Blank-Stöckel folgte ihm 1999 ebendort.

 

Siegmund Stöckel hatte kurz vor seinem Tod einen Abschiedsbrief an seine Ehefrau Elise Felicitas geschrieben, in dem er sie beschwor, sich an den schwedischen Staatsbürger Alfred Andersson zu wenden, der ihr helfen könne. Erst jetzt erfuhr sie, dass Andersson der Ehemann von Siegmunds unehelicher Tochter Alma Irmgard war. Elise Felicitas reagierte schnell. Bereits im Februar 1939 lud sie die ehemalige Partnerin ihres Mannes, Marie Weidner, und deren Tochter Alma Irmgard zu einem Treffen in die Fregestraße ein. Am Ende stand eine notariell beglaubigte Schenkung des Grundstücks Fregestraße Nr. 71 an Alma Irmgard Andersson vom 23. Februar 1939.

 

Im Berliner Adressbuch von 1940 ist das Haus Fregestraße Nr. 71 als unbewohnt eingetragen. 1941 heißt es Eigentümer Kaufmann A. Andersson. Elise Felicitas Stöckel zog in die Wohnung ihrer Schwägerin Gertrud Stöckel geb. Landsberg und deren Tochter Susanna Rebeka in die Stübbenstraße Nr. 1. Am 4. August 1942 wurden Gertrud und Susanna Rebeka Stöckel nach Theresienstadt deportiert. Dort wurde Gertrud Stöckel am 16. August 1942 und Susanna Rebeka Stöckel 29. März 1943 ermordet. Elise Felicitas Stöckel wurde am 11. August 1942 zuerst nach Theresienstadt und am 18. Dezember 1943 weiter nach Auschwitz deportiert und dort ermordet

 

Fregestraße Nr. 80

Theodor und Elly Heuss

 

Wollt Ihr als Eheleute einander lieben und ehren und die Ehe nach Gottes Gebot und Verheißung führen, in guten und in bösen Tagen, bis der Tod Euch scheidet? Die Frage von Pfarrer Albert Schweitzer zum Treueversprechen beantworteten Theodor Heuss (1884-1963) und Elly Knapp (1881-1952) am 11. April 1908 mit „Ja“. Danach waren die beiden 44 Jahre zusammen, bis sich Elly Heuss-Knapp am 19. Juli 1952 in der Universitätsklinik Bonn für immer verabschiedete. Ihr Ehemann hatte breitgefächert studiert, Ökonomie, Literatur, Geschichte, Philosophie, Kunstgeschichte, Staatswissenschaften, und promovierte 1905 in München über Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn am Neckar. Danach übernahm er als Doktor der Staatswissenschaften in Berlin die Redaktion der von Friedrich Naumann gegründeten Zeitschrift Die Hilfe.

 

Am 5. August 1910 wurde im Königsweg 8, III. Stock, (heute Naumannstraße) Sohn Ernst Ludwig (Lulu) geboren. Da Vater Heuss 1912 Chefredakteur der Neckarzeitung wurde, zog die Familie nach Heilbronn. Sein Interesse an Architektur und Design und die sich abzeichnenden Veränderungen müssen wohl dazu geführt haben, dass sich Theodor Heuss 1918 entschloss, in Berlin die Geschäftsführung des Deutschen Werkbundes zu übernehmen.

 

Bereits im Dezember 1917 besichtigten Elly und Theodor Heuss die Wohnung in der Fregestraße 80: Erster Stock, sechs Zimmer, Warmwasserversorgung und Heizung, kein Gegenüber, Bäume vor dem Haus, freier Blick auf das Rathaus Friedenau und davor ein kleiner Markt (zweimal in der Woche), hinten hinaus ein sehr weiter Hof mit etwas Rasen und Büschen. Sehr sonnig. Warmwasser sogar im Schlafzimmer, elektrisches Licht etc., vorn Balkon an meinem Stübchen (das jetzt aber eine gute Stube wird) und einer hinten am Lulu-Schlafzimmer.“ Im März 1918 war „die Wohnung frei, wir können alles herrichten und einziehen.

 

Zwölf von 44 Ehejahren lebten sie dort – mit guten und bösen Tagen. Sohn Ernst Ludwig besuchte ab 1919 das Schöneberger Helmholtz-Realgymnasium in der Rubensstraße und anschließend das Friedenauer Reformrealgymnasium in der Schwalbacher Straße. Vater Theodor war in die vom Journalisten Theodor Wolff initiierte sozialliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) eingetreten und stellte sich am 23. Februar 1919 im Bezirk Schöneberger Vorstadt zur Wahl. Nach der SPD mit 8.696 Stimmen wurde die DDP mit 6.560 Stimmen zweitstärkste Fraktion und Heuss Stadtverordneter in Schöneberg.

 

Es müssen turbulente Jahre gewesen sein. Arthur Johnson (1874-1954), der Karikaturist der Zeitschrift Kladdaradatsch, hat diese Zeit 1929 auf einem grotesk-überzeichneten Wandfresko im Ratskeller Schöneberg festgehalten. Während sich im Saal der Bezirksverordnetenversammlung die Experten“ von Bau- und Kunstdeputation im politischen Tagesgeschäft befehden, feiern sie im Ratskeller ihre jeweiligen Erfolge. Das Spruchband am unteren Bildrand trifft den Kern: Hart für das Wohl der Gemeinde befehden sich oben die Geister. Unten versöhnt sie des Weins Frieden gebietender Geist. Johnson verewigte die wichtigsten Akteure: Stadtbaurat Heinrich Lassen (1864-1953), der das Rathaus realisierte und den Turmbau für den Maler Hans Baluschek (1870-1935) in den Ceciliengärten besorgte, Kunsthistoriker Max Osborn (1870-1946) und last but not least der Stadtverordnete Theodor Heuss.

 

 

Ratskeller Schöneberg. Sechster von links Theodor Heuss. Fresko Arthur Johnson, 1929

 

 

Schon 1920 beklagte Frau Elly, dass das Leben hier in den letzten sechs Wochen um ein Drittel teurer geworden ist ... Wir gehen mit dem Gedanken des Zimmervermietens um, wenn nicht eine neue Einnahmequelle sich öffnet“. Ein halbes Jahr vor der Reichstagswahl schreibt sie am 29.11.1923: „Der Gedanke der Nachbarschaftshilfe wird jetzt in jedes Haus gebracht, in den Mieterversammlungen, wo seither nur über Kohlenbeschaffung und Müllabfuhr geredet wurde, wird sie organisiert. Unser Nachbarhaus hier erhält ein altes Ehepaar vollständig durch freiwilliges Abgeben von Essen.

 

Die Inflation erreichte ihren Höhepunkt und die beiden Reichstagswahlen am 4. Mai bzw. 7. Dezember 1924 enden mit erheblichen Stimmengewinnen der Rechten und schweren Niederlagen von Linken und Liberalen. Von den 472 Sitzen entfallen auf die DDP nur 28 bzw. 32 Sitze, darunter immerhin einer für den Wahlkreis 31 (Württemberg) und Theodor Heuss. Nach einer weiteren Wahlschlappe der DDP am 20. Mai 1928 und dem Verlust seines Abgeordnetenmandats plädierte auch Heuss für eine Konzentration der politischen Mitte und stimmte für die Reichstagswahlen am 14. September 1930 bzw. 31. Juli 1932 dem Zusammenschluss von Volksnationaler Reichsvereinigung (VNR) und DDP zur Deutschen Staatspartei (DStP) zu. Theodor Heuss war wieder Reichstagsabgeordneter – bis zur Wahl am 6. November 1932, bei der die DStP nur 2 Sitze erreichte und Heuss nicht wiedergewählt wurde.

 

Für die Reichstagswahl am 5. März 1933, gut fünf Wochen nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, der letzten Wahl, an der mehr als eine Partei teilnahm, trat Theodor Heuss für die DStP auf Basis des sogenannten Reichswahlvorschlags seines Wahlkreises Württemberg an – und wurde gewählt. Am 23. März stimmte Heuss mit seiner Partei dem vom Kabinett Hitler eingebrachten Ermächtigungsgesetz zu. Ein Fehler. Allerdings hätte sein Nein wohl kaum die nationalsozialistische Diktatur verhindern können.

 

Es kam noch schlimmer: Aufgrund der von der NSDAP-Fraktion durchgesetzten Verordnung zur Sicherung der Staatsführung wurde sämtlichen Abgeordneten der SPD und DStP am 7. Juli 1933 das Reichstagsmandat aberkannt. Mit Schreiben vom 12. Juli 1933 wurde er vom Reichstagsdirektor aufgefordert, seine Ausweiskarte als Mitglied des Reichstags, der Freifahrkarten für Eisenbahn und Kraftposten sowie der noch in Ihren Händen befindlichen Schrankschlüssel zurückzugeben.

 

Heuss verlor seine Dozentenstelle an der Deutschen Hochschule für Politik. Seine Publikation Hitlers Weg – Eine historisch-politische Studie über den Nationalsozialismus (Union Verlag Stuttgart 1932) befand sich auf den Listen der Bücherverbrennung. Obwohl mitunter behauptet wird, Heuss erhielt Publikationsverbot, erschienen 1937 Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit (Deutsche Verlagsanstalt), 1939 Hans Poelzig. Bauten und Entwürfe. Das Lebensbild eines deutschen Baumeisters (Wasmuth), 1940 Anton Dohrn in Neapel (Atlantis-Verlag) und 1942 Justus von Liebig. Vom Genius der Forschung (Hoffmann und Campe).

 

 

Bis 1933 kannte das Ehepaar Heuss keine finanziellen Sorgen. 1931 hatten sie die Wohnung in der Fregestraße 80 aufgegeben und das Haus Kamillenstraße 3 in Lichterfelde gemietet (das 1968 wegen Verbreiterung der Straße Unter den Eichen abgerissen wurde). Sohn Ernst Ludwig war „aus dem Haus“ und studierte an den Universitäten Berlin, Heidelberg und Bonn Rechts- und Staatswissenschaften. Nun aber fehlte das Geld. Schließlich hatte sie ihrem Theodor doch einst geschworen, „in guten und in bösen Tagen“ an seiner Seite zu stehen.

 

Ellys Vetter Hermann Geiger, Besitzer der Wybert-Gaba-Werke in Basel, erinnerte sich an das Jahr 1919 und ihren Wahlslogan, Frauen, werbt und wählt! Jede Stimme zählt! Jede Stimme wiegt! Frauenwille siegt!, und fragte an, ob sie etwas für das Image seiner Hustenpastillen tun könnte. Naja, eine Hebung des Niveaus ist es ja nicht, aber sie konnte. Die Frauenrechtlerin wurde Werbetexterin: Ob‘s windet, regnet oder schneit, Wybert schützt vor Heiserkeit. Oder für Nivea: Im Sommer hocken wir nimmer im Haus, da lockt uns die Sonne hinaus.

 

Ihr Markenzeichen: Sie erfand für die Produktnamen eingängige Melodien und ließ diese singen. Für einen Nivea-Werbespot fragte sie 1935 die Beiersdorf AG: Darf die Familie schwäbeln? Sie durfte. Und so sind heute nicht nur die großen Reden des späteren Bundespräsidenten dokumentiert, sondern auch sein gemütliches Schwäbisch im Nivea-Werbespot. Als Goebbels 1936 Werbung im Rundfunk verbot, stieg sie aufs Kino um. Es entstanden 1938 der blau-weiße Schattenrissfilm für Nivea und vor allem der Reklame-Rumba-Film La Cajita Azul, dessen Refrain Crema dí dia – Nivea. Crema de noche – Nivea in Südamerika zu einem populären Schlager wurde.

 

Elly Heuss-Knapp hat der deutschen Funk- und Filmwerbung ein Gesicht gegeben. Und sie hat die Familie damit in schwierigen Zeiten über die Runden gebracht. Wollt Ihr als Eheleute einander lieben und ehren und die Ehe nach Gottes Gebot und Verheißung führen, in guten und in bösen Tagen, bis der Tod Euch scheidet? Ja.

 

Fregestraße 81. Foto Hahn & Stich, 2021

Fregestraße Nr. 81

Dora Lux (1882-1959)

 

Vor einiger Zeit machte uns der in Friedenau lebende Publizist Dr. Christian G. Pätzold www.kuhlewampe.net auf eine interessante Friedenauerin aufmerksam: Dr. Dora Lux wohnte von 1915 bis 1945 in der Fregestraße Nr. 81. Der Hinweis ist leider untergegangen. Nun, nachdem wir Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux von Hilde Schramm zur Kenntnis genommen haben, ist das bedauerlich. In diesem Buch begegnen sich zwei Frauen, deren Lebensgeschichte nicht gegensätzlicher hätte sein können.

 

Hilde Schramm ist die Tochter von Albert Speer, dem Architekten und Rüstungsminister Hitlers, die auf dem Obersalzberg lebte und nichts entbehrte. Dora Lux stammte aus einer jüdischen Familie, wurde 1909 eine der ersten Gymnasiallehrerinnen Deutschlands und 1933 als Studienrätin aus dem Schuldienst entlassen.

 

 

Beide begegneten sich 1953 an der Elisabeth-von-Thadden-Schule in Heidelberg, wo Dr. Dora Lux Geschichte unterrichtete. Über fünfzig Jahre später veröffentlichte Hilde Schramm 2012 im Rowohlt Verlag unter dem Titel Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux ihre Nachforschungen über die Lebensgeschichte ihrer Lehrerin in der Zeit von 1882 bis 1959. In einer Einführung gibt die Autorin einen ausführlichen Bericht über ihre Recherchen, die wir hier auszugsweise veröffentlichen.

 

Dr. Dora Lux war von 1953 bis zum Abitur 1955 meine Geschichtslehrerin in der Elisabeth-von-Thadden-Schule in Heidelberg-Wieblingen, also nur die letzten anderthalb Jahre vor dem Abitur 1955. Sie war eine bereits alte, gebrechliche Frau, das Gehen fiel ihr schwer, und sie konnte nur noch leise sprechen. Wenn ich später an sie dachte, schätzte ich sie rückblickend auf über achtzig Jahre. Tatsächlich war sie zur Zeit meines Abiturs erst zweiundsiebzig Jahre alt. Sie machte nicht viel von sich her, wirkte klein und unscheinbar, wäre da nicht ihr Kopf gewesen mit den vollen Lippen und der kräftigen Nase und den schwer zu bändigenden Haaren, die ihn auffallend groß erscheinen ließen.

 

Frau Dr. Lux war Jüdin der Herkunft nach. Sie hatte vier jüdische Großeltern, definierte sich aber nicht als Jüdin, da sie der jüdischen Religionsgemeinschaft nicht angehörte. Für mich aber, die solche Differenzierungen damals noch nicht kannte, war sie die erste deutsche Jüdin, die ich bewusst wahrnahm – wenige Jahre nach der Shoa eine aufwühlende Erfahrung. Ich empfinde es als großes Glück, ihr in meiner Jugend begegnet zu sein. Sie war für mich die Einzige, die meine uneingeschränkte Wertschätzung und Sympathie hatte und behielt. ...

 

Die Vorstellung, auch sie hätte ermordet werden können, trieb mich um. Wenn sich durch mein späteres Leben das Bemühen zieht, zur Bearbeitung der NS-Vergangenheit beizutragen, so lässt sich dies zum Teil mit meiner Familienbiographie erklären. Mein Vater ist Albert Speer; er war Hitlers Architekt, von 1942 bis Kriegsende Minister für Bewaffnung und Munition; im Nürnberger Prozess wurde er als Kriegsverbrecher verurteilt. Meine Herkunft zwang mir eine frühe und nicht abschließbare Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf. Für meine Selbstfindung war jedoch der Einfluss von Menschen entscheidend, die eine Gegenwelt zur NS-Ideologie verkörperten; Menschen, die mir eine Ahnung davon vermittelten, wie befreiend Humanität und Aufklärung sein können.

 

Eine solche Erfahrung verdanke ich meiner Lehrerin Frau Dr. Lux. Das Andenken an meine Lehrerin begleitete mich über die Jahre. Phasenweise führte ich innere Monologe mit ihr, so als ich 1966 als Referendarin selbst zu unterrichten begann und ab 1972 Lehrer und Lehrerinnen ausbildete. Ich versuchte, mir klarzumachen, was mir an ihrem Unterricht und ihrem Verhalten so vorbildlich erschienen war, obwohl sie auf alle gängigen Methoden der Motivierung verzichtete. … Es war keine historische Neugier, die mich veranlasste, über sie zu recherchieren und zu schreiben, sondern Zuneigung und Respekt und der Wunsch, die Gründe für meine Wertschätzung ihrer Person besser zu verstehen. …

 

Dora Bieber machte 1901 in Berlin Abitur, als in Preußen noch keine höhere Mädchenschule junge Frauen zur Reifeprüfung führte, promovierte 1906 in München als zweite Altphilologin, wurde mit Sondergenehmigung in Baden zum Staatsexamen zugelassen und schloss 1909 in Preußen als eine der allerersten Frauen in Deutschland eine schulpraktische Ausbildung als Gymnasiallehrerin ab. Damit erwarb sie die Berechtigung, die Fächer Latein, Griechisch und Geschichte zu unterrichten. Gegen erhebliche Widerstände innerhalb und außerhalb der Universitäten hatte sie ihr Recht auf Bildung und Ausübung eines akademischen Berufs als Frau durchgesetzt.

 

Woher nahm sie ihre Sicherheit? Wie hatte ihre Umgebung auf sie eingewirkt? Wer hatte sie gestützt? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, ging ich den Einflüssen von Personen nach, mit deren Hilfe sich Dora Bieber um 1900 zur zielstrebigen, unkonventionellen jungen Frau entwickeln konnte. Ich stieß dabei auf ihren Vater Georg Bieber, einen gescheiterten Rittergutsbesitzer, der den eigenen unerfüllten Wunsch nach Aufstieg über Bildung an seine Töchter delegierte, nachdem sich abzeichnete, dass sein ältester Sohn, der ein schlechter Schüler war, dafür ausfiel. Und ich stieß auf ihren Onkel Justizrat Dr. Richard Bieber und seine Frau Hanna Bieber-Böhm, die in der bürgerlichen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts eine führende Rolle spielte … Und ich stieß auf den vielseitigen Dr. Heinrich Lux, den Freund in ihrer Jugend und späteren Ehemann, Naturwissenschaftler, sozialistischen Publizisten, Freimaurer und Patentanwalt.

 

Als ich ihre verschiedenen Lebensphasen überblickte, kam ich zu der Überzeugung, dass Dora Lux insbesondere in der Weimarer Republik in Berlin ein schönes und reiches Leben geführt hatte, mit Beruf, Mann und zwei Töchtern, eingebunden in den größeren Zusammenhalt der Familie Bieber, einer Familie jüdischer Herkunft. Sie liebte es, zu reisen und hochalpine Bergtouren zu machen. Die Großfamilie Bieber/Lux stützte ihren Wunsch nach Emanzipation von der tradierten Frauenrolle und festigte ihre Zugehörigkeit zur kleinen, fortschrittlichen Minderheit im Bürgertum. Als Studienrätin bereitete sie zunächst Frauen in privaten Gymnasialkursen auf das Abitur vor, ab 1922 unterrichtete sie im Lette-Verein, einer angesehenen beruflichen Ausbildungsstätte für Frauen, unter anderem Gewerbelehrerinnen. Da das Zölibatsgebot für Lehrerinnen nachwirkte, gab es in der Weimarer Republik nur ganz wenige verheiratete Studienrätinnen wie Dora Lux, unter ihnen fast keine mit Kindern, während andere Akademikerinnen, etwa Ärztinnen, bereits leichter Beruf und Familie miteinander verbinden konnten.

 

Gleich im April 1933 wurde Frau Lux aus rassischen Gründen aus dem Schuldienst entlassen, aber auch jede andere Erwerbsmöglichkeit blieb ihr bis zur Befreiung vom Faschismus verwehrt und jede gesellschaftliche Funktion verboten. Umso überraschter war ich, als ich in der Staatsbibliothek in Berlin die Zeitschrift Ethische Kultur sichtete – ich recherchierte gerade über ihren Onkel Richard Bieber – und dabei ganz unerwartet auf Dora Lux stieß. Dabei entdeckte ich, dass sie 1933 als Redakteurin für den Inhalt der Zeitschrift verantwortlich zeichnete und in ihr bis 1935/1936 regimekritische Beiträge veröffentlichte. Zwar hatte ich bereits aus ihrem Unterricht den Eindruck gewonnen, dass sich hinter der sanften und klugen Frau eine entschiedene Demokratin verbarg, aber dass sie ihre demokratischen Werthaltungen öffentlich äußerte, als fast alle anderen schwiegen, hatte ich nicht erwartet. Regimekritische Artikel nach 1933 sind an sich schon bemerkenswert, weil höchst rar – geschrieben von einer Jüdin mit Berufsverbot halte ich diese für sensationell ...

 

Die historisch interessanteste Entdeckung zum Leben von Dora Lux aber war für mich, dass sie den Zwang, sich als Jüdin registrieren zu lassen, erfolgreich unterlief. Als die amtliche Erfassung aller Menschen jüdischer Herkunft ab 1938/1939 forciert wurde, entschied sie sich bewusst für eine außergewöhnliche Form der Resistenz gegenüber der Staatsmacht, die bislang weder in wissenschaftlichen Untersuchungen zum Nationalsozialismus noch in lebensgeschichtlichen Berichten beschrieben wurde: Entgegen der gesetzlichen Vorschriften beantragte sie keine Judenkennkarte und nahm den Vornamen Sara, über den alle Jüdinnen jederzeit identifizierbar sein sollten, nicht an. Zusätzlich machte sie bei der Volksbefragung 1939 falsche Angaben. Ähnlich verhielt sich ihr Bruder Dr. jur. Friedrich Bieber. Sich von den Nationalsozialisten als Jüdin abstempeln und stigmatisieren zu lassen, war mit ihrem Selbstbild und ihrer Selbstachtung nicht vereinbar. Die antijüdischen Gesetze missachtend, lebte sie weiterhin in ihrer vertrauten Umgebung, ohne sich zu verstecken, ohne in den Untergrund zu gehen und ohne falsche Papiere.

 

In der Außenwahrnehmung war Frau Lux bis zum Tod ihres Mannes im Sommer 1944 durch eine sogenannte privilegierte Mischehe geschützt. In Wahrheit aber schwebte die Gefahr, dass ihre Nichtachtung der antijüdischen Gesetze bemerkt würde, ständig über ihr. Wäre bekannt geworden, dass sie die Registrierung als Jüdin verweigert hatte, so hätte sie nicht überlebt. Auch ihre Töchter gaben sich nicht als Mischlinge ersten Grades zu erkennen, auch sie waren verschwiegen und couragiert und kamen damit durch. Im März 1945 verließ Dora Lux aus Angst, doch noch deportiert zu werden, Berlin und lebte in den nächsten Monaten als Jüdin unentdeckt in der Nähe des Bodensees.

 

Ab Herbst 1945 arbeitete sie in Heidelberg: zwei Jahre als Dozentin in den Vorsemesterkursen der dortigen Universität und neun Jahre als Studienrätin in der Elisabeth-von-Thadden-Schule. Die Menschen, die mit ihr zusammenkamen, beeindruckte sie durch ihre umfassende Bildung und überragende Klugheit, ihre Gelassenheit und Bescheidenheit und nicht zuletzt durch ihren verhaltenen Humor. Sie starb 1959 in Hamburg in der Nähe ihrer Tochter Eva Tietze.

 

Dr. Dora Lux ist bislang eine völlig unbekannte Frau. Sie wird in keiner Studie zur Frauenbildung oder zum Nationalsozialismus erwähnt. Abgesehen von ihrer Ausbildungszeit habe ich ihren Namen in keinem Archiv gefunden. Ihre zeithistorische und menschliche Bedeutung liegt darin, dass sie immer wieder die Grenzen des scheinbar Möglichen überschritt. Ihr, die ich als meine Lehrerin kennenlernen durfte, möchte ich ein ehrendes Gedenken geben, ohne sie auf eine NS-Verfolgte oder ihre jüdische Herkunft zu reduzieren ... Als Lehrerin blieb sie für mich Frau Dr. Lux. Hilde Schramm, 2012

 

***

 

Interview von Oliver Das Gupta mit Hilde Schramm

Süddeutsche Zeitung, 2. April 2012

 

SZ: Frau Schramm, Sie haben ein Buch über Ihre Lehrerin Dora Lux geschrieben. Was macht diese Frau so bemerkenswert?

Hilde Schramm: Mich hat als Schülerin ihre Art beeindruckt: Sie war klug und immer sachlich, sie brüllte nicht, stellte nicht bloß. Ihr Verhalten war im besten Sinne demokratisch - und das in den fünfziger Jahren, wo noch ein anderer, ein autoritärer Ton herrschte.

SZ: Dora Lux war Jüdin, Sie die Tochter eines NS-Verbrechers. Wie sind Sie miteinander umgegangen?

Schramm: Das Verhältnis war gut, aber unsere Herkunft haben wir nicht thematisiert. Anfang der fünfziger Jahre redete man einfach nicht offen über das, was vor 1945 war.

SZ: Aber jede wusste vom Hintergrund der anderen?

Schramm: Das schon. Doch sie hat mich nie auf meinen Vater angesprochen. Umgekehrt erzählte sie zwar von sich, aber nicht von ihren jüdischen Wurzeln. Allerdings erwähnte sie einmal, dass sie unter den Nationalsozialisten ihre Arbeit verloren hat. Daraus schloss ich, dass sie Jüdin ist.

SZ: Sie standen, als sie Frau Lux kennenlernten, kurz vor dem Abitur und wussten, was Ihr Vater getan hat.

Schramm: Sie war der erste jüdische Mensch, den ich bewusst kennengelernt habe. Das hat mich bewegt und regte mich zum Denken an.

SZ: Damals war die Erinnerung der Deutschen an zwei verlorene Weltkriege noch frisch, die NS-Diktatur und ihre Jahrhundertverbrechen lagen nur ein paar Jahre zurück. Wie vermittelte da eine Frau mit jüdischem Hintergrund jüngere Geschichte?

Schramm: Sachlich und klug. Sie verfolgte Problemlinien über die Jahrhunderte hinweg. So lernte ich, bei Ereignissen nach ihrem historischen Kontext zu fragen. Bei zwischenstaatlichen und innergesellschaftlichen Konflikten brachte sie die Argumente beider Seiten ein. Daraus lernte ich, einfachen Lösungen zu misstrauen. Und sie erwähnte immer wieder Dinge aus ihrer eigenen Vita.

SZ: Aber nicht aus der NS-Zeit, oder?

Schramm: Nein, sondern davor. So zum Beispiel, dass ihr Mann als Sozialist unter dem Reichskanzler Otto von Bismarck im Gefängnis war.

SZ: Das ist tatsächlich ziemlich lange her. Kaiser Wilhelm II. drängte Bismarck 1890 zum Rücktritt.

Schramm: Genau das faszinierte mich: wie weit ihre Fäden in die Vergangenheit zurückreichten. Später dachte ich: Das kann nicht stimmen, diese "Geschichte" muss ich mir anlässlich der Behandlung der Sozialistengesetze und einer zufällig zeitgleichen Erwähnung ihres Mannes zusammengereimt haben. Inzwischen weiß ich: Heinrich Lux, geboren 1863, mithin fast zwanzig Jahre älter als sie, war 1887 Hauptangeklagter im sogenannten Breslauer Sozialistenprozess und saß fast zwei Jahre im Gefängnis.

SZ: Dora Lux, geborene Bieber, war eine progressive, emanzipierte Frau - und eine der ersten Akademikerinnen Deutschlands.

Schramm: Vor 110 Jahren, an Ostern 1901, legte sie gemeinsam mit ihrer Schwester das Abitur ab - die beiden zählen zu den ersten 50 Frauen, die die allgemeine Hochschulreife in Deutschland erlangten.

SZ: Durfte sie als Frau danach studieren?

Schramm: So einfach ging das nicht. An der Berliner Universität war sie nur als Gasthörerin geduldet. Sie wechselte deshalb bald nach Heidelberg und dann nach München, dort waren Frauen seit kurzem zur Immatrikulation zugelassen. 1906 promovierte sie in München in Altphilologie.

SZ: Damals herrschte in Berlin noch ein Kaiser, in München der Prinzregent, auch in gehobenen Familien wurden die Töchter nur auf die Rolle der Ehefrau und Mutter vorbereitet. Wie war es möglich, dass ausgerechnet Dora Lux eine wissenschaftliche Ausbildung machen konnte?

Schramm: Das lag an ihrer übrigens nicht gerade reichen Familie und vor allem an ihrem Vater Georg Bieber. Der war Autodidakt, bot Sprachkurse an und hatte auch Kontakt zu Frauenrechtlerinnen. Früh förderte er seine Töchter und ließ ihnen Freiheiten, die damals sehr unüblich waren. Dora Lux wurde eine der allerersten Studienrätinnen, ihre Schwester Ärztin. Beide waren voll berufstätig, trotz Ehemann und zwei Kindern.

SZ: War die Familie Bieber religiös?

Schramm: Nein, das wohl nicht. Aber der familiäre Zusammenhalt in der Familie war groß. Georg Bieber hatte sich und seine Familie, also auch seine Tochter Dora, übrigens taufen lassen, um eine Beamtenstelle im preußischen Staatsdienst zu erhalten. Aber das habe ich erst durch meine Nachforschungen herausbekommen. Damals, als Schülerin, hätte ich Frau Lux gerne so vieles gefragt, aber es war eben undenkbar.

SZ: Wie hat sie das NS-Regime überlebt?

Schramm: Ihr Verhalten fällt aus dem Rahmen des bisher Bekannten: Sie verlor zwar ihre Stelle nach der Machtergreifung Hitlers 1933, aber wurde später nicht belangt, selbst als im Krieg die Deportationen begannen. Das lag wohl daran, dass weder Dora Lux noch ihr Bruder der gesetzlichen Anweisung nachgekommen waren, sich bei der polizeilichen Meldebehörde als Juden registrieren zu lassen. Sie unterliefen den Zwang, sich eine mit J gestempelte Kennkarte ausstellen zu lassen und führten den Zwangsvornamen Sara, bzw. Israel nicht. Das verlangte Verhalten widersprach offensichtlich ihrer Selbstachtung und ihrem Verständnis von Würde. Sie wollte sich nicht auf ihre jüdische Herkunft reduzieren lassen.

SZ: Und dieser Akt des zivilen Ungehorsams funktionierte einfach so?

Schramm: Es war wohl auch Glück dabei. Ihre Entscheidung war sehr riskant. Aber Dora Lux konnte durch die Maschen schlüpfen, weil offensichtlich bei den entscheidenden Stellen keine Unterlagen über ihre jüdische Herkunft vorlagen. Sie lebte einfach ihr Leben weiter. Mit Sicherheit wäre sie erwischt worden, wenn die Behörden schon so gut vernetzt gewesen wären wie heute. Dann hätte sie wohl kaum überlebt. Ihre Freunde und Bekannten wussten um ihre jüdische Herkunft, aber glaubten offensichtlich, sie sei durch eine "privilegierte Mischehe" geschützt, wie die Nazis Verbindungen zwischen "Ariern" und "Nichtariern" nannten.

SZ: Betätigte sich Lux im Widerstand?

Schramm: Nur indirekt, als Autorin der Zeitschrift Ethische Kultur in den Anfangsjahren der Diktatur. In mehr als 30 Beiträgen verteidigte sie freiheitliche Grundwerte wie die Pressefreiheit und ehrte jüdischstämmige Deutsche wie Felix Mendelssohn. Das ist für eine Jüdin mit Berufsverbot schon sehr außergewöhnlich.

SZ: Zurück in die fünfziger Jahre. Sprachen Sie im Unterricht auch über Tagespolitik?

Schramm: Ja, aber es war nicht so, dass sie uns eine Sicht aufzwingen wollte. Im Gegenteil: Sie beeindruckte durch die Unabhängigkeit ihres Denkens und Verhaltens. Sie erzeugte Irritationen und weckte Skepsis gegenüber dem gesellschaftlichen Selbstverständnis im Nachkriegsdeutschland.

SZ: Damals regierte ein liberal-konservatives Bündnis unter Konrad Adenauer, der auch die nachfolgenden Wahlen gewann.

Schramm: Frau Lux muss gesagt haben, dass ihr die Positionen der verschiedenen Parteien ungefähr gleich falsch erschienen und sie eigentlich keine wählen könne.

SZ: War sie Kommunistin?

Schramm: Das fragte ich mich damals auch. Von der heutigen Warte aus betrachtet würde ich sagen: Sie war linksliberal.