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Beschluß der Gemeinde-Vertretung zu Friedenau am 21. Januar 104

 

In dankbarer Anerkennung des unermüdlichen Fleißes, der Tatkraft und der selbstlosen Hingabe mit der Herr Professor Büsing als Schöffe und Gemeinde-Verordneter für die Gemeine Friedenau so viele Jahre hindurch tätig gewesen ist und um das Andenken an seine für die Entwickelung des Ortes so bedeutungsvolle Tätigkeit auch der ferneren Zukunft zu erhalten, beschließt die Gemeinde-Vertretung anläßlich des 70. Geburtstages des Herrn Büsing, den Herrn Amtsvorsteher zu ersuchen, eine der zunächst zum Ausbau gelangenden neuen Straße den Namen „Büsing-Straße“ zu verleihen.

 

Dieser Beschluß soll Herrn Professor Büsing an seinem 70. Geburtstage durch eine Abordnung bestehend aus dem Gemeinde-Vorstande und den Herren Gemeinde-Verordneten Homuth, Hendrich, Schultz und Kunow unter Ueberreichung einer urkundlichen Ausfertigung mitgeteilt und ihm zugleich der aufrichtigste Glückwunsch der Gemeinde-Vertretung ausgesprochen werden.

 

Dazu kam es nicht mehr. Zwei Wochen zuvor ist Friedrich Wilhelm Büsing am 25. Februar 1904 in seinem Landhaus in der Niedstraße Nr. 14 verstorben. Wenige Tage später erfolgte auf dem Friedhof an der Stubenrauchstraße die Beerdigung. Im Adressbuch von 1907 wird die zwischen Born- und Odenwaldstraße verlaufende Büsingstraße erstmals verzeichnet erwähnt – mit zwei bereits bezogenen Neubauten und einigen Baustellen.

 

 

 

 

 

Das Wirken von Friedrich Wilhelm Büsing (1834-1904) zum Wohl der Gemeinde Friedenau würdigte die Deutsche Bauzeitung in einem Nachruf: Friedrich Wilhelm Büsing kommt bei der Lösung der Entwässerungsfrage der Gemeinden Friedenau, Wilmersdorf und Schöneberg das Hauptverdienst zu. Unermüdlich ist er für ein gemeinsames Vorgehen der drei Gemeinden tätig gewesen. Als Vorsitzender des gemeinschaftlichen Ausschusses hat er alle auf technischem Gebiete erforderlichen Vorverhandlungen geleitet. Die Grundsätze und Vorbedingungen sowie die technischen Grundlagen beruhen vorwiegend auf den Vorschlägen Büsings. Ebenso hat er sich besondere Verdienste bei der Frage der Reinigung der Abwässer der drei Gemeinden sowie bei Auswahl und Ankauf der Rieselfelder erworben. Schließlich ist es auch sein Verdienst, dass zwischen Schöneberg und Friedenau ein Vertrag zustande kam, nach welchem die erstere Gemeinde die Abwässer Friedenaus mit abführt und so ohne eigenen Nachteil dem wirtschaftlich schwächeren und kleineren Nachbar eine Lösung ermöglicht, die technisch günstig ist und deren Lasten erträglich sind.

 

Friedrich Wilhelm Büsing wurde am 9. März 1834 in Wiedensahl geboren, ein Flecken im Schaumburger Land, der als Geburtsort von Wilhelm Busch (1832-1908) bekannt ist. Kaum 14 Jahre alt, verlor er 1848 gleichzeitig beide Eltern an der Cholera. Der Bürgerschule folgte eine Ausbildung zum Feldvermesser und 1858 die Beschäftigung bei der Bauinspektion Bremervörde als Chaussee- und Brückenbauer. Von 1862 bis 1866 studierte er an der Polytechnischen Schule in Hannover bei dem Architekturlehrer Conrad Wilhelm Hase (1818-1902). Um die Voraussetzungen für die Aufnahme in den Staatsdienst zu erreichen, legte er 1866 an der Realschule in Hannover das Abitur ab. Ab 1867 war er Lehrer für Formenlehre, Architekturzeichnen und niedere Mathematik an der Baugewerkschule in Nienburg und Assistent für praktische und darstellende Geometrie mit Instrumentenlehre an der Polytechnischen Schule Hannover. Nach der Bauführer-Prüfung wurde er ab 1869 bei der Staatsbahn in Hannover und beim Ausbau des Marinehafens in Wilhelmshaven eingesetzt. Dort wurde der Architekt und Verleger Wilhelm Böckmann (1832-1902) auf ihn aufmerksam. 1873 holte er Büsing als Redakteur an die Deutsche Bauzeitung in Berlin.

 

Als James Hobrecht (1825-1902) mit den Arbeiten an der Berliner Kanalisation begann und seine Vorlesungen an der Bauakademie einstellte, empfahl er Büsing zu seinem Nachfolger, dem 1876 der Lehrauftrag über Bauten aus dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege, speziell Wasserversorgung und .Städtereinigung erteilt wurde. Büsing hatte frühzeitig erkannt, dass den wirtschaftlich erstarkenden und sich rasch ausdehnenden Stadtgemeinden aus dem Zwange erwachsen mußten, für die dicht zusammengedrängte Bevölkerung gesunde Lebensbedingungen zu schaffen. Die hygienische Seite des Städtebaues, die Versorgung mit Trinkwasser und die Abführung des Abwassers wurden sein Spezialgebiet.

 

 

Friedrich Wilhelm Büsing, 1903

Friedrich Wilhelm Büsing zog 1886 nach Friedenau, bis 1891 Saarstraße Nr. 28, dann 1892 Kirchstraße Nr. 24 und ab 1900 als Eigentümer des Landhauses in der Niedstraße Nr. 14. Kaum war er in Friedenau, sorgte Gemeindevorsteher Georg Roenneberg (1834-1895) dafür, dass der Fachmann 1988 in die Gemeindevertretung gewählt wurde. Die Probleme waren enorm. Die Gründer von Friedenau hatten an eine Landhauskolonie im Grünen, aber nicht an Wasserversorgung und Entwässerung gedacht. Das Wasser kam aus privaten Brunnen der jeweiligen Grundstücksbesitzer, das Abwasser wurde in den Schwarzen Graben geleitet, einem Bach, über den ursprünglich das Fenn zwischen Friedenau, Wilmersdorf und Schöneberg entwässert wurde, in den aber inzwischen mehr und mehr Abwasser geleitet wurde. Mit dem Umbau der Berliner Stadtentwässerung wurde der Schwarze Graben zugeschüttet. Obendrein wurde den Gemeinden Friedenau, Schöneberg und Wilmersdorf bewusst, dass ihr Kanalisationsvertrag mit Charlottenburg 1905 abläuft. Die Gemeinden mussten eine Lösung finden.

 

Büsing wies darauf hin, daß eine gedeihliche Verwaltung der Vororte bei deren Größe und fortdauernd rapid immer mehr anwachsenden Bevölkerungszahl nach der Landgemeindeordnung nicht mehr möglich sei. In einer Petition an das Preußische Abgeordnetenhaus kritisierte er, dass in den 20 Jahren seit dem Bestehen von Friedenau die Gemeinde schon vier verschiedene Bauordnungen erlebt hat. Straßennetz, Wasserversorgung und Entwässerung seien seit 1871 an für das ganze nur 140 ha. umfassende Gemeindegebiet nach einheitlichem Plane, also auch für einheitliche Bebauungsweise geschaffen worden. Inzwischen sei die Bevölkerung des Ortes bis 1895 auf 7500 Seelen angewachsen, und dabei zeige sich, dass Landhäuser überhaupt gar nicht mehr gebaut wurden, ja leider sogar die bestehenden Landhäuser immer mehr verschwänden und an deren Stelle größere Mietshäuser entständen.

 

In seiner Denkschrift über die Entwässerung der westlichen Vororte Berlins stellte Büsing die Frage, ob die drei Gemeinden das Problem einzeln oder gemeinsam lösen möchten. Wilmersdorf tendierte nach Charlottenburg, Schöneberg dagegen nicht. Friedenau könnte sich vielleicht an Wilmersdorf anschließen; es sei jedoch vorteilhafter für Friedenau mit Schöneberg Gemeinschaft zu machen. Die Kosten zerfielen in drei Teile: die Kanäle in den Straßen, die Vorflut-Kanäle für Regenüberfälle oder Notauslässe und die Reinigung über Rieselfelder oder Klärstationen.

 

Unermüdlich plädierte er für ein gemeinsames Vorgehen der drei Gemeinden. Als dann ein gemeinsamer Ausschuss eingesetzt wurde, und er den Vorsitz übernommen hatte, leitete er alle technischen Vorverhandlungen. Er drängte auf Verhandlungen mit Berlin, Charlottenburg und Wilmersdorf wegen Durchführung des Regenwasserkanals, Verabredungen mit den Gemeinden über die Lage des 25 Kilometer langen Druckrohrs, die Anlage der Vorflut zu Notte hin, die Schaffung eines Grabennetzes für die Rieselfelder durch Geometersachverständige, Klärung der Gemeinden Schöneberg, Friedenau und Wilmersdorf in Bezug auf die Bewirtschaftung der Rieselfelder. Schließlich war es auch Büsings Verdienst, dass zwischen Schöneberg und Friedenau ein Vertrag zustande kam, nach dem seit 1904 die Abwässer Friedenaus in die Schöneberger Kanalisation geleitet werden. Als dann auch noch die Charlottenburger Wasserwerke ihr Rohrnetz über Friedenau ausdehnten, war die Zukunft einigermaßen gesichert. Mit seiner Veröffentlichung Die Stadtreinigung hat Büsing 1897 ein umfassendes und gründliches Buch vorgelegt. Noch heute zählt ihn die Fachwelt zu den Hydraulicians in Europe 1800-2000.

 

Auf der Sitzung der Gemeindevertretung am 16. Februar 1905 konnte Bürgermeister Schnackenburg mitteilen, dass die Kanalisation beinahe beendet sei. Es sei nur noch eine Gabelung vom Friedrich-Wilhelm-Platz zur Bismarckstraße fertigzustellen. Kanalisationen seien noch in der Rheinstraße, in der Wilhelmstraße zur Taunusstraße und in der Bismarckstraße auszuführen, im ganzen 240 Meter, dann sei das Kanalisationsnetz in Friedenau vollständig ausgebaut. Er glaube, dass mit dem 1. April der Ausbau vollendet sein könnte.

 

Friedrich Wilhelm Büsing, der Initiator der Friedenauer Kanalisation war nicht mehr. 1905 verstarb seine Ehefrau Anna Büsing geb. Pfeffer. Die Kinder, Max, Margarete und Otto Büsing verkauften das Anwesen Niedstraße Nr. 14 an den Architekten G. Haase aus Wilmersdorf. Er veranlasste den Abriss des Einfamilienhauses und errichtete auf dem Grundstück ein Mehrfamilienwohnhaus. In den folgenden Jahrzehnten wohnten dort der Politiker Karl Kautsky (1908), der Maler Karl Schmidt-Rottluff (1911), der Schriftsteller Uwe Johnson (1958) und die Kommune I (1967). Das Grab der Büsings auf dem Friedhof an der Stubenrauchstraße existiert nicht mehr. Geblieben ist die Büsingstraße.

 

PS

Unser Dank geht an Herrn Wilfried Ramsbott, von dem wir am 12. Februar 2022 einen Brief erhielten: Ich sende Ihnen die Urkunde zu Ihrer Verfügung und zum Verbleib. Ich hoffe, Ihnen mit der Übereignung des Schriftstücks eine Freude bereitet zu haben. Das haben Sie, Herr Ramsbott.


 

Vorgartengestaltung mit Zierbrunnen. Baupolizeilich geprüft am 27.2.1909, Gemeine-Baurat Hans Altmann.

Büsingstraße Nr. 12-13

 

In der im Jahr 2000 erschienenen Denkmaltopographie Friedenau berichtet Gabriele Schulz über die Entwicklung der Grün- und Freiflächen, darunter über die im Bauarchiv erhaltenen Entwürfe zur Vorgartengestaltung für die Mietshäuser Büsingstraße Nr. 12-13.

 

Die Vorgärten waren integrale Bestandteile der Friedenauer Siedlungsplanung von Carstenn. Die immer wieder neu erlassenen Ortspolizeiverordnungen wurden durch spezielle Vorschriften für Vorgärten ergänzt. Nach § 4 von 1899 galt: Vorgärten von bebauten Grundstücken sind gegen den Bürgersteig und das Nachbarterrain mit einem eisernen Gitter von mindestens 1,0 m Höhe auf massivem Sockel, dessen Höhe nicht weniger als 0,50 m und nicht mehr als 0,75 m betragen darf, einzufrieden. Zugangswege zur Haustür und Durchfahrt sind nicht über 3 m breit, zu Läden, Kellern und sonstigen Eingängen nicht über 1,25 m breit anzulegen. Die parallel mit der Hausfront angelegten Wege dürfen eine Breite von 1,25 m nicht überschreiten. 1909 sollten zum Beispiel die Sockel und Pfeiler in Werk-, Glasur- und Verblendsteinen ausgeführt werden. Die gegenüber den seitlichen Einfriedungen höheren straßenseitigen Zäune waren an den Unterbrechungen durch Türen zu schließen.

 

 

 

 

 

Schließlich sollte der Vorgarten als Ziergarten angelegt und unterhalten werden. Die Bedingungen gipfelten in der Forderung, innerhalb einer zweiwöchigen Frist einen Bepflanzungsplan mit namentlicher Angabe der zu pflanzenden Bäume und Sträucher einzureichen. Nach Inkrafttreten der Baupolizeiverordnung für die Vororte von Berlin von 1887/92, die bis 1907 mehrfach geändert wurde, setzte sich die Mietshausbebauung auch in Friedenau durch. Zudem kam es in der Folge oftmals zum Einbau von Souterrain-Wohnungen, die wiederum Änderungen der Vorgartengestaltung wie separate Eingänge und Zugangswege erforderten. In Friedenau sind im wesentlichen zwei Vorgartentypen zu unterscheiden; die im Grundriß rechteckigen Vorgärten, die einem oder mehreren Hauseingängen (auch verschiedener Hausnummern) zugeordnet sind, und der Typ des Straßenhofs oder eine Kombination der beiden Formen.

 

Pflanzplan zur Vorgartengestaltung von Gartenarchitekt Paul Busse Zehlendorf, 1909..

 

Am Doppelhaus Büsingstraße 12-13 wurde 1909 eine spiegelsymmetrische Gestaltung realisiert. Hier trennten ein zentraler doppelseitig ausgebildeter Wandbrunnen mit einem Wasserspeier und ein eiserner Zaun axial die Grundstücke. Die geschwungenen Vegetationsränder der mit Mettlacher Fliesen gepflasterten Höfe fassten Hecken aus Lebensbäumen beziehungsweise straßenseitig Mandelbäumchen mit Festons aus Wein ein. Die Hofecken betonten Rotdombäume sowie Pappelsäulen. Blickpunkte bildeten die von Buchsbaum gesäumten ovalen Teppichbeete in der Hofmitte.

 

© Peter Hahn & Jürgen Stich

Büsingstraße Nr. 16

Hannah Höch (1889-1978)

 

Als wir Hannah Höch einluden, während der Berliner Festwochen 1977 im Gespräch mit der Journalistin Gabriele Tergit, dem Texter Max Colpet, der Tänzerin Valeska Gert, dem Kritiker H. H. Stuckenschmidt, dem Kabarettisten Werner Finck, der Schauspielerin Käte Haack, dem Komponisten Mischa Spoliansky, dem Schriftsteller Axel Eggebrecht und dem Comedian Harmonist Erwin Bootz über das Berlin der zwanziger Jahre Auskunft zu geben, bekamen wir einen Brief, geschrieben am 10. März 1977 in Berlin-Heiligensee: Leider muss ich Ihnen sagen, dass ich, aus gesundheitlichen Gründen, Ihrem interessanten Anerbieten, an der geplanten Diskussionsveranstaltung anlässlich der Berliner Festwochen 1977, teilzunehmen, nicht Folge leisten kann. Ich bedauere dies sehr und bin mit vorzüglicher Hochachtung Ihre Hannah Höch. Neun Monate später war sie nicht mehr.

 

Als sich die 23-jährige Anna Therese Johanne Hoech 1912 von Gotha nach Berlin aufmachte, um bei Professor Emil Orlik an der Kunstgewerbeschule in Charlottenburg Grafik zu studieren, nannte sie sich Hanna Hoech. Sie lernte den Initiator der Berliner Dada-Bewegung Raoul Hausmann kennen. Er war verheiratet und nicht bereit, das eine oder das andere Verhältnis aufzugeben. Immerhin war sie finanziell einigermaßen unabhängig. Seit 1916 hatte sie eine Halbtagsstelle als Entwurfszeichnerin in der Redaktion für Handarbeiten bei Ullstein – nebst Wohnung und Atelier in der Friedenauer Büsingstraße Nr. 16. In diesen Jahren entwickelte sie ihre Collagen und Fotomontagen.

 

Obwohl George Grosz und John Heartfield ihre Arbeiten zunächst ablehnten, sie nicht als eigenständige Künstlerin anerkannten, gar als Hannchen Höch und tüchtiges Mädchen auf die Schippe nahmen, sorgte der wortgewaltige Hausmann wohl dafür, dass seine Freundin 1920 an der ersten internationalen Dada-Messe teilnehmen konnte – als einzige Frau.

 

Mit Kurt Schwitters, dem MERZ-Künstler aus Hannover, trat der nächste Besserwisser in das Leben von Hanna. Er schlug ihr das zweite H vor. Ab sofort galt – wie für Schwitters’ Dichterliebe Anna Blume – Du bist von hinten und von vorne – HANNAH. Für Hannah Höch war Schwitters ein sehr fantasievoller Mensch, er war auch ein guter Mensch. Aber maßgeblich ist auch die armselige Zeit, unser Material, weil: Wir hatten ja nix. Jede Verlobungskarte war Luxussache, edles Papier waren alles Kostbarkeiten. Schwitters hatte gefunden, dass man das auch verwerten könne, wie man alles machen kann, wenn man‘s kann.

 

Schwitters inspirierte sie schließlich zu ihrer berühmten Foto-Collage Schnitt mit dem Küchenmesser. Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands –  im Besitz der Neuen Nationalgalerie Berlin.

 

Im Sommer 1926 verliebte sich Hannah Höch in die holländische Schriftstellerin Til Brugman (1888-1958). Mit ihr lebte sie in Den Haag und dann ab 1929 in Berlin-Friedenau zusammen.

 

Ich möchte die festen Grenzen auswischen, die wir Menschen mit einer eigensinnigen Sicherheit um alles, was in unseren Bereich kam, gezogen haben. Ich will aufzeigen, dass klein auch groß sein kann und groß auch klein ist; allein der Standpunkt, bei dem wir bei unserem Urteil ausgehen, muss anders gewählt werden. Ich würde heute die Welt aus der Sicht einer Ameise wiedergeben und morgen so, wie der Mond sie vielleicht sieht. Das Verhältnis mit Til Brugman stieß bei den Freunden auf Ablehnung. Selbst für Kurt Schwitters war die gleichgeschlechtliche Beziehung zu avantgardistisch. Ungeachtet dessen vollzogen die beiden 1936 ihre Trennung. Die inzwischen sechsundvierzigjährige Höch hatte den fünfundzwanzigjährigen Handelsvertreter Kurt Heinz Matthies kennengelernt. Später erklärt sie: Ich brauchte ein Kind, er brauchte eine Mutter. Ganz so einfach war es nicht.

 

Matthies reiste von Messe zu Messe, bis er am 7. November 1937 verhaftet wurde: Bei Matthies handelt es sich um einen gewohnheitsmäßigen Exhibitionisten, der wiederholt einschlägig vorbestraft ist. Außerdem ist durch die hier vorliegende Münchner Anzeige erwiesen, dass er auf der Geschäftsreise sein Betreiben fortsetzt. Matthies war geständig, wurde verurteilt und kam ins Gefängnis. All das hielt Hannah Höch nicht davon ab, Matthies im August 1938 zu heiraten. Im folgenden Jahr erwarb sie das Haus an der Wildbahn 33 und zog mit ihm von Friedenau nach Heiligensee. Vier Jahre später verließ er sie. Wieder einmal war eine Beziehung zu Ende gegangen. Geblieben war ihr der wuchernde Garten. Niemand vermisste sie, auch nicht die Akademie der Künste. Ihre Berufung zum Akademiemitglied erfolgte erst 1965.

 

Ich habe alles gemacht und mich um Handschrift und Merkmal nie gekümmert. Hannah Höch, 1968.

 

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Wohnadressen von Hannah Höch: Ab Anfang 1915 wohnte sie als Untermieterin in der Brünnhildestraße Nr. 5 und Friedrich-Wilhelm-Platz Nr. 17. Ab 1917 in der Büsingstraße Nr. 16, Portal II, 102 Stufen, Vorderhaus, Mansardenwohnung mit Atelier. Von Oktober 1926 bis zum 1. November 1929 vermietete sie ihre Atelierwohnung und lebte in Den Haag. Sie kam zurück und lebte mit ihrer Freundin Til Brugman(1888-1961) wieder in der Büsingstraße Nr. 16. Nach der Trennung von Brugman zog Hannah Höch 1933 in die Rubensstraße Nr. 66 III. Am 3. November 1939 zog sie in ihr Haus in Heiligensee.

 

Cornelia Schleime. Foto Markus Hurek, 2008

Hannah-Höch-Preis

 

Der Hannah-Höch-Preis des Landes Berlin wurde ab 1996 jährlich, ab 2014 zweijährlich, verliehen. 2016 ging der Kunstpreis an Cornelia Schleime. Sie erhält die mit 60.000 Euro dotierte Auszeichnung für ihr herausragendes künstlerisches Lebenswerk. Die Auszeichnung erinnert an die Künstlerin Hannah Höch (1889-1978), die mit Ihren innovativen Collagen und Fotomontagen einen wesentlichen Beitrag zur DADA Bewegung geleistet hat. Hannah Höch, Taufname Anna Therese Johanne Höch, wohnte und arbeitete laut offizieller „Berliner Gedenktafel“ von 1917 bis 1933 im Dachwohnungsatelier in der Büsingstraße 16, Portal II.

 

Cornelia Schleime wurde 1953 in Ost-Berlin geboren, absolvierte Lehren als Friseuse, Maskenbildnerin, Pferdepflegerin, und studierte Grafik und Malerei an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Sie gehörte zu einer Szene, die sich gegen die offizielle Kunstpolitik formierte. 1981 wurde sie in der DDR mit einem Ausstellungsverbot belegt. 1984 siedelte sie nach West-Berlin über.

 

Unter dem Titel Bis auf weitere gute Zusammenarbeit entstand 1992/93 eine Folge von 14 Fotografien auf Siebdruck. Dieser Arbeit ging die Einsicht meiner Stasiakten voraus. Neben den Berichten, die meinen Ekel gegenüber dem politischen System belegten, trafen mich besonders jene Berichte, die die inoffiziellen Mitarbeiter über meine Intimsphäre angefertigt hatten. Als ich diese las, hatte ich das Gefühl, man hätte mir die Vergangenheit gestohlen. Ich begann meine Arbeit, einer Fotoinszenierung mit Selbstauslöser, bei der ich die beschriebenen Situationen nachstellte und überhöhte. Als ich diese Arbeit das erste Mal ausstellte, fragte man mich, wie ich denn auf die Textpassagen gekommen sei, so als ließe sich die eigene Biografie irgendwo ausleihen. Es waren Künstler, die mich dies fragten und ich begriff auf einmal, dass es vielen nur noch um das Wie aber nicht mehr um das Was geht.