Retzdorffpromenade
Auf Vorschlag von Bürgermeister Erich Walger erhielt die neue Straße zwischen Lefèvre- und Rheingaustraße mit den vier Grundstücken am 1. September 1910 den Namen Retzdorffpromenade, benannt nach einem Turnersmann, der in Friedenau viel Wohltätigkeit geübt hat. Die Gemeindevertretung stimmte zu, obwohl sie hätte darauf hinwirken müssen, dass es zwei Retzdorffs gab, die Brüder Gustav (1850-1905) und Willy (1856-1910). Beide waren in den 1880er Jahren nach Friedenau gezogen, der Kaufmann Gustav in die Ringstraße Nr. 40, der Provinzial-Steuersekretär Willy in die Rheinstraße Nr. 44, beide waren Gemeindevertreter, beide galten als edle Menschenfreunde, wo Not und Entbehrung zu lindern waren, da zeigten die Retzdorffs stets eine offene Hand.
Gustav Retzdorff, Gründer des Männer-Turnvereins und Oberturnwart des Havelländischen Gaues, hatte die Gustav-Retzdorff-Stiftung zur Förderung des Turnens geschaffen. Nach seinem Tod am 15. Oktober 1905 – ausgerechnet dem Todestage seines großen Vorbildes Jahn – inszenierte die geballte Turnerschaft am 19. Oktober in der Turnhalle des Gymnasiums am Maybachplatz eine Trauerfeier, die sich zu einer großartigen turnerischen Kundgebung gestaltete. Der Friedenauer Lokal-Anzeiger kam nicht umhin, am 23. Oktober für den Bericht neben der Titelseite auch noch die zweite Seite zu opfern.
Ganz anders Willy Retzdorff. Der leidenschaftliche Botaniker hatte die Geschwister Blanck-Retzdorff-Stiftung für die Gewährung von Zuschüssen an Friedenauer Volkschüler und Schülerinnen zur Fortbildung gegründet. Er verzichtete auf seine Pensionsansprüche, reiste durch Europa und schuf ein reichhaltiges Herbarium, dass er dem Botanischen Museum Dahlem vermachte. 1903 entdeckte er in Bosnien-Herzegowina ein Nelkengewächs: Silene Retzdorffianum. Der Botaniker Karl Maly lieferte eine Beschreibung, die wir den Naturfreunden nicht vorenthalten möchten:
Wurzel spindlig, einfach oder ästig, einen Rasen zahlreicher zarter, ausgebreiteter Stämmchen treibend, die von den vorjährigen abgestorbenen, gelbbraunen Blattresten bedeckt sind. Stämmchen verzweigt, Blüten und Blattsprosse tragend; die hellgrünen Blätter alle fast gleich gross, am Grunde der heurigen Sprosse meist gedrängt stehend. Stengel aufsteigend, 7-20 cm hoch, oben 2-3 mal dichasial verzweigt, sammt den Blättern, Blütenstielen und Kelchen dicht drüsig zottig behaart Untere Blätter spatlig-länglich bis spatlig, in den breitgeflügelten Blattstiel allmählich verlaufend, stumpflich bis spitz. Die mittleren Stengelblätter sitzend, am Grunde häutig miteinander verbunden, an den Knoten zuweilen röthlich gefärbt, lineal-lanzettiich, beidendig verschmälert 20-31 (24) mm lang und 3-7,5 (4,5) mm breit, meist spitz. Stengelblätter durch kürzere oder seltener mit den Blättern gleichlange Internodien voneinander getrennt. Obere Stengelblätter und Tragblätter aus eirundem Grunde verlängert, spitz. Kelch vor der Anthese trichterförmig, 8-10,5 mm lang, am Grunde abgestutzt- sackig, verwischt 10-nervig, mit eirunden, stumpfliehen Zähnen. Blütenstiele aufrecht, fädlich, die der Hauptstrahlen verlängert, 8-24 mm lang, zuletzt abstehend oder herabgeschlagen. Blumenblätter etwa 11 mm lang, milchweiss, keilförmig, vorn ausgerandet und meist beiderseits noch mit einem Seitenzähnchen versehen, am Nagel kahl und beiderseits oben geflügelt. Krönchen aus zwei eilänglichen, stumpfen Lappen gebildet. Narben 3. Staubfaden kahl. Kapsel eirund, vollkommen einfächrig, so lang als der Kelch und kaum länger als der kahle Fruchtträger (Carpophor). Same nierenförmig, schwarz, 1 mm lang, am Rande mit durchscheinenden, bräunlichen Kammpapillen, die etwa fünf Mal kürzer als der Längsdurchmesser des Samens sind, an den Seiten gewölbt, mit mehreren (5-6) konzentrisch angeordneten, radiär gestreiften Reihen. Blüht im April und Mai, fruchtet im Juni.
Sagen wir es so: Die Retzdorffpromenade sollte an den Turner Gustav Retzdorff und an den Botaniker Willy Retzdorff erinnern.
Der erste Ludwig
In seinem Friedenau-Buch von 1996 führt der Heimatforscher Alfred Bürkner unter der Retzdorffpromenade Nr. 4 aus: In diesem Haus lebte (1914) der Schauspieler Ferdinand Bonn (1861-1933). Er war Schüler E. v. Possarts und wurde als Darsteller klassischer Rollen in Wien und Berlin gefeiert. Nach der Jahrhundertwende leitete er außerdem zwei Jahre das ‚Berliner Theater‘ in der Charlottenstraße (zu dessen künstlerischem Beirat einige Zeit auch der Maler Hans Baluschek gehörte). Bonn schrieb eine Reihe von Theaterstücken, u. a. ‚Sherlock Holmes‘, 1906, und die Memoiren ‚Zwei Jahre Theaterdirektor in Berlin‘, 1908. Seine Gesammelten Werke erschienen 1911 in vier Bänden. Der sonst so verlässlich genaue Forscher irrte sich. In Nr. 4 wohnte nicht Ferdinand Bonn, sondern Theaterdirektor Wilhelm Bonin. Der Name Ferdinand Bonn machte uns neugierig. Zeitgenossen beschreiben ihn als eigensinnig, exzentrisch, selbstbewusst, herausfordernd, überheblich und arrogant. Er wollte alles auf einmal und er war alles auf einmal. Für den Theaterkritiker Siegfried Jacobsohn (1881-1926) war er ein dramatischer Hochstapler.
Der Schauspieler, Regisseur, Theaterdirektor, Dramatiker und Filmproduzent war allerdings auch der allererste Ludwig auf Zelluloid. An der Spree ist er vergessen, am Chiemsee wird er verehrt. Ferdinand Bonn kam 1896 nach Berlin, war Schauspieler am Theater des Westens (1898), Hofschauspieler am Königlichen Schauspielhaus (1899), Mitglied des Lessing-Theaters (1901) und laut Neuer Züricher Zeitung in einem Nachruf von 1933 ein Komödiant vom reinsten Blute, der sich selbst zum Star erhob. Rollen spielen genügte seinem Ehrgeiz nicht, er wollte die Rolle des Alleskönners spielen. Waren passende Rollen da, so wurden sie von ihm ausgeschmückt durch Geigensoli oder einen Einzug hoch zu Roß, worauf ihn Siegfried Jacobsohn Pferdinand Bonn nannte: Wenn keine Stücke für sein Protagonistentum da waren, schrieb er sich selbst welche auf den Leib.
Kaum hatte er sich 1903 mit Friedrich Gottlieb Großkopf, dem Eigentümer der Immobilie Charlottenstraße Nr. 90-92, geeinigt, jubelte er: Endlich, endlich Freiheit! Alle meine Talente, dichterische, malerische, musikalische, haben jetzt ein Sammelbecken. Sie zerflattern nicht mehr. Die umfassendste aller Künste, das Theater hält sie nun zusammen. 1904 wurde Ferdinand Bonns Berliner Theater eröffnet. Gespielt wurden (hauptsächlich) seine eigenen Stücke, darunter das Kriminalstück Sherlock Holmes und die Tragödie Ludwig II. König von Bayern. Die Presse war sich schnell einig. Der gegenwärtige Direktor, Hauptdarsteller, Hausdichter, Dekorationsmaler usw. hat aus dem Institut eine lächerliche Tummelbühne persönlicher Eitelkeit gemacht, als deren Herrscher er seine eigene, unbegabte Gattin und eine Schar schmierenhafter Gegenspieler zu den Folien seines Ruhmes wählt. Verschont wurde auch nicht das Kaiserhaus, das durch wiederholten Besuch eines Hintertreppenstückes diesen Unfug stützte. Die abwertenden Kritiken führten zum Verlust des Publikums. 1907 kam der Konkurs.
Nach dem Berliner Fiasko übersiedelten Ferdinand und seine Frau Maria geb. Sundl (1871-1909) 1908 in das erworbene Anwesen in Bernau am Chiemsee. Aus dem Landhaus mit Garten von 1477/85 machte er ein Schlösschen mit Park. Das Chiemgauer Glück, unsere Eier, unsere Milch, unser Kompott, der Hochgern und Hochfelln liegen vor uns und fernhin verschwimmen die Reichenhaller Berge im Blau, währte nicht lange. Maria Bonn verstarb 1909. Gleich nebenan auf dem Gotteshügel der Katholischen Pfarrkirche St. Laurentius wurde sie bestattet.
1911 erschienen Ferdinand Bonns gesammelte Werke, laut Kurt Tucholsky gewissermaßen die Lebensgeschichte des großen Mannes, seine Geschichten, seine Verse, seine Dramen, seine Tagebuchblätter Zwei Jahre Theaterdirektor in Berlin, darunter der komplette Text seiner Tragödie in 5 Akten Ludwig II. König von Bayern. In der Schaubühne vom 28. Mai 1914 hat Tucholsky die vier entzückenden roten Leinenbände rezensiert: Da kann man sich immer nur die Augen wischen und so lange lachen, bis man keine Luft mehr im Leibe hat und lesen und lachen und lachen und lesen. Wenn man atemlos, von Lachen geschüttelt, mit der Lektüre fertig ist, dann mag man sich vielleicht fragen: Was will er eigentlich?
Inzwischen gab es Stummfilm und Kino. 1913 holte er sein Werk über den verehrten Wittelsbacher Ludwig aus der Schublade. Für das Drehbuch hatte er die beste Quelle. Sein Vater Franz (1830-1894), Staatsanwalt und Mitglied des Bayerischen Landtags, musste 1886, zwei Wochen nach Ludwigs Tod im Starnberger See, einen Bericht über das dramatische Ereignis abliefern. So sah Ferdinand Bonn schon als Knabe den königlichen Jüngling Ludwig vorüberschreiten, göttlich, voll Majestät und Anmut. Hinter goldgleißenden Priestern, die bei der Prozession die blitzende Monstranz in Weihrauchwolken trugen, wandelte er – die menschgewordene Schönheit. Kein Gemälde, kein Drama, kein Naturereignis hat jemals stärker auf mich gewirkt.
In seinem Film wollte er erzählen, wie die Welt Ludwig verriet und verwundete und ihn immer einsamer werden ließ. Wie in meinem Drama wollte ich ihn noch einmal lebendig machen und zusammenfassen den Titanenkampf dieses Märtyrers der Schönheit, der sich in bewussten Gegensatz stellte zu einer Zeit, die die Hässlichkeit auf den Thron erhoben und die rohe Massenwirtschaft als Lebensprinzip verkündet hat. Zu einer Zeit deren Profitgier die Freude zerstört und das Dasein arm gemacht hat an edleren Werten. Einer Zeit, die schließlich jetzt das einzige Volk erwürgen will, in dem noch Ideale leben, das noch einen Geist bewahrt an dem die Menschheit genesen kann, wenn es erst selbst wieder genesen sein wird. Und wenn auch die schwarzen Fittiche des Wahnsinns zum Schluss dies königliche Künstlerhaupt umschattet haben, so hat ein gnädiges Schicksal Ihn durch jähes tragisches Ende bewahrt vor jahrelangem Verdorren und Versumpfen. Auf der Zinne des Lebens und Schaffens folgte der jähe Absturz der uns trotz tiefsten Mitgefühls doch befriedigt und tröstet, da er unsern Helden dadurch zum Sieger werden ließ.
Das Bernauer Schlössl wurde zum Filmatelier. Gedreht wurde auch auf Herrenchiemsee, natürlich ohne Erlaubnis, was ihm eine Klage der Krongutverwaltung einbrachte. Unter Mitwirkung der Einheimischen entstand der erste Spielfilm über Ludwig II. – mit Ferdinand Bonn als Produzent, Regisseur und Hauptdarsteller.
Zum 125. Todestag von König Ludwig fiel den Bernauern ein, dass in diesem Jahr auch der 150. Geburtstag von Ferdinand Bonn anstand. Mit Herrenchiemsee, Schlössl und Grabstätte hatten sie repräsentative Schauplätze, die Brüder Hans Werner und Rainer Paul hatten ein gut bestücktes Schlössl-Archiv, mit Otto Heithauer und Michael Posavec hatten sie zwei allseits bekannte König-Ludwig-II-Doubles und mit der Dissertation Ferdinand Bonn – Ein Leben für die Kunst der Germanistin Brigitte Müller hatten sie eine wissenschaftliche Grundlage.
Den Höhepunkt aber steuerten Filmmuseum München und Goethe-Institut München mit der DVD-Dokumentation Ludwig II., König von Bayern bei, mit der erstmals die Ludwig-Filme und ihre Titelfiguren gewürdigt wurden: Ferdinand Bonn (1913), Wilhelm Dieterle (1930), O. W. Fischer (1955), Helmut Berger (1972) – später Sabin Tambrea (2012). Von Bonns Film wurde bisher keine Kopie gefunden. Ferdinand Bonn dazu 1918: Eine Gesellschaft kaufte den Film, die ihn gründlich verwässerte, mir das Geld schuldig blieb, da sie pleiteging. Rolf Raffé (1895-1978) von der Indra-Film München ist 1920 deutlicher: Der Ferdinand Bonn-Film wurde von uns erworben, weil er unseren Film gefährdete. Derselbe wurde von uns, trotz seines hohen Anschaffungswertes bis auf wenige Bilder glatt ausgeschaltet, da sein Inhalt nicht unserer Tendenz und unseren Qualitätsansprüchen nahe kam. Herr Ferdinand Bonn hat nicht den geringsten Einfluss auf den Inhalt und Tendenz unseres Filmes ausgeübt. Im Gegenteil haben wir, wie bereits oben erwähnt, eine vollständig verschiedene Auffassung vertreten, die wir den Aufzeichnungen der Gräfin Marie-Louise Larisch (1858-1940) verdanken. Wenn wir Herrn Bonn die Rolle des älteren Königs übertrugen, so geschah es seiner im obigen Film bewiesenen glänzenden Eigenschaften als Darsteller wegen, die ihm stets Ehre eintrugen.
Wie weiter? Nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau Maria heiratet Ferdinand Bonn 1917 Henriette Ida genannt Addy geb. Homberg (1892-1982). Sie bringt Tochter Marion Wüster (1910-1985) aus ihrer ersten Ehe mit ins Schlössl. 1926 macht Addy Bonn aus dem Schlössl ein Kinderheim. 1933 stirbt Ferdinand Bonn. Seine Stieftochter Marion Wüster heiratet Werner Paul (1913-1994). 1966 verkauft Addy Bonn Schlössl und Park an die Familie Stolz. Sohn Robert übernimmt Gasthof und Metzgerei Alter Wirt, Bruder Reinhard das Bonnschlössl, das derzeit in 10 Ferienwohnungen umgewandelt wird.