Am 22. Oktober 1875 wurde die ursprüngliche Kastanienstraße in Illstraße umbenannt, nach dem elsässischen Fluss Ill, einem linken Nebenfluss des Rheins. Mit dem Friede von Frankfurt wurde Elsass 1871 dem Deutschen Reich angegliedert. Friedenau würdigte dieses Ereignis mit der Straßenumbenennung. Die Straße war einst eine direkte Querverbindung von der Kaisereiche über die Dickhardtstraße (früher Ringstraße) bis zur Ecke Holsteinische Straße und Fregestraße. In der Nacht vom 1. zum 2. März 1943 klinkten britische Bomber ihre Fracht aus und zerstörten elf von 14 Wohnhäusern.

 

 

Ernst Barlach in jungen Jahren

Illstraße Nr. 4

Ernst Barlach (1870-1938)

 

Barlach, E., Bildhauer taucht im Friedenauer Adressbuch erstmals 1906 unter Illstraße Nr. 4 auf. Es gab 14 Häuser, Nr. 1-7 auf der Westseite, Nr. 8-14 auf der Nordseite. Es ist Barlachs zweiter Versuch, in Berlin Fuß zu fassen. Der erste Aufenthalt in den Jahren 1899 bis 1901 kam zustande, da er Gelegenheit bekam, auf der Großen Berliner Kunstausstellung auszustellen. Gebracht hat es kurzfristig nicht viel. Er schickt weiterhin unermüdlich Zeichnungen an Zeitschriften. In der Jugend erscheinen die Beiträge Jungens vom andern Dorfe, Erbsünde, Entwurf für einen Briefbeschwerer, Nach Haus, Spukgeschichten, Titelbild, Straßenkehrer, Reifspiel, Das stille Schiff, Die ewige Fragerei. Mit Grabmalentwürfen hält er sich über Wasser. Immerhin lernt er den Verleger Reinhard Piper und den Kunstkritiker Karl Scheffler kennen, der 1946 schreibt: Barlach erging es in Berlin kümmerlich. Der erste Eindruck schon ließ einen Außenseiter und ein Original erkennen. Obwohl er noch ungewiss tastete und ein Bedrängter war, der nicht wusste, wie er der Fülle seiner plastisch-poetischen Gesichte Herr werden sollte, wirkte er bereits wie eine geprägte Persönlichkeit. Gleich erwies es sich, dass er zu jenen gehörte, die nichts zu sagen vermögen und in einer tragischen Weise gehemmt sind, wenn sie nicht alles und das Letzte sagen können.

 

Fehlender Erfolg und materielle Nöte bringen ihn wieder nach Berlin. Im Katalog der Großen Berliner Kunstausstellung 1906 wird Ernst Barlach, Friedenau mit dem Bildwerk Die Rast der Flüchtigen angekündigt. 1928 schreibt er in Ein selbsterzähltes Leben: Wieder in Berlin. Hier gings nun allerdings heillos her, ich wusste, dass ich in einer Hölle saß, und saß darin ringend um die tagtägliche Überwindung des Bewusstwerdens meiner ganzgänzlichen Überflüssigkeit. Es langte bei meinem Treiben mit dem abhanden gekommenen Mut so oft kaum zum Aufstehen, am liebsten wäre ich um zehn Uhr früh schon wieder ins Bett geflohen, ich wirtschaftete ab und das Leben ebbte mit so starker Strömung, als wolle es sich wie die Elbe beim Ostorkan entleeren. Es war also keine große Kunst, mich zur Reise nach Russland zu bestimmen.

 

Er kommt zurück und präsentiert auf der Berliner Secession die von Richard Mutz ausgeformten farbigen Terrakotten Blinder Bettler und Russische Bettlerin mit Schale. Die Ernst Barlach Stiftung zieht ein Resümee: Barlach sieht die künstlerischen Auswirkungen der Russlandreise positiv bestätigt. Er beginnt, die in Russland gefüllten Skizzenbücher in Plastiken und Prosaskizzen zu verarbeiten. Sechs zeitkritische Karikaturen erscheinen in der Zeitschrift ‚Simplicissimus‘. Durch den Berliner Kunsthändler Paul Cassirer wird Barlachs Lebensunterhalt abgesichert. Cassirer übernimmt in der Folge alle Arbeiten Barlachs gegen ein festes Jahresgehalt. Barlach wird Mitglied der Berliner Secession. Auf der 16. Ausstellung im Winter 1908 ist er mit 7 Plastiken und 20 Zeichnungen vertreten.

 

Es gab ein Aufatmen in meinem Gemüt und einen hübschen kleinen Tumult in meinem Kopfe, als ich mit zwei solchen Püppchen, wie die feiste Bettlerin und der betend lamentierende Bettler waren, den Beifall eines halben Duzend Männer fand, deren Urteil ich nur zu gerne als unzweifelhaft verlässlich ansah. Der über alle Maßen selbstlose Gaul zeigte fast mehr Freude über diesen Anfang als ich selbst haben konnte. Cassirer kam mit mir ins nächste Zimmer und forderte mich auf, ihm Arbeiten zu senden. Es verging ein halbes Jahr, wo mich denn Cassirer zu einem Besuch aufforderte und mir ein Abkommen vorlegte, nach dem ich meine zukünftigen Arbeiten ihm übergeben sollte. (Ernst Barlach, Ein selbsterzähltes Leben, 1928.

 

1906 wird er Vater. Sohn Nikolaus (1906-2001) ist das Ergebnis einer Beziehung mit einem Modell. Nach zweijähriger gerichtlicher Auseinandersetzung mit der Mutter Rosa Schwab erhält er das Sorgerecht. Das ist dann auch das Ende seiner Friedenauer Jahre. Barlach zieht mit Mutter und nach Güstrow. Am Inselsee lässt er sich vom Architekten Adolf Kegebein Atelier und Wohnhaus errichten. 1913 wird Ernst Barlach in den Vorstand der Berliner Secession berufen. Es gibt sehr viel Krakeel in Berlin, schreibt er am 24.2.1910 an Caritas Lindemann, und nicht immer gibt es ihn bloß in Berlin. Er ist eine Zeitkrankheit. Man muss ihm entrinnen. Wenigstens ‚trachten‘, ihm zu entrinnen, wie Däubler sagen würde. Ich habe mein Schneckenhaus wieder nach Norden gezogen, diesmal mit Sack und Pack. Und gegenüber dem Verleger Reinhard Piper ergänzt er am 6.5.1910: Hier komme ich zu ganz regelmäßigen Stunden Arbeit, in Berlin dagegen nicht, und ich bin alt genug, um dem endlich auftretenden Drang nach einiger Beständigkeit äußerer Umstände nachgeben zu dürfen. Keiner von meinen Bekannten lebt annähernd so unförmlich und stillos wie ich. Doch muss ich natürlich öfter nach Berlin.

 

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung protestiert Barlach gegen den Ausschluss von Käthe Kollwitz und Heinrich Mann aus der Akademie der Künste, bekannte aber auch mit seiner Unterschrift unter den Aufruf der Kulturschaffenden vom 19. August 1934, dass er zu des Führers Gefolgschaft gehöre. Dennoch werden 1937 rund 400 Werke Ernst Barlachs in der Aktion Entartete Kunst aus öffentlichen Sammlungen konfisziert. Die Reichskammer der bildenden Künste teilt ihm mit, dass der Herr Reichsbeauftragte für künstlerische Formgebung drei Plastiken und sechs Zeichnungen „beanstandet habe und dass diese Werke nicht mehr ausgestellt werden dürfen. Im Juli 1937 lässt er über den Rechtsanwalt seinen Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste erklären. Ich weiß, dass ich nur dahin gehöre, wo ich bisher gearbeitet und gelebt habe, und da man mir Fremdsein nachredet, so behaupte ich, eine bessere, stärkere und weitaus tiefer eingewachsene Zugehörigkeit, eine mehr aus Geschichte und Erleben geformte Angehörig-, ja Hörigkeit zu meinem Geburtslande zu besitzen als alle meine solches absprechenden Missgönner meiner Ungeschorenheit, Abseitigkeit und Arbeitsruhe, die auf Grund höchst jüngst errungener Vorstellungen meinen ganzen Lebensbau glauben zerbrechen zu können. Das am 24. August im hiesigen Dom fortgeschaffte Ehrenmal, ‚Domengel‘ genannt, ist nun der vierte kirchliche Fall – erst Magdeburg, dann Kiel, Lübeck, dann Güstrow. Sämtliche Stücke in der Nationalgalerie sind ausgeräumt, und dabei wird es ja nicht bleiben. Zum Arbeiten werde ich auf absehbare Zeit nicht kommen, ins Ausland gehe ich nicht, im Vaterlande muss ich mich wie ein Emigrant fühlen – und zwar schlechter als ein wirklicher, weil alle Wölfe gegen mich und hinter mir heulen.

 

Fläming Schule. Foto Hahn & Stich, 2021

Illstraße Nr. 4-6

Fläming-Grundschule

 

Der Mangel an Schulräumen in Friedenau führte dazu, dass im Bezirksamt Schöneberg der Plan gefasst wurde, auf dieser Ruinenlandschaft ein Schulgebäude zu errichten. Am 21. August 1959 wurde der Bebauungsplan XI-19 für die Grundstücke Ringstraße (Dickhardtstraße) 17-22, Illstraße 3-11 und 14 aufgestellt und vom Senator für Bau- und Wohnungswesen festgesetzt: Eine städtebauliche Fehlentscheidung, zumal fast gleichzeitig 1957/58 der Bebauungsplan XI-71 für die Verbreiterung der Saarstraße zwischen Kaisereiche und Fregestraße als Zubringer zur Westtangente entstand. 1973 wurde der Fertigbau der Fläming-Schule für 600 Schüler auf einem denkbar ungeeigneten Areal, umtost vom Verkehr von Haupt- und Rheinstraße, Autobahnzubringer Saarstraße und Westtangente eröffnet. Die Illstraße wurde ihrer Gestalt beraubt und in eine Sackgasse umgewandelt.

 

 

 

 



Der Schulkoloss zwischen Dickhardt- und Illstraße gehört nicht zu den architektonischen Glanzlichtern von Friedenau. Genau deshalb nennt sich die Bildungsstätte  wohl auch Schule für alle. Dort ist das Kollegium bestrebt, Schüler zur Teilhabe und Mitwirkung an den gesellschaftlichen Prozessen zu befähigen. Übersetzt heißt das, sie zu selbstständigen, verantwortungsbewussten, gebildeten, toleranten, engagierten, kritikfähigen, mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen. Allein diese Formulierung wäre schon Grund genug, den Nachwuchs von diesem Haus fernzuhalten. Die letzten Zweifel werden nach Schulschluss an der Kaisereiche beseitigt. Aber: Etwa 30 Prozent unserer Kinder sprechen zu Hause noch andere Sprachen als Deutsch. Eine Klasse hat im Rahmen eines Projektes herausgefunden, dass an unserer Schule Kinder aus 44 Nationen bzw. Herkunftsländern unter einem Dach lernen. Laut Schulleitung besteht eine Kooperation mit dem Rheingau-Gymnasium. Das erleichtert den Übergang auf die weiterführende Schule. Kaum vorstellbar. Dazu kommt, dass an der Fläming-Grundschule behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Ein im Prinzip richtiger Gedanke, weil damit behinderte Kinder keine Sonderschulen mehr besuchen müssen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Schüler davon profitieren. Hinter vorgehaltener Hand wird es ausgesprochen: Die Kinder bleiben auf der Strecke“.

 

Der Weg von der Volksschule des Jahres 1871 über die I. Gemeindeschule bis zur Fläming-Grundschule war mühsam. Für das Teltower Kreisblatt vom 10. November 1899 waren die Schulverhältnisse des Ortes Friedenau von Anfang an wohlgeordnet. Dem Schreiber muss widersprochen werden. Das Chaos begann früh, als die Gemeinde in der Ringstraße Nr. 49 (heute Dickhardtstraße) eine einklassige Volksschule mit einem einzigen Schulraum für 86 Mädchen und Jungen eröffnete. Mit dem Umzug 1875 in das Landhaus Albestraße Nr. 25 wurde es nicht besser, zu klein für Schüler, Wohnung für Lehrer und Nachtwächter nebst Gottesraum für die Friedenauer Protestanten. Erst 1890 entstanden neben dem Landhaus Schulneubau und Turnhalle. Da dies nicht ausreichte, wurde fünf Jahre später das Landhaus abgerissen und ein weiteres Schulgebäude für 15 Klassen und 594 Schüler errichtet. Da der Bedarf auch damit nicht gedeckt war, wurden 1906 die Geschlechter getrennt. Die Mädchen kamen in die neue Schule Rheingaustraße Nr. 7, die Jungen blieben in der Albestraße. 1932 wird die 1. Gemeindeschule von Friedenau in 18.Volksschule Berlin-Schöneberg umbenannt. Den zeitgenössischen Berichten ist zu entnehmen, dass außer der Umbenennung nicht viel Weiteres geschah. Es kam der Zweite Weltkrieg mit zeitweiser Beschlagnahme des Schulgebäudes durch die Wehrmacht, mit reduziertem Unterreicht wegen nicht beheizbarer Räume, mit den Bombenangriffen vom Ende Februar Anfang März 1943.

 

Nach dem Krieg wurde umorganisiert und vor allem umbenannt. An der Volksschule blieben die Klassen 1 bis 6, alle anderen wurden an die Oberschule überwiesen. Im Juni 2014 legte die Senatsverwaltung für Bildung den Bericht der Schulinspektion über die Fläming-Grundschule vor. Wer sich die Lektüre der 52 Seiten antun möchte, findet sie auf der  nachfolgenden PDF: http://www.flaeming-grundschule.de/images/PDFs/2014Bericht%2007G15.pdf.

 

Franz Jüttner, Der Zug der Nörgler. Kladderadatsch, 1892

Illstraße Nr. 9

Franz Jüttner (1865-1926)

 

Die Lustigen Blätter waren für den Fontane-Verehrer Georg Hermann (1871-1943) auf dem Gebiet der modernen Karikatur für Berlin ein halbwegs fortschrittliches Blatt. Besonders angetan hatten es ihm die politischen Zeichnungen von Franz Albert Jüttner. Das war kein Wunder, denn auf Jüttners ganzseitige farbige Bilder stieß man in fast jeder Ausgabe – ziemlich auffallend, da sie in ihrer Machart an Toulouse-Lautrec erinnerten. Obwohl Künstler wie Johann Bahr, Lyonel Feininger, Walter Trier und Heinrich Zille über viele Jahre hinweg Karikaturen beisteuerten, war Jüttner der Star.

 

 

 

 

 

 

 

Die Satirezeitschrift war 1886 gegründet worden, erschien wöchentlich und erreichte vor allem während der Weimarer Republik mit 60.000 Exemplaren eine große Leserschaft. Die Lektüre der Lustigen Blätter, digitalisiert von der Universitätsbibliothek Heidelberg, kann ein wahres Vergnügen sein. Diese zeit-, kulturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Themen – garniert mit Witzen, Gedichten und Bildergeschichten – setzen allerdings eine gewisse Kenntnis des politischen Zeitgeschehens voraus. Mögen die Beiträge zum Burenkrieg in Südafrika, zur Reichstagswahl, zum deutschen Pachtgebiet Kiautschou in China oder zu Kulturereignissen so fern erscheinen, mit ihrer grundsätzlichen Kritik haben sie auch heute an Aktualität nichts verloren.

 

Da ist beispielsweise Jüttners Zeichnung Der Zug der Nörgler. Kaiser Wilhelm II. hatte sich 1892 in einer Tischrede beim Festessen des Provinziallandtags kritisch über die politische Stimmung im Land geäußert und das Verhalten der Bürger beanstandet: Es ist ja leider jetzt Sitte geworden, an allem, was seitens der Regierung geschieht, herumzumäkeln. Doch wäre es besser, dass die mißvergnügten Nörgler lieber den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schüttelten und sich unseren elenden und jammervollen Zuständen auf das Schleunigste entzögen. Ihnen wäre dann geholfen, und uns täten sie einen großen Gefallen.“ Jüttner versammelte auf seiner Zeichnung all jene, die sich eben nicht mit den Gegebenheiten in Deutschland abfinden wollten. Er nahm den Kaiser wörtlich und zeigte das mäkelnde Volk auf dem Weg hinaus, damals konkret in Richtung Amerika, was heutzutage keine Lösung wäre.

 

Franz Albert Jüttner wurde am 23. April 1865 in Lindenstadt bei Birnbaum (Provinz Posen) als Sohn des Böttchers Franz Joseph Jüttner und seiner Ehefrau Sophie Marianne geboren. Nach der Schulzeit arbeitete er als Zeichner beim Kreisbaumeister, Dekorationsmaler und in einer lithographischen Anstalt. Dann kam Berlin. Beim Kladderadatsch begann der Autodidakt mit dem Zeichnen von Vignetten, die dem Text begleitend beigestellt wurden. Es folgten eigenständige Illustrationen wie sein parodistischer Kommentar Auf der Kunstausstellung (1888).

 

Jüttner zog nach Friedenau, zuerst Handjerystraße Nr. 78 (1894), dann Illstraße Nr. 9 (1900) und schließlich Wilhelmshöher Straße Nr. 23 (1906). Es kam der Erste Weltkrieg und er geriet wie Thomas Mann (Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden) oder Alfred Kerr (Hunde dringen in das Haus. Peitscht sie raus!) über den vielbeschworenen Geist von 1914 in einen nationalen Rausch. In dieser Kriegsbegeisterung scherte er sich wie seine Karikaturkollegen Johann Bahr, Lyonel Feininger, Ernst Heilemann, Fritz Koch-Gotha, Paul Simmel und Walter Trier nicht um intellektuelle Redlichkeit. Ihre Propaganda-Karikaturen in den Lustigen Blättern waren fern jeder politischen Analyse – ohne Ausnahme auch die Lustigen Blätter mit ihren zwischen 1914 und 1918 erschienenen unsäglichen 223 Kriegs-Nummern.

 

Ab etwa Mitte 1917 sind Jüttners Zeichnungen in den Lustigen Blättern verschwunden. Ernst Heilemann (1870-1936) und Walter Trier (1890-1951) übernehmen die propagandistische Arbeit. Die Kollegen berichten von seinem Zusammenbruch, von einer schweren Krise. Auf ärztlichen Rat zieht er 1918 samt Familie nach Wolfenbüttel. Mehr weiß man nicht. Franz Albert Jüttner starb am 1. Mai 1926.

 

Illstraße 14 Ecke Saarstraße 1. Foto Hahn & Stich, 2021

Illstraße Nr. 14

Café Woerz an der Kaisereiche

 

Es braucht heute viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass sich hinter dieser Fassade einst das vornehmste und eleganteste Café der westlichen Vororte befand. Nachdem in der Nacht vom 1. zum 2. März 1943 britische Bomber ihre Fracht über der Illstraße ausgeklinkt hatten, lagen elf von 14 Wohnhäuser in Schutt und Asche. Geblieben sind die Außenmauern der Ecke zur Saarstraße, die in den 1950er Jahren entdekoriert wurden.

 

Die Geschichte des Café Woerz beginnt am 1. Dezember 1910 im Friedenauer Lokal-Anzeiger mit einer Drei-Zeilen-Meldung: Grundstücksverkauf. Das Grundstück Illstraße, Ecke Saarstraße, bisher Herrn Zitzmann gehörig, ist durch Kauf in den Besitz des Herrn Wittkower übergegangen.

 

 

Julius Wittkower gehörte zum Fleischergewerbe, war seit 1871 Inhaber des ältesten Konservenhauses der Branche in der Leipziger Straße und 1893 Mitbegründer der Berliner Viehcommissions- und Wechsel-Bank. Als bekannt wurde, dass der Cafétier Karl Woerz dort ein Konzertcafé eröffnen und Wittkower zur baulichen Ausgestaltung 120.000 M. beisteuern wollte, forderten die umliegenden Restaurateure, die nachgesuchte Konzession zu verweigern: Gegenüber befindet sich bereits ein Café, unweit davon das Rheinschloß-Lokal mit einem großen Café im ersten Stock und im Sommer steht ein Garten zur Verfügung. Gegenüber der geplanten Neuanlage liegt ein großes Restaurant, in einiger Entfernung davon eine Konditorei. Bürgermeister Erich Walger folgte dieser Argumentation und verweigerte am 24. November 1911 die Konzession.

 

Woerz klagte vor dem Kreisausschuss. Bei einer Ortsbesichtigung wurde festgestellt, dass die Räume durchweg hoch und hell und die Abortanlage gut ist. Obwohl der Anwalt von Woerz ausführte, dass die Neuanlage einen ganz anderen Charakter trage als die genannten Lokale und keine Konkurrenz darstellen werde, urteilte der Kreisausschuss zuungunsten des Klägers, da im Rheinschloß etwas Ähnliches bereits vorhanden sei.

 

Karl Woerz ging in die Offensive. Der Friedenauer Lokal-Anzeiger veröffentlichte Leserbriefe: Eine echt amerikanische Drehtür, wie sie nur in den vornehmsten Lokalen der Reichshauptstadt anzutreffen ist, führt in das Lokal, in dessen Mittelpunkt sich das Musikpodium durch Säulen und Spiegelscheiben fast versteckt, also diskret eingegliedert in dem Ganzen, befindet. Im Hintergrunde sehen wir geräumige luxuriös ausgestattete Logen. Die Rücklehnen der zu den Wandseiten quer stehenden Polsterbänke sind gekrönt mit prachtvollen Blumenkrippen. Die Wand- wie auch die Deckenmalerei ist stilvoll. Aus modernen elektrischen Kronen mit Glasstäbchen-Umkleidung strahlt des Abends ein feenhafter Glanz hernieder. Am dem Hauptraume anschlossen ist ein geräumiges Billardzimmer, in dem drei Präzisions-Billards von J. Neuhusen’s Billard-Fabrik Aufstellung finden sollen, diesem Zimmer benachbart ist das Spielzimmer, ebenfalls elegant, aber auch praktisch eingerichtet. Die Küchenräume, wie sämtliche Nebenräume, sind natürlich ebenfalls den heutigen Ansprüchen der Hygiene folgend angelegt. Herr Woerz hat eine Einrichtung von mehr als 70.000 M. bei der Möbelfabrik Paul Redelsheimer erstanden. Daher könnte man nur wünschen, dass unsere Behörde die vereinzelten Stimmen der Konkurrenten nicht hört, sondern im Interesse Friedenaus und seiner Einwohnerschaft einem derart erstklassigen Café die Konzession erteilt.

 

Bürgermeister Walger gab nach und erteilte am 9. Januar 1912 Herrn Cafétier Woerz die Konzession. Die Konkurrenz gab jedoch nicht auf. Am 5. März 1912 verneinte der Kreisausschuss in einer abermaligen Verhandlung über die Konzessionserteilung für das Café Woerz die Bedürfnisfrage und ist wiederum auf Grund der Einsprüche einiger Interessenten zu einer Verweigerung der Konzession gekommen. Der Kreisausschuss hat diesen Beschluss gefasst, trotzdem der hiesige Amtsvorsteher seinen Einspruch zurückgezogen hat und unsere Gemeindevertretung die Konzessionserteilung befürwortete. Die Sache wird nun weiter gehen an den Bezirksausschuss.

 

 

Am 9. Mai 1912 wartete der Friedenauer Lokal-Anzeiger auf seiner Titelseite mit der Meldung auf: Dem Cafétier Karl Woerz die Konzession erteilt. Dies war das Ergebnis der Verhandlung vor dem Potsdamer Bezirksausschuss, das die vornehmen Kreise Friedenaus mit großer Freude erfüllen dürfte, denn nunmehr ist unser Ort in dem Besitze eines Cafés, das sich getrost ähnlichen Stätten Berlins und Charlottenburgs an die Seite stellen kann. In der Verhandlung meinte der Vertreter des Klägers, Justizrat Dr. Schoeps aus Berlin, dass es vor dem Kreisausschuss sicher zur Konzessionserteilung gekommen wäre, wenn die Konkurrenz des Klägers sich nicht an diese Instanz gewendet und ihre Zukunft in schwarzen Farben gemalt hätte. Dass derartige Cafés bestehen könnten, bewiesen die vielen ähnlichen Gründungen am Kurfürstendamm und am Zoologischen Garten, die sämtlich zu gewissen Zeiten überfüllt seien. Der Anwalt verlas ein Schreiben des Handel- und Gewerbevereins von Friedenau, in dem dieser ausführt, dass das Café des Klägers einem dringenden Bedürfnis von Friedenau entspreche, und wies auf den ‚Friedenauer Lokal-Anzeiger‘ hin, in dem der Verwunderung des Publikums Ausdruck gegeben wird, dass das fertige Café noch immer nicht eröffnet wird. Der Amts- und Gemeindevorsteher sprach sich sehr warm für die Erteilung der Konzession aus. Es sei zu erwarten, dass das Café das gesamte vornehme Publikum Friedenaus anziehen werde. Seine damalige Ablehnung gegen das Projekt begründete er damit, dass er über den wahren Charakter des Etablissements erst später Aufklärung erhalten habe. Nach seiner Überzeugung habe die Konkurrenz Nachteile nicht zu erwarten, da die übrigen Lokale etwas anderes bieten als der Kläger. Letzterer habe keine größere Summe zu Wohltätigkeitszwecken gestiftet, um für sich Stimmung zu machen. Aber auch, wenn dies wahr wäre, so würde er sich nicht dadurch beeinflussen lassen. Er sei davon überzeugt, dass der Kläger die feste Absicht habe, das Café in der gedachten Weise einzurichten. Der Bezirksausschuss erteilte die Konzession.

 

Nach monatelangem Streit wurde das mit größter Eleganz ausgestattete Café Woerz am 24. Mai 1912 eröffnet: Sowohl am Eröffnungstage, wie an den folgenden Tagen hatte es einen außerordentlich starken Besuch aufzuweisen. Wiederholt sah sich der Inhaber genötigt, den Eingang zu schließen, denn nur so war es möglich, dem Massenandrang zu begegnen. Die Gänge blieben schon nicht mehr frei und Spiel- und Billardzimmer mussten als Gastzimmer mitbenutzt werden. Dieser lebhafte Besuch beweist, dass unser Publikum ein derartiges Lokal in unserem Orte wünschte und dass mit seiner Konzessionierung einem dringenden Bedürfnis abgeholfen wurde. Viel Beifall fand die von Herrn Woerz bestellte Kapelle unter Leitung des Herrn Kapellmeisters Zimmermann, die stimmungsvolle Weisen in guter Abwechslung zu Gehör brachte. Wer einmal im Café Woerz Platz gefunden hatte, dachte so schnell nicht ans nach Hause gehen. Daher kann man wohl auch nicht davon sprechen, dass es nur Neugierde war, die so viele Besucher ständig anlockte.

 

Am 12. August 1912 nahm der Verein der Friedenauer Gast- und Schankwirte den Kollegen Karl Woerz als neues Mitglied auf. Sechs Jahre wurden die Räume im Juni 1920 umgestaltet: Anstelle der hellen, grellen Farben sind bunte, warme Farbentöne getreten. Diese milde Wirkung üben auch die neuen Beleuchtungskörper aus, mit faltiger, farbiger Seidenverkleidung versehende elektrische Kronen. Aber auch sonst ist die Ausstattung farbenfreudiger, anheimelnder gestaltet. Vier riesige Palmen, Blumenkrippen und Blumentöpfchen auf weißgedeckten Tischen beleben den behaglichen, intim erscheinenden Raum, in den auch eine größere Zahl hübscher Korblehnstühle hineingestellt ist. Besonders traulich sind die beiden erhöhten Nischen zu beiden Seiten des Büfetts gehalten. Die Kleiderablage hat ihren Platz jetzt gleich am Eingang erhalten. Dem Café angeschlossen ist eine vornehm und gemütlich eingerichtete Weinabteilung, sowie eine mit humorvoller Wandmalerei und gedämpfter Beleuchtung versehene Likörstube. Auch die Vorgartenterrasse bietet an warmen Tagen einen angenehmen Aufenthalt.

 

Es muss davon ausgegangen werden, dass Cafétier Karl Woerz und Hauseigentümer Julius Wittkower in den 1920er Jahren verstorben sind. Inhaberin des Café Woerz ist ab 1925 Frau Clara Woerz und als Eigentümerin des Hauses Illstraße Nr. 14 wird ab 1929 Frau Wittkower aufgeführt. 1933 zieht in das Caféhaus die Apotheke von H. Wilkowitz ein. 1936 ging das Grundstück in den Besitz von Frau G. Lewenberg in Charlottenburg über. Ab 1940 ist als Eigentümer die Deutsche Anwalt- und Notarversicherung Halle eingetragen.