Kinderparadies

 

Auf der Frankfurter Antiquariatsmesse wurde Kinderparadies zum Preis von 950 Euro angeboten, ein großes Bilderbuch für Deutschlands Kinderwelt, mit mehrfarbigen Illustrationen von Johann Bahr und Versen von Eduard Jürgensen, 64 Seiten, Verlag Peter J. Oestergaard Schöneberg, 1897. Der stolze Preis lässt sich nur damit erklären, dass es die erste und wohl einzige Ausgabe geblieben ist.

 

Eduard Jürgensen (1847-1910) war in Rendsburg geboren worden und damit Holsteiner, Johann Bahr (1859-1930) in Flensburg, was damals noch Schleswig war. Der Deutsch-Dänische Krieg von 1864 und der Kampf bei den Düppeler Schanzen war gegenwärtig wie auch 1867 die Bildung der preußischen Provinz Schleswig-Holstein. Beide haben das Land an der Ostsee nach der Schulzeit verlassen. Mit 18 Jahren versuchte Jürgensen sein Glück in Amerika, kehrte zurück und zog 1870/71 „als Freiwilliger für Deutschlands Ehre gegen den Erbfeind“ in den Krieg. Der Obergefreite heiratete 1874 Agnes geb. Rühl. Sein Schwiegervater machte ihn 1876 zum Inhaber eines Geschäfts für Farben und technische Drogen in der Großen Frankfurter Straße Nr. 103, was später um Kolonialwaren, Leim und Schellack erweitert wurde. 1881 kam das Aus. Jürgensen entschied sich für die Schriftstellerei und zog mit Ehefrau Agnes zuerst auf ein Gut bei Oranienburg, dann 1886 vorerst in die Sommerwohnung Ringstraße Nr. 21-28. Später war er unter den Adressen Niedstraße Nr. 21 (1887), Rheinstraße Nr. 45 (1890), Handjerystraße Nr. 80 (1896-1899) und ab 1903 bis zu seinem Tod 1910 Ringstraße Nr. 25 (Dickhardtstraße) zu erreichen. 1891 war er mit Münchhausen der Jüngste und andere Lügenden und mit Plattdütsche Burenleeder im Buchhandel vertreten.

 

 

 

 

 

Bahr wiederum heuerte 1883/84 als Maschinist auf den Dampfern Luxor, Menes und Wotan an: Hamburg-St. Vincent, Hamburg-Montevideo-Punta Arenas, Bremen-New Orleans. Dann hatte er genug von der Welt gesehen und studierte ab 1885 an der Hochschule für bildende Künste in Charlottenburg. Bereits 1889 erschien seine Druckgrafik Unfall in einer Maschinenfabrik als Anzeige der Deutschen Allgemeinen Ausstellung für Unfallverhütung in der Leipziger Illustrirte Zeitung. Wenig später gehörte er zu den vielbeschäftigten Karikaturisten der Zeitschriften Fliegende Blätter und Lustige Blätter. 1893 war er mit Frau und Tochter in die Handjerystraße Nr. 75 gezogen.

 

Am 29. Dezember 1894 fand im Saal des Restaurants Hohenzollern der zweite Friedenauer Gesellschaftsabend statt. Umjubelter Höhepunkt war die Vorführung von Weihnacht. Der Marinemaler Hans Bohrdt (1857-1945) und der Karikaturist Johann Bahr hatten drei gestellte lebende Bilder auf die Bühne gebracht, zu denen Eduard Jürgensen den verbindenden Text gedichtet und auch gesprochen hatte. Es ist wohl davon auszugehen, dass aus dieser Euphorie heraus von Bahr und Jürgensen 1897 die „Struwwelpeteriade“ entstand, wobei die unsinnigen Geschichten offensichtlich erst nach den Bildern geschaffen wurden. Geschenkt haben sich beide nichts. Die Verse sind ebenso drastisch wie die überzogenen Karikaturen: Berichtet wird von der dicken Lotte, die seit frühester Kindheit wie ihr Mops zuviel zu essen bekommt, und deshalb faul und unbeweglich ist. Nachdem ihr der Doktor Ernst Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, Sport verschrieben hat, wird sie schlank und eine gute Schülerin. Ihr Mops dagegen frisst weiter, bis er an einem Kotelett erstickt und am 13. Juli 1897 mit Grabstein beerdigt wird. Doch damit nicht genug: Damit ein Buch ein Buch wird und 64 Seiten zusammenkommen, wurden noch weitere Geschichten hinzugefügt: Von Fritz, dem Ruppsack, ein böser Bube mit allen Lastern, schmutzig, frech, sadistisch und gierig, dessen Bauch sich von zu viel gegessenen rohen Klößen aufbläht und mit Rizinus behandelt werden muss, von einem Kätzchen, das einen Goldfisch aus einem Glas frisst und von einem Bär als Weihnachtsmann. Es blieb bei dieser einmaligen Zusammenarbeit von Bahr und Jürgensen.

 

Eduard Jürgensen: Verse aus dem Friedenauer Lokal-Anzeiger

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Dem kürzlich verstorbenen Dichter zum Gedächtnis, März 1910

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Aufruf vom 3. Januar 1913

 

Drei Jahre nach dem Tod von Eduard Jürgensen fiel einigen Friedenauern auf, dass sein Grab auf dem Friedhof an der Stubenrauchstraße noch keinen Denkstein aufweist und seine Ruhestätte namenlos ist. Dabei hatte doch der „Friedenauer Lokal-Anzeiger“ 1910 im Nachruf dezent wissen lassen, dass Witwe Agnes Jürgensen über die wahren „Verhältnisse des Hausstandes vielfach gar nicht oder nur ungenügend unterrichtet war“.

 

So kam es bereits am 18. April 1910 zu einem Eduard Jürgensen-Gedenkabend: Der überaus zahlreiche Besuch bezeugte die Verehrung für den in unserem Orte allgemein beliebt gewesenen „Onkel Ete", bewies aber auch die Opferwilligkeit und Freudigkeit unserer Bürgerschaft, die gern gibt, wo sie Not weiß. Da sich alle Künstler uneigennützig zu Verfügung stellten, konnte der Witwe des Dichters die Einnahme des Abends ungekürzt zugutekommen. Nach den Vorträgen folgte einer Versteigerung von Gemälden, Büchern, Stahlwaren, Bismarck-Statue, die für den Abend gestiftet wurden, darunter Arbeiten der Karikaturisten Johann Bahr und Franz Jüttner. Zu wünschen wäre nur gewesen, dass anstatt der Versteigerung eine Verlosung stattgefunden hätte; es wäre für die hübschen Geschenke dann ein höherer Betrag herausgekommen. So gingen einige Sachen geradezu zum Spottpreise fort.

 

1913 hatte es also ein Ausschuss unternommen, dem Dichter Eduard Jürgensen einen künstlerischen Grabstein zu setzen. Sein Landsmann, der Bildhauer Heinrich Mißfeldt, Friedenau, Wilhelmstr. 7, hat sich bereit erklärt, das Denkmal zum Selbstkostenpreise auszuführen. 350 M. werden — für einen schlichten Granitblock mit Medaillon — erforderlich sein. Rund 250 M. sind erst zur Verfügung des Ausschusses, so dass noch 100 M. fehlen. An alle, denen Eduard Jürgensen einmal aus dem Herzen gesungen, richtet der unterzeichnete Ausschuss daher die Bitte, zur Deckung des Restbetrages freundlichst beitragen zu wollen. Am 8. Mai 1913 konnte der Gedenkstein an die Witwe übergeben werden.

 

Der Friedenauer Lokal-Anzeiger hatte im Nachruf von 1910 noch einmal daran erinnert, dass das Lebenswerk von Eduard Jürgensen Stückwerk ist, dem der Zusammenhang fehlt, das geschlossene Ganze. Seine Manuskripte sind verstreut, es fehlt die ordnende Hand, um aus dem Verstreuten ein Ganzes zu machen. Am 14. Dezember 1913 starb Jürgensen Ehefrau Agnes. Damit waren auch alle Hoffnungen auf eine Bestandsaufnahme der Arbeiten von Eduard Jürgensen hinfällig. Die Grabstätte der Jürgensens ist längst eingeebnet. Zurückgeblieben sind „Titel“: Schriftsteller, Dichter, Poet, Mitbürger, Menschenfreund, Lokalpatriot oder auch Onkel Ete.

 

Dies ist die Zukunft Friedenaus

 

Inmitten riesigen Radau‘s,

Umgeben rings von wüstem Toben,

Liegt still und friedlich — hoch dadroben — *

Ein schmuckes „Dorf". — Mit grünen Bäumen

Tat man die Häuser hübsch umsäumen

Und wo sich je ein Plätzchen fand,

Ein freies, war man flugs zur Hand

Mit bunten Blumen es zu schmücken,

Um Herz und Auge zu entzücken.

So war‘s; so wird‘s in Zukunft sein. —

Und kommt dann von Berlin herein

Nach 15 oder 20 Jahren

Ein Großstadtmensch mal angefahren

Und steckt in unsre frische Luft

Voll Blüten- und voll Blumenduft

Mit Wohlbehagen seine Nase,

So ruft er gleich: „Wat? ‚ne Oase?

Ick hab jejloobt, bet wär' hier ‘n Dorf

Mit Mist un Rooch von schwarzen Torf;

Hier zieh' ick nächste Woche raus!"

Drauf spricht ein Bürger Friedenaus:

„Bedaure, werter Herr, besetzt!!

Wir haben hier Bewohner jetzt

Genug, just neunundfünfzig Tausend!"

Dann schreit der Fremde wild aufbrausend:

„Na, heer‘n Se mal, det is ja doll!

Del soll woll heeßen, hier is‘t voll

Und Keener kommt hier mehr herin?

Is det valleicht der Rede Sinn:"

„Ja, allerdings, das geht nicht an!"

Meint drauf der Friedenauer Mann.

„So, so? Un Ihr wollt hier uf Erden

Denn noch woll niemals „Städter" werden?

Na, denn adje, Du Vorortsbauer!" —

Drob lächelt unser Friedenauer

Und dreht mit großem Stolz sich um:

Civis Friedenautilus sum!