Als die ersten Berliner 1874 ihre Landhäuser bezogen, hieß der Weg noch Bahnstraße. Um eine Verwechslung mit der gleichnamigen Straße in Schöneberg zu vermeiden, wurde die Bahnstraße am 22. Oktober 1875 in Saarstraße umbenannt. Die Saarstraße gehörte zu den begehrten Straßen und wurde wohl deshalb 1883 um das Stück zwischen Kaisereiche und Friedrich-Wilhelm-Platz erweitert. 1890 wurde dies rückgängig gemacht. Es entstand die Kirchstraße (ab 1962 Schmiljanstraße), was nach Alfred Bürkner damals ein ziemliches Hausnummern-Durcheinander bedeutete.

 

Nachdem der Gründungsschwindel des David Born aufgeflogen war und sein Landerwerb und Bauverein auf Actien die versprochene Dividende nicht ausschütten konnte, bestand die Colonie Friedenau hauptsächlich aus unvollendeten Baustellen. Als sich die Lage beruhigt hatte, kamen die Bauordnungen von 1887 und 1893. Nun konnten auch in den Vororten Landhäuser aus der Gründerzeit abgebrochen, Grundstücke geteilt und mehrstöckige Mietswohnhäuser errichtet werden.

 

1894 bestand schon Einigkeit darüber, dass eine Brücke über Stammbahn- und Wannseebahntrasse sowohl für jenen im Entstehen begriffenen östlichen Schöneberger Stadtteil als auch für die weitere Entwicklung von Friedenau wünschenswert wäre. Kompliziert, weil dort die Gemarkungen von Friedenau (Saarstraße), Schöneberg (Rembrandtstraße) und Steglitz (Körnerstraße) aufeinandertrafen. Am 16. Februar 1899 wurde die Saarstraßenbrücke eingeweiht und 1906 mit dem Namen Friedenauer Brücke bedacht.

 

Mit der Bekanntmachung vom 17. Juli 1902 brachte der Friedenauer Gemeindevorstand zur öffentlichen Kenntnis, daß wir die Umnummerierung der Saarstraße beschlossen haben. Nach dem aufgestellten Nummerirungplan erhalten die Grundstücke der Saarstraße folgende neuen Nummern, beispielsweise wurde aus Nr. 10 die Nr. 14 und aus Nr. 14 die Nr. 19. Diese Nummerierung ist im Prinzip bis heute gültig.

 

Nachzutragen ist, dass die Häuser Saarstraße Nr. 11 (Ecke Fregestraße Nr. 55) und Nr. 11a (an der Friedenauer Brücke) zu Steglitz und das Grundstück Saarstraße Nr. 12/Fregestraße Nr. 56 zu Schöneberg gehört – letzteres wurde mit dem Ausbau der Saarstraße als Zubringer zur Westtangente abgerissen. Für die Verbreiterung der Saarstraße, auf der bis zur Einstellung am 1. März 1961 noch die Straßenbahnlinie 88 zwischen Steglitz Stadtpark über Knausstraße, Saarstraße, Kaisereiche, Rheinstraße, Lauterplatz, Hauptstraße und Innsbrucker Platz bis zur Potsdamer Straße fuhr, wurden beiderseits der Saarstraße auch die Vorgärten entfernt.

 

ePaper
Bebauungsplan Saarstraße 1958

Teilen:
Aron Bernstein um 1883. Fotografie von Wilhelm Fechner

Saarstraße Nr. 1

Aaron Bernstein (1812-1884)

 

Aaron Bernstein zog 1877 in das Haus Saarstraße Nr. 1 von Baumeister Hermann Hähnel ein. Zwei Jahre später wohnte er Rheinstr. 43 und 1883 ist er als Mieter in der Villa Born (Haus des Lichterfelder Bauvereins) des Architekten Adolph Born (1855-1924) in der Lichterfelder Wilhelmstraße Nr. 8 gemeldet. In Lichterfelde ist er 1884 gestorben.

 

Aaron Bernstein wuchs in Danzig als Sohn eines Rabbiners auf und bereitete sich zunächst in der Talmudschule auf den Rabbinerstand vor. 1832 ging er nach Berlin, erlernte durch Selbststudium die deutsche Sprache und eignete sich Kenntnisse in Literatur und Naturwissenschaften an. Während einiger Jahre verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Verkäufer von antiquarischen Büchern. 1860 veröffentlichte er (vielfach in Dialekt) Novellen über das jüdische Volksleben in den deutschen Kleinstädten. 1876 verlieh ihm die Philosophische Fakultät der Universität Tübingen wegen besonderer wissenschaftlicher Verdienste den akademischen Grad des Doktors der Philosophie honoris causa (Dr. phil. h.c.) – gemeint waren damit wohl seine ‚Naturwissenschaftlichen Volksbücher‘. Für das illustrierte Familienblatt ‚Die Gartenlaube‘ schrieb er zwischen 1869 und 1893 einige Artikel. Das Blatt stellt den Autor 1861 Vor: Was wir nachstehend von dem Lebensgange Bernstein’s mittheilen, verdanken wir den Notizen einiger seiner Freunde – daß das Material, welches uns zu Gebote steht, ein nur spärliches ist, hat seinen Grund einmal in der Bescheidenheit des Mannes, der es verschmähte, eine Berühmtheit zu werden, und dann in der Thatsache, daß sein Leben bisher kein äußerlich bewegtes, sondern ein tief innerliches war, welches nur er selbst einmal in dem ganzen Reichthum geistiger Kämpfe und Erlebnisse wird darstellen können. So lange seine fruchtbare Wirksamkeit nach außen uns eine solche Selbstschau nicht in Aussicht stellt, müssen wir versuchen, aus der reichen und mannigfachen Thätigkeit des Mannes ein Bild seines eigensten Wesens zu gewinnen.

 

 

Nach seinem Tod veröffentlichte ‚Die Gartenlaube‘ in Heft 9, 1884 folgenden Nachruf: Dr. A. Bernstein †. Einen treuen Freund hat uns der Tod entrissen, den Verlust eines ehrenvollen Mannes müssen wir heute betrauern. Nach schwerem, aber glücklicher Weise kurzem Leiden starb am 11. Februar Dr. Aaron Bernstein, einer der ältesten Mitarbeiter der „Gartenlaube“. Schon im Jahre 1861 haben wir den „alten Bernstein“ unsern Lesern vorgeführt, da er in der Blüthe seines Lebens stand, ein unerschrockener Kämpfer für die Freiheit und die Aufklärung des Volkes. Sein Lebensbild war schon damals so gut wie abgeschlossen, der Ruhm des Pfadfinders für den politischen Leitartikel in Deutschland war ihm ebenso gesichert, wie der Ruf des Begründers eines neuen Literaturzweiges, der Popularisirung der Naturwissenschaften. Was er in den letzten zwanzig Jahren noch geschaffen, das war nur eine Fortsetzung seines früheren ersprießlichen Wirkens, ein unermüdliches Streben, den reichen Schatz der Wissenschaft den breitesten Schichten unseres Volkes zu erschließen. Zu diesem Zwecke trat er in letzter Zeit in engere Beziehungen zur „Gartenlaube“, und bot unseren Lesern das vortreffliche Charakterbild des großen Volksmannes Schulze-Delitzsch und die geistvolle Erinnerung an das helle Doppelgestirn der deutschen Wissenschaft, die „zwei Brüder“ Alexander und Wilhelm von Humboldt. In diesem Jahre beabsichtigte er die Fortschritte der Elektrotechnik in unserem Blatte zu behandeln und trug uns Pläne über neue große literarische Unternehmungen vor, denn sein rüstiger Geist ahnte nicht, daß er abberufen werde von seinem mit seltener Pflichttreue behaupteten Posten. Legen wir den wohlverdienten Lorbeerkranz auf sein frisches Grab nieder und bewahren ihm das liebevolle Andenken, das wir ihm schulden!

 

Villa Fröauf in der Saarstraße um 1875. Archiv Rüdiger Barasch

Saarstraße Nr. 3

 

Das erste Haus dieser Adresse gehörte dem Geheimen Rechnungsrat und Kommunalpolitiker Wilhelm Fröauf (1814-1899), der hier von 1877 bis 1891 lebte. 1883 zog in dieses Haus auch der Philosoph Adolf Lasson (1832-1917), zu dieser Zeit Oberlehrer am Luisenstädtischen Realgymnasium und Dozent an der Berliner Universität. Ab 1897 lehrte er dort als Professor der Philosophie. Lasson, der letzte Hegelianer auf dem Berliner Katheder und anerkannter Aristoteles-Übersetzer, erhob die Freiheit zum Prinzip der Theologie. Zu seinen Hauptwerken zählen System der Rechtsphilosophie (1882), Das Gedächtnis (1894), Der Leib (1896), Über den Zufall (1918). Er ist beigesetzt auf dem Friedhof I der Georgen-Parochial-Gemeinde im Bezirk Prenzlauer Berg, der Grabstein ist 1994 umgestürzt und geborsten.

Alfred Bürkner, 1996

Saarstaße 4, 1951. Sammlung Staudt. Musem Schöneberg

Saarstraße Nr. 4

 

 

In Vorbereitung

 

 

Saarstraße 6, 1950. Sammlung Staudt. Museum Schöneberg

Saarstraße Nr. 6

 

 

 

In Vorbereitung

Saarstraße 7 Ecke Dickhardtstraße, 1999. Topographie Friedenau, 2000

Saarstraße Nr. 7

 

Das viergeschossige Eckhaus Saarstraße Nr. 7/Dickhardtstraße 42-43 wurde 1909/10 nach Plänen des Architekten Richard Preuß errichtet. Das Haus hat zwei Eingänge: an der Dickhardt- und an der Saarstraße. Die Baumasse und die Straßenfassaden des Doppel-Mietwohnhauses sind asymmetrisch aufgebaut und gegliedert. Beide Fassaden sind durch deutlich unregelmäßig angeordnete breite Erker mit hohen Quergiebeln vor dem Mansarddach akzentuiert. An die Erker sind offene und geschlossene Loggien angefügt. An der Saarstraße verstärkt ein weiterer schmalerer Erker mit kleinem Turmhelm die Asymmetrie. Die beiden Hauseingänge eröffnen kleine holzvertäfelte Vestibüle, die Treppenaufgänge erschließen jeweils zwei Wohnungen pro Geschoss. Das Haus gehört zum Berliner Reformmietshausbau und erinnert an Mietwohnhäuser von Albert Geßner, etwa an die Einküchenhäuser in der Wilhelmshöher Straße. Topographie Friedenau, 2000

 

Saarstraße 8. Topographie Friedenau, 2000

Saarstraße Nr. 8

 

Das viergeschossige Nachbarhaus Saarstraße Nr. 8 auf hohem Souterrain wurde 1908/09 nach den Plänen von Carl Kremser und Albert Weber erbaut. Das Haus ist ein Zweispänner mit Vorderhaus und kurzen Seitenflügeln. Der Grundriss zeigt pro Geschoß eine 4- und eine 6-Zimmer-Wohnung, jedoch können durch die veränderbare Zuordnung des Zimmers in der Mittelachse des Hauses auch zwei 5-Zimmer-Wohnungen mit Küche, Mädchenkammer, Bad und WC entstehen. Diese Variabilität der Wohnungsgröße wird dadurch möglich, dass ein Zimmer von beiden Seiten erschlossen werden kann. Die eigentlich symmetrische Straßenfassade mit Erkern und Loggien beiderseits der Mittelachse wird durch asymmetrische Elemente (ungleich breite Erker, eine kleine zusätzliche Fensterachse in der Mitte, Ausmittigkeit der Mittelachse und so weiter) lebhaft gegliedert. Das Souterrain und das Hochparterre sind verklinkert, das erste und zweite Obergeschoss verputzt und das dritte mit Ziegelbehang und einem Fußwalm versehen. Die Fensterformate wechseln in jedem Geschoss. Die Loggien sind wintergartenartig verglast. Die Fassade des Hauses gehört zu den interessantesten und lebendigsten Fassaden des Reformmietshausbaus in Friedenau.

Topographie Friedenau, 2000

 

Landhaus Saarstraße 14. Aufnahme von 1988, Topographie Friedenau

Saarstraße Nr. 14

Johannes Homuth (1839-1922)

 

Am 27. Januar 1980 wurde am Haus Saarstraße 14 eine Gedenktafel enthüllt: Hier wohnte von 1900 bis 1902 Karl Kautsky * 16.10.1854 -17.10. 1938 Führender Theoretiker der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. Interessiert hat es nicht viele. Alfred Bürkner machte in seinem Buch über Friedenau 1996 als Erster darauf aufmerksam, daß dieses Landhaus dem Geheimen Kanzleirat und Gemeindeverordneten Johannes Homuth (1839-1922) gehörte – und an der Frontseite des Hauses eine Tafel an den Publizisten Karl Kautsky (1854-1938) erinnert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Daß diese Gedenktafel am falschen Haus angebracht wurde, fiel erst 2009 auf, nachdem die Sozialistische Jugend Deutschlands (Die Falken) das Anwesen Saarstraße 14 erworben hatte. Vermutlich war es der Architekt Martin Beisenwenger, der die Restaurierung des inzwischen unter Denkmalschutz stehenden Hauses übernommen hatte.

 

 

 

 

 

 

 

Die Recherche ergab, daß sich das einzige noch existierende Landhaus aus der Frühzeit von Friedenau der Kanzleirat und Friedenauer Gemeindeschöffe Johannes Homuth 1884/86 hatte errichten lassen. Den Entwurf lieferte der Zimmermeister und Architekt Wilhelm Spieß, seit 1884 Mitinhaber des Baugeschäfts Kreuschmer & Co. in der Rheinstraße Nr. 8. Spieß reagierte auf die Probleme mit Häusern der Gründerjahre, bei denen die Putz-Fassaden auf der Wetterseite alsbald Schäden aufwiesen. Da inzwischen rings um Berlin diverse Hoffmann‘sche Ringöfen wetterfeste Ziegel herstellten, wurde die Außenfront des Hauses mit gebrannten gelben Sichtziegeln hochgemauert und mit spätklassizistischem Putzdekor garniert. Für die Topographie Friedenau 2000 zeigt das Landhaus einen zweigeschossigen Quergiebel und einen daran anschließenden eingeschossigen, traufständigen Teil. Der Vierfelder-Grundriss des Hauses wird vom Eingang im nordwestlichen seitlichen Bauwich erschlossen.

 

Nachbarn waren 1886 der Geheime Rechnungsrat Wilhelm Fröauf (1814-1899) und der Geheime Kanzleirat Ludwig Blankenberg, die 1871 über den Landerwerb- und Bauverein auf Actien die Landhauskolonie mitgründeten, sich die attraktivsten Grundstücke in der Saarstraße sicherten und als Kommunalpolitiker das Werden von Friedenau wesentlich prägten.

 

Johannes Homuth war der Sohn von Carl Ludwig Homuth und Johanne Emilie geborene Bonnett. Er wurde am 30. März 1839 in Arnswalde (Neumark) geboren. Mit 27 Jahren zog er 1866 in den Deutsch-Deutschen Bruderkrieg. Dafür erhielt er das Mecklenburg-Schwerin’sche Militär-Verdienstkreuz II. Klasse am roten Bande. 1869 trat er als Haupt-Steueramts-Assistent in den Staatsdienst ein – mit Wohnung in der Brandenburgstraße Nr. 65 II. Etage. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 war er Feldmagazinkontrolleur beim 13. Armeekorps. Mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse am weißen Bande ging es 1872 weiter als Geheimer Registrator des preußischen Finanzministeriums – mit Wohnung im zweiten Stock der Wasserthorstraße Nr. 45. Nach der Berufung zum Kanzlei-Rat 1882 folgte die Heirat mit Maria Homuth geborene Köhler (1843-1927) und der Umzug in die Wohnung Körnerstraße Nr. 3, III: Stock. Im Adreßbuch von 1885 steht der Hinweis ab 1. April Friedenau, Saarstraße Nr. 17.

 

1892 wurde Johannes Homuth zum Gemeindevertreter gewählt. 1896 erhielt er den Titel Geheimer Kanzleirat. 1906 wurde ihm ein Diplom überreicht, welches ausdrückt, daß durch Beschluß der Gemeinde-Vertretung die Straße 8 den Namen Homuthstraße erhalten habe. Am 21. März 1910 wurde er in Anerkennung seiner Verdienste um Friedenau zum Gemeindeältesten ernannt.

 

Johannes Homuth hat in Friedenau einiges erlebt, darunter die diversen Berliner Bauordnungen, wonach auch in den Vororten Landhäuser aus der Gründerzeit abgebrochen, Grundstücke geteilt und darauf mehrstöckige Mietswohnhäuser errichtet werden konnten. Der Friedenauer Lokal-Anzeiger beklagte bereits 1901, dass die Saarstraße im nächsten Jahr ihren Charakter als Villenstraße wohl gänzlich verlieren wird. Herr Homuth wird sich nicht mehr heimisch fühlen und sein altes trautes Heim dann auch wohl verkaufen. Homuth blieb, nahm die diversen Umnummerierungen der Saarstraße hin, mal Nr. 17, mal Nr. 10 und schließlich ab 1902 Saarstraße Nr. 14.

 

Am Niedergang der einst feinen Adresse Saarstraße war Homuth nicht unbeteiligt. Er unterstützte den Bau der Friedenauer Brücke, akzeptierte für die Linienführung der Straßenbahn den Wegfall der Vorgärten und nahm es hin, daß sein freistehendes Landhaus nun beidseitig von den Brandmauern der viergeschossigen Nachbarhäuser Nr. 13 und Nr. 15 eingekeilt wurde.

 

 

Am 2. März 1922 erschien im Standesamt Friedenau der Fabrikant (für Zahnärztliche Instrumente) Fritz Homuth, wohnhaft in Berlin, Alt Moabit 105, und zeigte an, daß der Geheime Kanzleirat Johannes Homuth, Gemeindeältester, 82 Jahre alt, wohnhaft in Berlin-Friedenau, Saarstraße 14, geboren zu Arnswalde, Kreis Arnswalde, verheiratet mit Maria Homuth geborene Köhler, zu Berlin-Friedenau, in seiner Wohnung, am 2. März 1922 vormittags um sechseinhalb Uhr verstorben sei. Seine Frau Maria starb am 16. September 1927. Beide wurden auf den Friedhof Stubenrauchstraße bestattet. Das Grab Nr. 25-1 ist bis heute erhalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1929 erwarb der Malermeister Hans Walldorf das Anwesen Saarstraße Nr. 14. Er setzte den seitlichen Anbau einer Garage und im Hinterhof den Bau eines Schuppens durch. Walldorf war bis 1954 Eigentümer. Im Grundbuch von Friedenau finden sich danach nachfolgende Eintragungen: Elisabeth Batzer (1999), Ursula Bußmann (2000 Erbschein), Hans Bußmann (2002 Erbvertrag), Martina Saddey (2004 Übereignung), Zeltlagerplatz e. V., Bonn (2004). Der Verein ist der Vermögensträger der Sozialistischen Jugend Deutschlands (Die Falken).

 

Am 12. März 2011 wurde unter der Adresse Saarstraße Nr. 14 das Luise & Karl Kautsky-Haus eröffnet. Land Berlin und Bezirksamt Schöneberg haben eine finanzielle Beteiligung verweigert. Da auf der 1980 am Haus Saarstraße Nr. 14 angebrachten Gedenktafel nur Karl Kautsky genannt wird, stimmte der Ausschuss für Bildung und Kultur der BVV Tempelhof-Schöneberg am 5. Mai 2011 einstimmig dem Antrag der SPD-Fraktion auf Schaffung einer Gedenktafel zu Ehren von Luise Kautsky an ihrem Friedenauer Wohnhaus Saarstraße 14 zu – obwohl längst bekannt war, daß die Familie Kautsky von 1900 bis 1902 nicht in der Nr. 14 sondern in der Nr. 19 wohnte. Dazu ist es bis heute nicht gekommen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nichtsdestotrotz machten die Schöneberger Sozialdemokraten mobil. Voran die Stadtteilzeitung, in der Ottmar Fischer die eingerichtete Bibliothek als ehemaliges Arbeitszimmer von Karl Kautsky deklarierte. Die Edition Friedenauer Brücke stand da nicht nach. In dem als Dokumentation von Hermann Ebling veröffentlichten Buch Friedenau erzählt - Geschichten aus einem Berliner Vorort 1871 bis 1914, behauptet der Autor seit 2007, daß Karl Kautsky (1854-1938) mit seiner Frau Luise geb. Ronsperger (1864–1944) sowie den Söhnen Karl (1891–1938), Felix (1892–1953) und Benedikt (1894–1960) von 1900 bis 1902 in der kleinen Villa mit Garten in der Saarstraße 14 wohnte. Turbulente Jahre erlebte das Haus. Bei den regelmäßig stattfindenden Sonntagsgesellschaften kam oftmals die gesamte Parteiprominenz zusammen, August Bebel und seine Frau Julie, der Publizist Franz Mehring mit seiner Gattin Eva. Das Kautsky’sche Haus glich zeitweise einem Bienenstock. Am häufigsten jedoch besuchte Rosa Luxemburg das Haus in der Saarstraße 14.

 

Was nicht passt, wurde passend gemacht, und die Gelegenheit genutzt, eine arg geschönte Geschichte der Sozialdemokratie auszubreiten. Wenn Nr. 14 nun Luise & Karl Kautsky-Haus ist, dann müssen die Kautskys auch dort gewohnt haben. Ärgerlich ist, daß dieses Werk seit 2007 auf dem Buchmarkt ist und nach dem verlagseigenen Motto, wir schreiben keine Bücher, sondern geben sie heraus, mit dieser Mähr noch immer verkauft wird. So erspart man sich Recherchen.

 

 

 

Der Architekt Martin Beisenwenger hat das Landhaus von Johannes Homuth gerettet. Die erhaltenen Details vermitteln einen Einblick in den Bau von 1884. Erhalten wurden die Grundrisse von Treppenhaus, Soutterrain und Hochparterre. Was er auf einer Geschossflächenzahl von 604 m² untergebracht hat, Seminarräume, Ausstellungsflächen, Büros und Bibliothek, nötigt Respekt ab, weil das ehrwürdige Haus respektiert wurde. Ob die steilen Stufen im Treppenhaus, Geländer, Fenster, Türen oder der Rohziegelbau mit dem Ziergiebel, alles wurde umsichtig restauriert – selbst das Bidet von anno dunnemals wurde erhalten.

 

Grabstätte Homuth auf dem Friedhof Stubenrauchstraße. Foto Hahn & Stich

Erhalten ist auch noch das Grab von Johannes und Maria Homuth geborene Köhler auf dem Friedhof Stubenrauchstraße – eines der wenigen erhaltenen Gräber aus der frühen Zeit von Friedenau – und im Januar 2024 noch mit dem roten Stein Ehrengrabstätte versehen.

 

Aus bisher unerklärlichen Gründen wurde die Grabstelle am 9. Dezember 1958 auf Antrag des Bezirkes Schöneberg vom Berliner Senat zur Ehrengrabstätte erhoben – 36 Jahre nach seinem Tod. Eine Begründung wird wegen Datenschutz nicht veröffentlicht.

 

Die Laufzeit wurde 1978 und 1998 wie üblich um jeweils 20 Jahre verlängert. Auf Anfrage teilte uns die Senatskanzlei 2021 mit, daß die weitere Anerkennung zusammen mit den anderen Stadtältesten ab 2026 nach den dann geltenden Vorschriften geprüft wird. Zu befürchten ist nun, daß nach den neuen Kriterien das Wirken von Johannes Homuth einer breiteren Öffentlichkeit nicht mehr deutlich präsent ist. Verliert das Grab demnächst seinen Schutz und wird eingeebnet

Saarstraße 18, 1953. Sammlung Staudt. Museum Schöneberg

Saarstraße Nr. 18

 

Im Archiv des Museums Schöneberg befindetn sich Aufnahmen von Herwarth Staudt, die der Fotograf am 27. September 11952 und am 21. August 1953 für das Baulenkungsamt Schöneberg erstellte. Die Fassade ist weitgehend erhalten. Im Innern haben die Bomben des Zweiten Weltkriegs erhebliche Spuren hinterlassen.

 

Im Bebauungsplan von 1958 ist das Haus eingetragen. Aktuelle Aufnahmen von 2021 deuten daraufhin, daß das ursprüngliche Haus von 1900/1901 später abgerissen und durch einen vierstöckigen Neubau mit Dachgeschossausbau sowie Toreinfahrten zum Innenhof ersetzt wurde.

 

PS

Eine Aufnahme vom nachfolgenden Haus Saarstraße Nr. 19 haben wir bisher nicht entdecken können. Auf Grund der Baugeschichte dieser Straße ist davon auszugehen, daß Nr. 19 im Stil ähnlich der Nr. 18 errichtet wurde.

 

Karl & Luise Kautsky. Fotoatelier Pinkau & Gehler Leipzig, 1902

Saarstraße Nr. 19

Die Kautskys

 

Am 27. Januar 1980 wurde am Landhaus Saarstraße Nr. 14 eine Bronzetafel enthüllt: Hier wohnte von 1900 bis 1902 Karl Kautsky * 16.10.1854 -17.10. 1938 Führender Theoretiker der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. Zu Verwirrungen kam es erst, als Die Falken am 12. März 2011 das Luise & Karl Kautsky-Haus eröffneten.

 

In der Stadtteilzeitung Schöneberg berichtete Ottmar Fischer über das ehemalige Arbeitszimmer von Karl Kautsky. Die Schöneberger SPD lud zu einem Politischen Salon im Wohnzimmer von Luise und Karl Kautsky ein und für die Edition Friedenauer Brücke hatte das Haus turbulente Jahre erlebt, als die Familie Kautsky in der kleinen Villa mit Garten wohnte und sich dort bei den Sonntagsgesellschaften die gesamte Parteiprominenz traf.

 

 

Nichts davon stimmt. Die Tafel war damals am falschen Haus mit einer falschen Inschrift angebracht worden. Die Kautskys wohnten von 1901 bis 1907 in der Saarstraße Nr. 19. Dieses Haus hat den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt. In dem bis heute erhaltenen Landhaus Saarstraße Nr. 14 wohnte bis zu seinem Tod 1922 der Kanzleirat und Friedenauer Gemeindeschöffe Johannes Homuth.

 

Karl Kautsky (1854-1938) und Ehefrau Luise geb. Ronsperger (1864-1944) waren 1890 von London nach Stuttgart in den III. Stock der Rothebühlstraße Nr. 64 gezogen. Neun Jahre später wurde er Redakteur der Neuen Zeit und mietete 1899 eine Wohnung im II. Stock der Hauffstraße Nr. 11 in Schöneberg. Ein Jahr später lautete die Adresse Schöneberg, Wielandstraße Nr. 24 (II. Stock). Luise Kautsky blieb offensichtlich vorerst in Stuttgart, wo jeweils die Söhne Felix (1891-1953), Karl jr. (1892-1978) und Benedikt (1894-1960) geboren wurden. Es ist davon auszugehen, daß dort die Dienstmagd Crescentia Wetschenbacher (1869-1922) engagiert wurde.

 

17. Juli 1902 Umnummerierung der Saarstraße

In der Saarstraße waren nach 1898 mehrere Grundstücke mit Landhäusern und großen Gärten geteilt worden. Aus 16 wurden 23 Grundstücke, auf denen mehrstöckige Mietshäuser entstanden. 1901 mietete Kautsky von Eigentümer Rendant Karl Lehment im III. Stock der Saarstraße Nr. 14 in Friedenau eine herrschaftliche Wohnung mit 6 Zimmern, Küche, Bad, Loggia und Mädchenkammer. Mit der Umnummerierung am 17. Juni 1902 wurde daraus die Saarstraße Nr. 19. Hier wohnten Karl und Luise, die Söhne Felix, Karl jr., Benedikt, die Dienstmagd Crescentia Wetschenbacher und für kurze Zeit auch Kautskys Mutter Minna – hier fanden dann auch die von Rosa Luxemburg zitierten Sonntagsgesellschaften der Parteiprominenz statt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von links Felix, Karl jr., Haushälterin Crescentia Wetschenbacher, Benedikt ca. 1904 Saarstraße 19, Friedenau. Quelle IISG

Im Archiv des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte Amsterdam ist eine Aufnahme erhalten: Ein Blick von der Loggia der Wohnung Saarstraße Nr. 19 auf die gegenüberligenden Mietshäuser, beschriftet mit von links Felix; Karl jr., Benedikt und eine unknow woman, bei der es sich um Crescentia Wetschenbacher handeln dürfte. Ein weiteres Foto, On a trip with the Friedenauer Gymnasium, Felix and Karl laying left.(o.J), zeigt die Schulklasse während eines Ausfluges. Die Aufnahme müsste am 2. Juni 1908 entstanden sein, da in der Schulchronik davon berichtet wurde, daß fast alle Klassen die Schiffbauausstellung besuchten, die Primaner besichtigten außerdem unter Leitung des Oberlehrers Winkler das hiesige Elektrizitätswerk, die Bildgießerei von Noack und die Gasanstalt in Schmargendorf. Im Schweizerischen Sozialarchiv fanden wir das Foto Rosa Luxemburg und Karl Kautsky jr., Weihnachten 1907. Es müsste in der Saarstraße Nr. 19 entstanden sein.

 

Es ist davon auszugehen, daß Felix, Karl jr. und später auch Benedikt Kautsky bis zur Eröffnung des Friedenauer Gymnasiums am Maybachplatz 1903 zuerst die Höhere Knabenschule in der Albestraße besuchten. Sie gehörten zu den ersten Schülern des Gymnasiums.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Karl Kautsky jr. & Rosa Luxemburg, Weihnachten 1907. Schweizerisches Sozialarchiv

1908 zogen die Kautskys mit den Söhnen und Crescentia Wetschenbacher in den III. Stock der Niedstraße Nr. 14. Zuvor wurde wahrscheinlich noch in der Saarstraße Nr. 19 Weihnachten gefeiert. Im Schweizerischen Sozialarchiv befindet sich dazu eine Aufnahme. Abgelichtet sind Rosa Luxemburg und Karl Kautsky jr. bei der Präsentation einer Bleistiftskizze.

 

Nach wie vor kam Rosa Luxemburg. In ihren Briefen geht sie auf Distanz und schreibt mäkelnd vom richtigen Familienabend mit Zeitungsschmökern bei Tisch und jüdischen Witzen von Benedikt. Felix und Karl jr. sind mir ganz lieb, aber sie plagen mich unausgesetzt mit Fragen nach Kostja Zetkin. Nicht grundlos, da wohl am Gymnasium gemunkelt wurde, daß es eine Liebesaffäre der 36-Jährigen mit dem 22-Jährigen geben soll.

 

Es ist davon auszugehen, daß Felix, Karl jr. und später auch Benedikt Kautsky bis zur Eröffnung des Friedenauer Gymnasiums am Maybachplatz 1903 zuerst die Höhere Knabenschule in der Albestraße besuchten. Sie gehörten dann zu den ersten Schülern des Gymnasiums.

 

Am 6. April 1909 verkündete der Friedenauer Lokal-Anzeiger, daß die Oberprimaner Felix Kautsky (gewählter Beruf Elektrotechnik) und Karl Kautsky (gewählter Beruf Medizin) Ostern 1909 die Reifeprüfung bestanden haben. Keine Erklärung findet sich dafür, warum Felix und Karl jr. 1908 Rosa Luxemburg einige Bücher über Afrika gaben, darunter Erwerbung Deutsch-Ostafrikas (Joachim von Pfeil), Reise im Sudan 1875 (Wilhelm Junkers) und Sudanneger (Philipp Paulitschke).

 

Von links Felix, Benedikt, Luise, Karl und Karl Kautsky jr., 1917. Quelle IISG

1917 erhielt Benedikt Kautsky die Einberufung zum Militär. Mutter Luise versammelte ihre Männer im Fotoatelier von Wertheim am Leipziger Platz – zum letzten Berliner Familienfoto: From left to right: Felix, Benedikt (in Uniform), Luise, Karl and Karl Junior. Die Aufnahme stammt aus dem Besitz von Edith Fresco-Kautsky (1925-2006), der Tochter von Benedikt Kautsky und seiner Ehefrau Gerda Brunn (1895-1964).

 

Am 28. September 1917 erschien in der Neuen Zeit eine Notiz: Der Schluß des Artikels: ‚Das Elsaß in der Geschichte' von K. Kautsky muß zurückgestellt werden. Mit dieser Mitteilung endete die redaktionelle und schriftstellerische Mitarbeit von Karl Kautsky.

 

 

 

 

Mitten im Ersten Weltkrieg, als es bei der SPD um die Frage für oder gegen den Krieg ging, trennte sich die Partei vom Initiator, Mitgründer und Chefredakteur der Zeitschrift. Kautsky wurde von der Parteiführung isoliert und gründete 1917 mit Eduard Bernstein die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Schließlich kam es zum politischen und persönlichen Zerwürfnis zwischen Rosa Luxemburg und Karl Kautsky.

 

1924 zog das Ehepaar Kautsky nach Wien, wo sich inzwischen auch die Söhne niedergelassen hatten. Nach dem Anschluss Österreichs am 12. März 1938 flogen Karl und Luise Kautsky am Morgen des 15. März 1938 von Wien nach Bratislava und fuhren von dort per Zug direkt nach Prag. Von dort flogen sie am 18. März 1938 mit einer tschechischen Linienmaschine nach Amsterdam-Schiphol. Karl Kautsky starb am 17. Oktober 1938 in Amsterdam. Luise Kautsky übergab den Nachlass ihres Mannes dem Internationalen Archiv für Sozialgeschichte. 1944 wurde sie aus dem Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert. Wenige Wochen später starb die 80-Jährige an Herzschwäche.

 

Bleibt noch die Geschichte der unverehelichten Dienstmagd katholischer Religion Crescentia Wetschenbacher. Die Tochter des Zimmermeisters Anton Wetschenbacher zu Zöbingen, Kreis Ellwangen im baden.württembergischen Ostalbkreis, wohnhaft in Mainz, Kleiststraße Nr. 24, brachte am 11. Dezember 1894 in der Großherzoglichen Entbindungsanstalt Mainz Sohn Anton Wetschenbacher (1894-1941) zur Welt. Wie es zu ihrem Arbeitsverhältnis mit den Kautskys kam, bleibt unbekannt. Fast drei Jahrzehnte war sie im Dienst der Familie Kautsky. Für Rosa Luxemburg ist es die Zenzi.

                                 

Im Friedenauer Lokal-Anzeiger vom 11. Dezember 1905 erscheint erstmals ihr Name: Bei der Prämienverteilung an diejenigen Sparer, welche dem Gesindestande im Sinne der Gesindeordnung von 1810 angehören, nachweislich während der letzten 5 Jahre bei ein und derselben Herrschaft gedient und während desselben Zeitraums bei der Sparkasse des Kreises Teltow Spareinlagen gemacht, Crescentia Wetschenbacher bei Redakteur Kautsky eine Pämie von 15. Mark erhalten. Diese Prämien erhielt sie bis in die Weltkriegsjahre.

 

Ihr Sohn Anton Wetschenbacher, inzwischen 27 und Schlosser, war 1921 nach Berlin-Lichterfelde, Zehlendorfer Straße 2A, gezogen. 1922 erschien er beim Standesamt Charlottenburg und zeigte an, daß die unverehelichte Stütze Crescentia Wetschenbacher, wohnhaft in Charlottenburg, Windscheidtstraße Nr. 31, 53 Jahre alt, geboren in Zöbingen, Kreis Ellwangen, am 19. Juni 1922 im Krankenhaus Westend verstorben sei. Anton Wetschenbacher verstarb am 4. April 1941 in Berlin-Niederschönhausen im Krankenhaus Nordend im Alter von 47 Jahren.

 

Ausführliche Beiträge und Fotos zu den Kautsky-Söhnen Felix, Karl jr. & Benedikt finden Sie unter dem Menüpunkt Perelsplatz HintergründeNamhafte Schüler des Gymnasiums am Maybachplatz.