Der Name Rotdornstraße taucht erstmals 1905 im Zusammenhang mit Nr. 1 Baustelle, Nr. 2 Neubau Eigentümer Malermeister Riklniewicz und weitere Baustellen auf. Obwohl die Gemeinde-Vertretung für die Erstbepflanzung mit Straßenbäumen Rotdorne beschlossen hatte, pflanzte seinerzeit die Gartenverwaltung ganz eigenmächtig Weißdorne an. Nichtsdestotrotz teilte Amts-Vorsteher Bernhard Schnackenburg am 4. August 1905 mit, dass die Numerierung der Rotdornstraße erfolgt ist und die Grundstücke nach dem aufgestellten Plane folgende Nummern erhalten haben: Nr. 1 Besitzer Henze und Eichholz (Nr. 1), Nr. 2 Riklniewicz (Nr. 2), Nr. 3 Wolf und Nauendorf (Nr. 3-8), Nr. 4 Albrecht (Nr. 9). In kürzester Zeit entstanden auf der nur 125 Meter langen Verbindung zwischen Stubenrauch- und Wiesbadener Straße viergeschossige Mietwohnhäuser, wobei für die auf der östlichen Straßenseite errichteten Häuser Nr. 5, 6 und 8 an den bepflanzten Innenhöfen Hinterhäuser (Seitenflügel und Gartenhaus) eingefügt wurden.

 

Rotdornstraße 1. Fpto LDA, 1992

Rotdornstraße Nr. 1

Ecke Wiesbadener Straße Nr. 83

1905

Entwurf Paul Schröder

Bauherr Johannes Eichholz

 

Die Einmündung der Rotdornstraße in die Wiesbadener Straße wird von zwei außergewöhnlichen viergeschossigen Mietwohnhäusern mit Dachateliers flankiert, die beide nach Plänen von Paul Schröder erbaut worden sind. Das westliche Eckhaus Wiesbadener Straße 83/Rotdornstraße 1 ist fast gleichzeitig 1905 von Schröder errichtet worden. Auch dieses Haus ist ein eleganter Jugendstilbau mit zwei ausgebauten Ateliers im Dachgeschoss, die jeweils hinter Querhäusern mit Schweifgiebeln nach Norden und nach Osten angeordnet sind. Das Haus hat - wie sein Pendant - zwei Eingänge, von denen je ein Zweispänner erschlossen wird. Die beiden Fassaden sind ähnlich wie bei seinem Pendant, doch ein wenig kontrastierend angelegt. Der Eckerker ist nicht turmartig erhöht, sondern schließt mit einer flachen Kuppel ab. Die Fassade an der Wiesbadener Straße zeigt auch einen Mittelerker und seitliche Loggien, aber im Erdgeschoss an der Ecke eine Reihe von Ladenportalen mit Rundbogenfenstern und mehreren Eingängen. Bei der Fassade in der Rotdornstraße ist in der Mittelachse anstelle kleiner Rundbalkons von gegenüber kontrastierend ein breiter Erker getreten, der seitlich wiederum von schmalen Erkern flankiert wird. Auch hier schließen im Süden Loggien die Fassade ab. Die jeweiligen Fassaden sind bei beiden Häusern in sich symmetrisch konzipiert, aber auch - trotz unterschiedlicher Breite - korrespondierend um die Hausecke herum komponiert. Die baulichen Ornamente an diesem Haus gehören eher zum Formenkreis des geometrischen Jugendstils Topographie Friednenau, 2000.

 

Künftiges Altersheim Rotdornstraße 2. Foto Kirchengemeinde Zum Guten Hirten, vor 1930

Rotdornstraße Nr. 2

Altenheim

 

Das Haus Rotdornstraße Nr. 2 wurde 1906/07 errichtet. Eigentümer ist bis 1922 Graf von Schweinitz. Im Kellergeschoss gab es außer der Pförtnerwohnung noch eine Zweizimmerwohnung. Im Erdgeschoss und den Obergeschossen waren jeweils 7 Vierzimmerwohnungen und 1 Dreizimmerwohnung entstanden. Im Dachgeschoss gab es ein Atelier mit Wohnung, das zeitweise von den Malern Walter Zirges (1915), Hugo Wilkens (1921) und Otto Herbig (1931) genutzt wurde. 1910 erwarb das Anwesen der Kaufmann Herriger aus Kattowitz, der es 1928 an Direktor Schoehsdal aus Breslau verkaufte.

 

Im Frühjahr 1928 fand ein Gedenkgottesdienst der Kirchengemeinde Zum Guten Hirten für Pfarrer Rudolf Kleine statt. Er war 1905 zum zweiten Pfarrer von Friedenau gewählt worden und betreute den Seelsorgebezirk II. In dieser Eigenschaft hatte er am 4. April 1919 die Beisetzung des kaum 38jährigen Bildhauers Wilhelm Lehmbruck übernommen, der Tage zuvor in seinem Berliner Atelier Fehlerstraße Nr. 1 den Gashahn aufgedreht und ein Ende gemacht hatte. Nun, nach fast 23jähriger Wirksamkeit in Friedenau ist Pfarrer Kleine, kaum 58 Jahre alt, vom Tode ereilt worden. In Ausübung seines Dienstes am Sarge eines Entschlafenen im Krematorium zu Wilmersdorf erlitt er einen Schlaganfall. Nach achttätigem Krankenlager ist er am 14. März 1928 sanft entschlafen, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Pfarrer Kleine hinterließ Ehefrau und zwei Kinder.

 

 

 

Schon lange war es Wunsch und Wille der Geistlichen ein Heim für vereinsamte Alte zu gründen. Der unerwartete Tod von Pfarrer Kleine (1870-1928) bot im Frühjahr 1928 die Gelegenheit. Es entstand ein Verein zur Gründung eines Altersheims (Rudolf-Kleine-Gedächtnisstiftung). Die Kreissynode Kölln-Land I, der Zusammenschluss evangelischer Kirchengemeinden im Südwesten Berlins und Kreis Teltow, unterstützte das Vorhaben mit 6000 M. unterstützt, ebenso die Kirchengemeinde Zum Guten Hirten mit mehreren Tausend Mark. Dank dieser Zuwendungen ist es dem Verein gelungen, ein eigenes Haus — Rotdornstraße 2 — zu erwerben. Der Umstand, dass fast alle Zimmer von den Fluren aus zugänglich sind, macht das Haus zu einem Altersheim mit möglichst vielen Einzelzimmern besonders tauglich, ohne dass Mehrzimmerwohnungen ausgeschlossen wären. Der Kaufpreis für das Haus betrug 68000 M.; er ist bereits bis auf 45000 M. abgetragen.

 

Als Julius Möller seine Chronik der Kirchengemeinde zum guten Hirten am 30. September 1930 niedergeschrieben hatte, musste er allerdings eingestehen, dass die finanzielle Lage des Unternehmens die Eröffnung zurzeit noch nicht gestattet. Die Recherchen für die Jahre danach bleiben (bisher) verwirrend. Das Haus Rotdornstraße Nr. 2 scheint weiterhin im Besitz der Ev. Kirchengemeinde bzw. des Vereins zu sein, obwohl 1938 als Eigentümer R. Kleine (Wohnung Goßlerstraße Nr. 30) angegeben ist und dort 20 Frauen als Mieter aufgeführt werden. 1939: Eigentümer Verein zur Errichtung eines Altersheims usw.

 

Hans Mayer, Zwischen Kunst und Gebrauchsgrafik. Verlag Königshausen & Neumann Würzburg, 2022

Rotdornstraße Nr. 2

Hugo Wilkens (1888-1972)

 

Die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E. T. A. Hoffmann sind bekannt, auch die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff und Heinrich Heines Harzreise. Nicht bekannt war, dass diese Geschichten von Hugo Wilkens illustriert wurden, dass er von 1921 bis 1925 in der Rotdornstraße Nr. 2 gewohnt und zeitweise auch in der Wilhelmstraße Nr. 17 (Görresstraße Nr. 19/Ecke Eschenstraße) ein Atelier gemietet hatte.

 

Das alles erfuhren wir durch Hans Mayer, der 2022 im Verlag Königshausen & Neumann Würzburg unter dem Titel Zwischen Kunst und Gebrauchsgrafik eine fragmentarische Biografie des Buchillustrators und Kunstmalers Hugo Wilkens publizierte.

 

Hugo Wilkens wurde Maler und Lackierer und studierte danach an der Kunstgewerbeschule Dresden, an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums Berlin und an der Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig. Er heiratet Georg Kolbes Schwester Gertrud. Sie ziehen nach Paris und werden mit dem Ersten Weltkrieg als feindliche Ausländer im Internierungslager Chateau-roux-Bitray inhaftiert. 1918 kehren sie nach Berlin zurück. Wilkens arbeitet als Illustrator für die Verlage Rösl München, August Scherl und Ullstein in Berlin. Es folgen Aufenthalte in Ascona, St. Moritz, Zürich und die Rückkehr nach Berlin. Nach dem Selbstmord von Ehefrau Gertrud 1933 zieht er in die Wohnung seiner Geliebten Emmy Fürst in Charlottenburg. 1934 wird er in die Reichskulturkammer aufgenommen. 1935 flieht er nach Johannesburg/Südafrika. 1936 heiratet er Emmy Fürst. Das Ehepaar kauft eine Tabakfarm und gründet in Rustenburg die Ascona Citrus Nursery. Am 27. Januar 1972 „soll“ er gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord begangen haben.

 

 

Der Autor Hans Mayer ist ein Freund belletristisch-bibliophiler Bücher. Einige Publikationen von Hugo Wilkens sind dieser Kategorie zuzurechnen. Seine Illustrationen entstanden in den Jahren 1919 bis 1926 und erschienen im Verlag Rösl & Cie. München – darunter Heinrich Heines Harzreise (1919) und Buch der Lieder mit 10 handkolorierten Bildern und zahlreichen Zierstücken (1920), Wilhelm Hauffs Phantasien im Bremer Ratskeller. Ein Herbstgeschenk für Freunde des Weines mit 8 handkolorierten Bildern und 14 Zierstücken (1920), E. T. A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern mit 8 handbemalten Bildern und 17 handbemalten Zierstücken (1921) und Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal mit 8 Vollbildern und zahlreichen Zierstücken (1923).

 

Nach dem Ende des Kaiserreichs vermutete Verleger Ludwig Rösl (1878-1924) ein Aufblühen der Illustration. Für den Gebrauchsgraphiker Hugo Wilkens eine Chance. 1919 brachte Rösl eine Neuauflage von Heines Harzreise in Bütten und Halbleder heraus – heute offeriert mit 8 handkolorierten Illustrationen und zahlreichen Zierstücken von Hugo Wilkens. Laut Goethezeitportal handelt es sich korrekt um ganzseitige Illustrationen und Zierstücke (Kopf- oder Schlussstücke), die von fremder Hand koloriert wurden - nur 50 Exemplare auf Bütten und im Handeinband hat der Künstler eigenhändig bemalt.

 

Für den Autor Hans Mayer sind es mit kräftigen schwarzen Strichen ausgeführte realistische Alltagsszenen aus der Zeit der ‚Harzreise‘. In ihrer Wirkung sind sie eher bedrückend, obwohl sie in gedämpften Farbtönen handkoloriert wurden. Lediglich die Zierstücke strahlen eine gewisse Leichtigkeit aus. In einer Anzeige pries der Verlag Rösl die intimen und zarten Bilder von Wilkens und meinte, seine in sehr begrenzter Auflage erschienene bibliophile Ausgabe werde durch Wilkens gewiss viele Liebhaber finden. Gestartet wurde 1919 mit Robert Reinicks Lieder eines Malers mit Randzeichnungen seiner Malerfreunde Adolph Schrödter, Hermann Kretzschmer, Otto Reinhold Jacobi, Andreas Achenbach, August Müller und den Titel- und Einbandzeichnungen von Hugo Wilkens. Im selben Jahr erschien auf bestem Bütten und in feinstem Maroquinleder gebunden ein Nachdruck der 1826 erschienenen Erstausgabe von Heinrich Heines Harzreise, illustriert von Albert Várady und Hugo Wilkens mit acht handkolorierten Bildern und 13 Zierstücken, die Wilkens eigenhändig bemalt und signiert hat.

 

Es folgten 1920 Wilhelm Hauffs Phantasien im Bremer Ratskeller. Ein Herbstgeschenk für Freunde des Weines und Heinrich Heines Buch der Lieder mit handkolorierten Bildern. 1921 erschienen Alphonse Daudets Briefe aus meiner Mühle sowie Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche, ein Sittengemälde aus dem gebirgigen Westfalen und E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biografie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern nun mit acht handbemalten Vollbildern und 17 handbemalten Zierstücken von Hugo Wilkens – in Halbleder und Rückenvergoldung, der bei ZVAB als Erstausgabe und hübscher bibliophiler Druck aktuell für 140 EUR angeboten wird.

 

Der Verlag Rösl & Cie. München legte Wert auf eine gleichartige Ausstattung der kleinformatigen Bücher. Angesprochen wurden Liebhaber schön aufgemachter Bücher. Ausgegraben wurden dafür fast ausnahmslos bewährte Stücke vergangener Zeiten, dekoriert mit neuen handbemalten Bildern von Hugo Wilkens – eine Geschäftsidee. 1922 erschienen die bereits 1815 von E.T.A. Hoffmann publizierten Elixiere des Teufels, nachgelassene Papiere des Bruders Medardus eines Capuziners. 1923 folgten Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal, eine Erzählung, die seit 1793 bekannt war und von Friedrich Hebbel bis Günter De Bruyn, ein herrliches Stück Prosa als eine Anleitung zum Überleben, immer wieder bemüht wurde.

 

Otto Herbig, Buschgraben-Teich am Machnower Busch. Pastellkreide, 1940

Rotdornstraße Nr. 2

Otto Herbig (1889- 1971)

 

Otto Herbig studiert an der Münchner Akademie, in der Malschule von Lovis Corinth in Berlin und an der Kunstschule in Weimar. Während des Ersten Weltkriegs leistet er Sanitätsdienst in Frankreich und Flandern. 1919 kommt er nach Berlin. Im Adressbuch ist er von 1926 bis 1933 als Mieter der Atelierwohnung Rotdornstraße Nr. 2 eingetragen. In der NS-Zeit erhält er ein Ausstellungsverbot. Er zieht nach Kleinmachnow in die Siedlung Am Rund Nr. 1. Es entstehen Arbeiten mit Pastellkreide, die sich überwiegend auf die Themen Familie, Mutter, Kind und Landschaft beschränken. 1946 erhält er eine Professur an der Hochschule für Baukunst und bildende Künste in Weimar. 1955 wird er emeritiert und kehrt nach Kleinmachnow zurück. Seine Bilder zeichnen sich nun durch eine größere Nähe zur Natur aus, behalten jedoch durch ihre Abstraktion eine Verbindung zum Expressionismus. 1962 wird Otto Herbig mit einer Retrospektive in der Ostberliner Nationalgalerie geehrt. Ein Jahr danach verlässt er die DDR und zieht nach Weilheim in Oberbayern, wo er 1971 im Alter von 81 Jahren stirbt.

 

Willy Zirges, Mädchen mit Schmetterlingen

Rotdornstraße Nr. 2

Willy Zirges (1866-1938)

 

Der Maler und Lithograf Willy Zirges ((auch Walter Zirges) studierte Malerei an den Kunstakademien in Leipzig, München, Mailand und von 1893 bis 1896 in Berlin an der Preußischen Akademie der Künste. Nach dem Studium war er als Maler in Berlin, Thüringen und Hessen tätig. Er beschäftigte sich mit der Landschafts-, Genre- und Porträtmalerei. Er illustrierte Balladen von Carl Loewe und publizierte seine Werke in der Gartenlaube.

Rotdornstraße Nr. 5

 

In diesem Haus lebte der Bildhauer Ludwig Isenbeck, der gemeinsam mit Johannes Hinrichsen den Bildschmuck für das Schöneberger Rathaus schuf.

 

Weiteres in Vorbereitung

Rotdornstraße Nr. 6

Verlag Rudolf R. Zech Berlin

 

Der Schriftsteller Paul Zech stirbt am 7. September 1946 im Hospital Pirovano in Buenos Aires. Am 20. Oktober wird die Urne auf dem Friedhof Chacarita beigesetzt. Am 21. Oktober schreibt sein in den Westsektoren von Berlin lebender Sohn Rudolf R. (1904-1972), genannt Rudi, einen Brief an die Redaktion der deutschsprachigen Auslandszeitung Argentinisches Tagesblatt in Buenos Aires: Wie ich durch die Redaktion der Zeitschrift ‚Aufbau‘ des ‚Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‘ erfahre, ist mein lieber Vater dort verstorben. Dem Vermittler dieser Nachricht verdanke ich auch Ihre Anschrift, die mir mitgeteilt wurde, damit ich mich als einzigster Sohn um die näheren Umstände und den literarischen Nachlass kümmern kann. Bei der Durchsicht der Korrespondenz werden Sie wahrscheinlich wenig oder gar keine Anhaltspunkte von mir finden. Dies erklärt sich daraus, dass eine direkte Verbindung nicht möglich war. Gestapo und andere üble Organe überwachten meine Korrespondenz.

 

 

 

 

Er schreibt einzigster Sohn und verschweigt, dass es noch Paul Zechs Ehefrau Helene geb. Siemon (1885-1962) mit Tochter Elisabeth Dorothea (1906-1998) gibt, die mit ihm 1919 in das Landhaus Kurstraße Nr. 10 in Bestensee gezogen waren. Sie leben auch nach dem Weltkrieg noch dort – nun allerdings in der Sowjetischen Besatzungszone. Am 27. Februar 1947 erhielt Sohn Rudi die Lizenz für den Verlag Rudolf R. Zech mit Sitz in der Rotdornstraße Nr. 6.

 

Das Verlagsprogramm hat keine Linie. 1947 erscheinen Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn Francois Villon, in deutscher Nachdichtung von Paul Zech mit der Angabe Copyright by Rudolf R. Zech Verlag Berlin, Die 24 Liebesgedichte einer schönen Lyoneser Seilerin namens Louize Labée, Das gesammelte Werk des Jean-Arthur Rimbaud, Mumu – Erzählungen von Iwan Turgenjew, Nachmittagstraum eines Fauns von Stéphane Mallarmé. 1948 folgen Herr und Knecht von Leo Tolstoi und Der Taigawolf und andere Novellen von W. J. Schischkow, später Anthologie der schönsten Gedichte von Paul Verlaine (1949), Die Ballade vom Bauern von Paul Zech (1960), Gedichte an Unverlorene von Kurt Erich Meurer (1961). Dieses Sammelsurium hat mit dazu beigetragen, dass die Werke von Paul Zech nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen Deutschlands nur ungenügend wahrgenommen wurden.

 

Nachdem der Greifenverlag Rudolstadt, in dem bis zur nationalsozialistischen Zeit Werke von Karl Grünberg, Johannes R. Becher und Paul Zech erschienen waren, 1945 als einer der ersten Verlage mit sowjetischer Lizenz wieder tätig werden durfte, das Programm mit den Autoren Lion Feuchtwanger, Victor Klemperer, Karl Barthel und Inge von Wangenheim erweitert wurde, machte sich der Verlag gemeinsam mit Witwe Helene und Tochter Elisabeth Dorothea an die Herausgabe der Werke ihres Mannes. Die DDR erkannte, dass sich Paul Zech als Antifaschist vermarkten ließ. Es erscheinen Nachdrucke der vor 1933 publizierten Werke und bisher unveröffentlichte Texte aus der Exilzeit. Es erscheinen Das rote Messer (1953), Kinder vom Paranà (1953), Die Vögel des Herrn Langfoot (1954), Die grüne Flöte vom Rio Beni (1955), Die Liebesgedichte einer schönen Lyoneser Seilerin namens Louize Labé (1956), Deutschland, dein Tänzer ist der Tod (1980), Menschen der Calle Tuyutí (1982, 1. Auflage), Michael M. irrt durch Buenos Aires (1985), Von der Maas bis an die Marne (1986, 1. Auflage), Der Schatten vom anderen Ufer (1989, 1. Auflage).

 

Im Westen Deutschlands wird Paul Zech eigentlich erst nach 1953 durch die Rezitationen von Klaus Kinski bekannt. Er hatte sich Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon gegriffen, die Paul Zech 1931 – frei nachgedichtet und frei erfunden – in deftiger Sprache veröffentlicht hatte. Kinskis Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, seine lasziven Posen auf der Bühne, seine Sinnlichkeit auf der Schallplatte, sein Stöhnen, Röhren, Rülpsen, Wispern, Spucken, löste sexuelle Begierde aus, anstößig zwar, unanständig und schlüpfrig, aber es kam an. Der Name des Urhebers Paul Zech geriet in den Hintergrund. Die Tantiemen flossen. Der Streit um das Erbe zwischen Ost und West ging in die nächste Runde.

 

In Bestensee wurde ein Gedenkstein gesetzt: In diesem Haus wohnte Paul Zech zwischen 1919 und 1933. An der Freien Universität erfuhr Alfred Hübner während seiner Magisterarbeit Das Drama Paul Zechs, dass Zechs Grab in Buenos Aires finanziell nicht mehr zu halten war. Hübner griff ein, übernahm die Kosten für die Überführung der Urne in das Columbarium auf dem Friedhof Stubenrauchstraße. Seither kommt er von Paul Zech nicht mehr los. 2021 veröffentlichte Alfred Hübner im Morio Verlag Heidelberg die ausführliche Biographie Die Leben des Paul Zech.

 

Dieser Biographie ist zu entnehmen, dass Zechs Ehefrau Helene 1962 stirbt und auf dem Friedhof in Bestensee bestattet wurde. 1971 erwerben Rudolf R. Zech und seine Ehefrau Hella geb. Buchhorn auf dem Friedhof an der Stubenrauchstraße die Grabstätte Abt. 23-49/51. Am 21. November 1972 stirbt der Verleger Rudolf R. Zech. Seine Witwe Hella nennt sich nun Verlagsleiterin und gibt sich als Hüterin des Vermächtnisses ihres Schwiegervaters Paul Zech aus, dessen Urne vom Columbarium in die Grabstätte umgebettet wird. Am 2. September 1975 beschließt der Senat, Paul Zech eine Ehrengrabstätte des Landes Berlin zu gewähren. Am 22. August 1983 wird am Haus Naumannstraße Nr. 78 eine Gedenktafel enthüllt: Hier wohnte von 1925-1933 Paul Zech. Arbeiterdichter, Dramatiker, Übersetzer französischer Lyrik. Nach ihrem Tod am 21. September 1984 fand in diesem Grab auch Hella Zech geb. Buchhorn (1901-1984) ihre letzte Ruhe. Auf dem Grabstein die etwas irritierende Inschrift Ihre Werke sind unsterblich.

 

Angemessen wäre es gewesen, den letzten Wunsch von Paul Zech zu erfüllen. Auf seinem Grabstein wünschte er sich die selbstverfassten Zeilen:

 

Der hier in dieser Erde ruht,

Bei Wurm und Wurzeln und dem Urgeschehn

Von Werden, Gehn und Wiederauferstehn:

Auch er war Blut von unserm Blut.

Und was uns immer so missfiel

An seinem Wesen, Werk und Ziel,

Das war nichts anderes als in Wirklichkeit

Das Spiegelbild von uns und unsrer Zeit.

 

PS Über den Verlag von Hella und Rudolf Zech soll demnächst ein Buch erscheinen. Mehr zu Paul Zech finden Sie unter Friedhof Stubenrauchstraße.