Grab von Wilhelm Stier auf dem Alten Friedhof Schöneberg, um 1860. AMTUB

Stierstraße

 

Name seit 1901, benannt nach dem Architekten Friedrich Ludwig Wilhelm Stier (1799-1856). Nachdem er 1841 in die Preußische Akademie der Künste und Akademie der Wissenschaften berufen wurde, formierte sich ein Kreis von Bewunderern, der als Akademischer Verein bis heute existiert. Wilhelm Stier wurde auf dem Alten Friedhof an der Schöneberger Hauptstraße beigesetzt. Nach einem Entwurf von Friedrich August Stüler entstand 1860 ein von sechs Säulen getragener Grabbaldachin mit der Inschrift Dem Freunde, dem Lehrer – die Architekten Deutschlands.

Die Stierstraße gehörte bis 1940 zu Schöneberg. Danach zählten die Häuser Nr. 9 bis 21 zu Friedenau. Erst Mitte der 1950er Jahre kam die ganze Straße zum Ortsteil Friedenau. Zu den Kuriositäten der Stierstraße gehören die schmalen Bürgersteige vor den Häusern Nr. 7 & 8 sowie Nr. 9 bis 11. Diese entsprachen der Polizeiverordnung von 1899, in der festgelegt wurde, daß parallel zur Hausfront angelegte Wege eine Breite von 1,25m nicht überschreiten dürfen.

 

 

In der Stierstraße wurden bisher 55 Stolpersteine und eine Stolperschwelle für den Jüdischen Betraum verlegt. Sie sollen an das Schicksal jener Menschen erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben, deportiert und ermordet wurden. Gesetzt wurden diese vor dem letzten vom Opfer frei gewählten Wohnort. Ein fragwürdiges Kriterium. Für das angedachte Gedächtnis einer Straße reicht das nicht aus, weil andere Schicksale ausgeblendet bleiben. An den Juden Julius Berstl wird nicht erinnert, weil sich der Schriftsteller nach England retten konnte, auch nicht an den Arier Max Herrmann-Neiße, der 1933 mit seiner Frau nach London floh. Oder die Lasersteins: Meta Laserstein lebte mit ihren Töchtern Käte und Lotte in der Stierstraße Nr. 19. Meta wurde in Ravensbrück ermordet, Käte überlebte versteckt in einer Laube, Lotte in Schweden.

 

Stierstraße Nr. 1 Ecke Hauptstraße Nr. 76. Archiv Rüdiger Barasch

Stierstraße Nr. 1

Entwurf Paul Meyer

1907-1908

 

Zwei Mietwohnhäuser liegen an der spitzwinkligen Einmündung der Stierstraße in die Hauptstraße einander gegenüber und bilden eine kontrastreiche Baugruppe. Das noch historistisch aufgefasste Haus Hauptstraße 77 ist das Pendant zum jüngeren Eckhaus 76 gegenüber. Beide bilden das „Tor“ zur Stierstraße. Das viergeschossige Mietswohnhaus wurde auf einem spitzwinkligen Eckgrundstück erbaut. Es wird durch Aufgänge sowohl in der Hauptstraße 76 als auch in der Stierstraße 1 erschlossen. Die beiden weitgehend identischen Straßenfronten werden jeweils durch drei in sich asymmetrische Risalite mit Quergiebeln gegliedert. Den Risaliten sind Erker, offene Loggien und Balkons zugeordnet. Die Hauseingänge werden durch Portale mit Pilastern und Putten betont. Topographie Friedenau, 2000

 

Bruno Nelissen-Haken, Der Fall Bundhund, 1930

Stierstraße Nr. 2

Bruno Nelissen-Haken (1901-1975)

 

Der gebürtige Hamburger Bruno Nelissen-Haken (eigentlich Franz Albert Bruno Haken) legte im Frühjahr 1919 ein Notabitur ab. 1920 begann er mit dem Studium der Rechtswissenschaft. Ab 1928 war er als Praktikant beim Landesarbeitsamt in Hamburg tätig. Nelissen-Haken begann mit dem Schreiben und reichte dem Eugen Diederichs Verlag ein Manuskript unter dem Titel Prolete links, Prolete rechts ein. Der Verlag veröffentlichte den Roman unter dem Titel Der Fall Bundhund - ein exemplarischer Bericht über ein Arbeitslosenschicksal und die Kritik an den Arbeitsämtern. Das Landesarbeitsamt bewirkte im Oktober 1930 die fristlose Entlassung des Praktikanten. Der anschließende Prozess, den Nelissen-Haken gegen die Behörde anstrengte, erregte deutschlandweit Aufsehen:

 

Die Frankfurter Zeitung berichtete am 6. November 1930 unter dem Titel „Der Fall Haken“:  Vor dem Erweiterten Arbeitsgericht Hamburg wurde der Fall des Schriftstellers Bruno Nelissen-Haken weiterverhandelt, der auf Grund seines Arbeitslosen-Romans „Der Fall Bundhund“ vom Landesarbeitsamt Nordmark fristlos entlassen worden war. Während bisher vom Landesarbeitsamt weder Herrn Haken noch der Presse ein Grund für die plötzliche, in schroffer Form erfolgte Entlassung gegeben wurde, gab der Vertreter des Landesarbeitsamts bei der heutigen Verhandlung, wohl unter dem Druck der Pressenachrichten, zu, daß der Roman die Veranlassung zur Entlassung Hakens gewesen sei. Ausschlaggebend sei hierbei gewesen: eine Herabsetzung und Herabwürdigung der Reichsanstalt und eine tendenziöse Darstellung ihrer Einrichtungen, die Verächtlichmachung der Selbstverwaltung, die Verwertung der in vertraulichen Sitzungen hergestellten Protokolle. Außerdem, führte der Vertreter des Landesarbeitsamts aus, habe Haken – vermutlich – die Arbeitsstunden zur Arbeit an seinem Roman benutzt. Haken widerlegte alle drei Punkte dadurch, daß er darauf hinwies, daß sein Buch kein Schlüsselroman sei und daß keines der in dem Buch angegebenen Ereignisse tatsächlich in der Praxis vorgekommen sei. Er erwiderte weiter, daß seine Vorgesetzten, die ja auch Beamte seien, ihre Arbeitszeit zur Lektüre seines Romans benutzt hätten, und im übrigen sei es merkwürdig, von der sozialsten Behörde Deutschlands zu erfahren, daß sie eine fristlose Entlassung von Beamten durchkämpfe, die zum Teil mit Arbeiten betraut wurden, die von Beamten der Gehaltsstufe 9 geleistet worden sind. Laut Paragraph 118 der Verfassung dürfe kein Deutscher wegen einer Meinungsäußerung in irgend einer Weise benachteiligt werden. Große Bewegung entstand unter den Zuhörern und Pressevertretern, als Haken mitteilte, daß sowohl der Senat Hamburg wie auch das preußische Kultusministerium, das durch die Notgemeinschaft des deutschen Schrifttums Haken sofort eine Geldsumme überwiesen hat, entschieden von seiner Maßregelung abgerückt seien.

 

Daß aber eine Reichsbehörde einen Angestellten wegen einer literarischen Arbeit maßregelt, daß es ihr gestattet sein darf, nicht nur eine verschleierte Zensur zu üben, indem man die Entlassung mit irgendwelchen juristischen Formeln begründet, sondern eine offene Zensur, da man zugibt, der Inhalt des Romans sei der Anlaß zur Entlassung, das ist eine skandalöse Angelegenheit. Im Laufe der Verhandlung wurde sogar bekannt, daß bei einer vertraulichen Sitzung im Landesarbeitsamt beraten wurde, ob man das Buch nicht durch einstweilige Verfügung oder gar durch den Paragraphen 48 verbieten lassen könne. Wenn nicht mit allem Nachdruck den Herren vom Landesarbeitsamt gesagt wird, daß ihre Handlungsweise unvereinbar ist mit dem menschlichsten aller Gesetze, dem der geistigen Freiheit, ist zu befürchten, daß morgen ein ähnlicher Fall auftaucht.

 

Der Prozess endete 1931 mit einem Vergleich, in dem sich das Landesarbeitsamt zur Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist und zur Ausstellung eines regulären Zeugnisses verpflichtete. Danach widmete er sich ganz der Schriftstellerei und verfasste eine Vielzahl von eher unterhaltenden Werken, darunter  auch Der freche Dackel Haidjer aus der Stierstraße (1936). Die Gegend kannte er, da Bruno Nelissen-Haken nach Aufenthalten in Lüneburg und Baden-Baden ab 1935 in der Stierstraße Nr. 2 wohnte. 1941 wurde sein Bauernroman Der Peerkathener Mädchenraub unter dem Titel Männerwirtschaft von Johannes Meyer für die Ufa verfilmt. Der Fall Bundhund wurde 1976 noch einmal aufgerollt – als Fernsehspiel von Eberhard Hauff.

 

Julius Berstl

Stierstraße Nr. 3

Julius Berstl (1883-1975)

 

In der Fehlerstraße Nr. 13 A und der Stierstraße Nr. 1 entstanden in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vielgelesene Romane und Theaterstücke. In der seit 1998 in Berlin erscheinenden Wochenschrift für Politik, Kunst und Kultur Das Blättchen publizierte Thomas Zimmermann am 27. April 2015 eine Reminiszenz an Julius Berstl, Wir veröffentlichen den Text mit freundlicher Genehmigung von Autor und Redaktion:

 

Julius Berstl „wurde am 6. August 1883 als zweiter Sohn des Schauspielerehepaars Norbert und Franziska Berstl in Bernburg an der Saale, Lange Straße 3, geboren. Die Eltern befanden sich im Sommerengagement“. Mit diesen Worten begann Berstl seine Autobiografie Odyssee eines Theatermenschen, die er 1963 in Hollywood verfasste und in der er auf ein längst vergangenes Kapitel der deutschen Geschichte zurückblickte: die Kaiserzeit, in der die Theater noch keinen ganzjährigen Spielplan hatten und die Schauspieler dadurch gezwungen waren, sich für jedes Halbjahr bei einer anderen Spielstätte zu bewerben.

 

Berstls Eltern hatte es auf diese Weise 1883 an die Bernburger Bühne verschlagen, für die Wintersaison aber waren sie schon nach Sankt Gallen in der Schweiz engagiert. Die junge Familie sollte über Jahre nie länger als sechs Monate an einem Ort leben, ein Gefühl der Heimatlosigkeit begleitete Julius Berstl von Kindertagen an. Und so ist es nicht verwunderlich, dass er an seine Geburtsstadt Bernburg nur wenige Erinnerungen hatte. Im Alter von sechs Wochen wurde Berstl in der Schlosskirche Sankt Ägidien getauft, unmittelbar danach verließ die Familie Bernburg in Richtung Schweiz. Bis 1890 führte die Familie, die väterlicherseits dem mährisch-jüdischen Kleinbürgertum, mütterlicherseits einer hessischen Schauspielerdynastie entstammte, ein unstetes Wanderleben, immer auf der Suche nach neuen Engagements. Dann aber wurde Norbert Nathan Berstl zum Direktor des Göttinger Stadttheaters ernannt und seine Familie sesshaft.

 

Nach einem kurzen Studium der Literatur arbeitete Julius Berstl zunächst als Lektor in Leipzig, bevor er 1909 nach Berlin ging, wo er am Theater des legendären Victor Barnowsky als Dramaturg wirkte. Bis 1924 sollte Berstl Barnowsky künstlerisch beraten und dabei mit den Spitzen der damaligen Literatur verkehren, so etwa mit den Brüdern Mann, Stefan Zweig, Curt Goetz, Joseph Roth, Bert Brecht und vielen anderen. Zu dieser Zeit begann er auch, erste Theaterstücke zu verfassen. Sie wurden zwar veröffentlicht und auch aufgeführt, doch mehr als einen Achtungserfolg erzielten sie zunächst nicht. Der Weltkrieg brachte schließlich die entscheidende Zäsur in Berstls Schaffen. Kurz vor Kriegsbeginn hatte Berstl die Schauspielerin Hedwig Koch geheiratet, noch 1914 wurde der Sohn Norbert geboren. Dann aber fand sich der junge Vater und angehende Autor bald in einer Jüterboger Kaserne wieder, wo er dank Kriegsrationen auf 95 Pfund abmagerte und neben der Verwaltungspost heimlich seinen ersten Roman verfasste. Ich habe im Lärm dieser Schreibstube (außerdienstlich) große Teile meines Romans ‚Überall Molly und Liebe‘ (1920) geschrieben, meine erste erwachsene Arbeit, vermerkte er viele Jahre später.

 

Der Roman machte Berstl über Nacht berühmt. Zurück aus dem Krieg, war er ein gefragter Autor, seine humorvoll-zeitkritischen Romane wurden in Zeitungen vorabgedruckt und gerieten nicht selten zu wahren Skandalen, da sich viele Zeitgenossen in ihnen wiederfanden. Ab 1924 arbeitete Berstl in verschiedenen Theaterverlagen und etablierte sich zudem auch als Bühnenautor. Sein erfolgreichstes Stück, die Komödie Dover-Calais (1926), wurde Weihnachten 1926 an unfassbaren 25 Bühnen gleichzeitig uraufgeführt. Andere, politische Unterhaltungsstücke wie Scribbys Suppen sind die besten (1929) und die Napoleon-Satire Napi (1930) folgten. Mit der ‚Machtergreifung‘ der Nazis 1933 endeten Berstls Erfolge. Als Halbjude gebrandmarkt, wurde er zunächst mit einem Publikationsverbot belegt, und nachdem er es 1935 abgelehnt hatte, der faschistischen Reichsschrifttumskammer beizutreten, emigrierte er schließlich im Juli 1936 über Holland nach London. Dort war Berstl zunächst auf die Unterstützung von Freunden angewiesen, weil ihm keine Arbeitserlaubnis erteilt wurde. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschlechterte sich Berstls Lage noch weiter: Als Deutscher wurde er in Huyton bei Liverpool interniert und lebte dort mit anderen Flüchtlingen, wie dem antifaschistischen Schriftsteller Hans José Rehfisch und dem Erbprinzen von Sachsen-Weimar, unter erbärmlichen Umständen – bis er krankheitsbegingt entlassen wurde.

 

Berstl arbeitete in der Folgezeit für den BBC und nahm über 60 Hörspiele auf, die zunächst an die Humanität der deutschen Soldaten appellierten und nach 1945 auch die Jugend östlich der Elbe mit christlichem Gedankengut versorgten. Gleichzeitig konnte sich Berstl in England und den USA als Autor durchsetzen. Besonders seine Romane um den Apostel Paulus Der Zeltmacher und Adler und Kreuz fanden beidseits des Atlantiks großen Anklang: Der einst so zeitkritische Autor hatte sich im Alter verstärkt dem Glauben zugewandt. Als er 1951 von der BBC in den Ruhestand versetzt wurde, siedelte Berstl mit seiner Familie in die USA über, wo er in New York als freier Autor lebte. Nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1964 zog Berstl nach Kalifornien, um dort als Drehbuchautor für Hollywood zu arbeiten. Doch nur schwer fand er zur leichten Kost zurück, der große Wurf blieb aus. Berstl starb am 8. Dezember 1975 in Santa Barbara im Alter von 92 Jahren.

 

Stierstraße 1962, aufgenommen von Uwe Johnson vom Haus Nr.3

Stierstraße Nr. 3

Uwe Johnson (1934-1994)

 

„Dichter der beiden Deutschland“ wird er genannt, auch „Dichter der Teilung Deutschlands“. Er ist es und auch nicht. Geboren wurde Uwe Johnson in Pommern. Von dort flieht die Familie 1945 nach Mecklenburg. Der Vater wird von der Roten Armee verhaftet, in das Speziallager Nr. 9 in Fünfeichen gebracht und schließlich in die Sowjetunion deportiert, wo er 1946 stirbt. Mutter Erna zieht mit Sohn Uwe und Tochter Elke nach Güstrow. Von 1952 bis 1956 studiert Uwe Johnson Germanistik in Rostock und Leipzig. 1956 ziehen Mutter und Schwester nach Westberlin. Der 22-Jährige bleibt in der DDR – bis er schließlich am 10. Juli 1959 auch nach Westberlin übersiedelt. Wochen später erscheinen „Die Blechtrommel“ von Günter Grass und „Mutmaßungen über Jakob“ von Uwe Johnson. Auf der Frankfurter Buchmesse treffen sie sich – Anfang einer lebenslangen, nicht immer ungetrübten gegenseitigen Wertschätzung.

 

Uwe Johnson wohnt zunächst in der Dahlemer Spechtstraße Nr. 5, bis ihm im Oktober 1961 die Atelierwohnung in der Niedstraße Nr. 14 zugewiesen wird. Nach dem Mauerbau flüchtet seine Freundin Elisabeth Schmidt nach Westberlin. Am 28. Februar 1962 wird geheiratet, am 20. November wird Tochter Katharina geboren. Im April 1963 beziehen die Johnsons ihre Hauptwohnung in der Stierstraße Nr. 3, die sogenannte „Familienwohnung“.

 

 

 

 

Im April 1964 erwerben Anna und Günter Grass das Haus Niedstraße Nr. 13 und werden Nachbarn von Uwe Johnson. Nun interessiert sich auch Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929), Johnsons Lektor beim Suhrkamp Verlag, für ein Haus in Friedenau, für sich, seine Frau Dagrun und Tochter Tanaquil. „Ihr hättet nichts dagegen, wenn wir in eure Nachbarschaft kämen“. Johnson machte ein Haus ausfindig und die Enzensbergers zogen 1965 in die Fregestraße Nr. 19 ein.

 

1966 ziehen die Johnsons nach New York, behalten aber während des Amerika-Aufenthaltes die Wohnungen Niedstraße Nr. 14 und Stierstraße Nr. 3. Am 8. Januar 1967 teilt Dagrun Enzensberger Johnson mit, dass „Hans Magnus und ich uns für einige Zeit trennen werden“, und fragt an, „ob ich Eure Stierstraßen-Wohnung für eine kürzere Zeit“ mieten könnte. Vier Tage später telegrafiert Johnson am 12. Januar 1967 aus New York City: „Liebe Dagrun, natürlich, ja. Brief folgt.“ Am 3. Februar 1967 schreibt Dagrun an Johnson: „Wir machen eine Kommune.“ Am 19. Februar 1967 zieht die „Kommune I“ in die „Atelierwohnung“ Niedstraße Nr. 14 ein. Fortan nutzen die Kommunarden auch die „Familienwohnung“ Stierstraße Nr. 3 für ihre Sitzungen.

 

Im April 1967 erfuhr Uwe Johnson aus der „New York Times“ vom geplanten „Pudding-Attentat“ der „Kommune 1“ auf US-Vizepräsident Hubert H. Humphrey. Auf Bitte Johnsons ließ Günter Grass „die auf den Kopf gestellten Wohnungen“ Niedstraße und Stierstraße von der Polizei räumen. Im August 1968 kehrte die Familie Johnson nach Berlin zurück. Es folgten erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger zur Kostenübernahme für die angerichteten Schäden. Enzensberger: Ich bin nicht der Hüter meiner Verwandten.

 

1974 ziehen die Johnsons nach Sheerness on Sea auf die Insel Sheppey im Mündungstrichter der Themse. 1975 publiziert Johnson bei Suhrkamp eine Aufsatzsammlung unter dem Titel „Berliner Sachen“. 1978 trennen sich Elisabeth und Uwe Johnson. Am 13. März 1984 wird Uwe Johnson in seinem Haus in Sheerness tot aufgefunden.

 

 

Uwe Johnson: Rede zum Bußtag (19. November 1969)

 

Ich lebe in einer Berliner Straße, aus der die Bomben drei Miethäuser herausgetrennt haben, gegenüber der einstmals leeren Fläche, auf der die evangelische Kirche ein Haus für den Dienst an Gott und eins für die Geselligkeit hat hochziehen lassen, in einer recht modeseligen Auffassung von Baukunst, und nicht nur die auswärtigen Besucher stehen versonnen an meinem gemieteten Fenster und sprechen unverhofft von einem Ski-Übungshang. Dennoch sind unsere Beziehungen zu dieser Niederlassung Gottes verblüffend innig. Das kommt von dem frei stehenden Glockenturm, der, besonders am Freitag, zu oft knalligen Lärm in die Schallkanäle zwischen den vierstöckigen Häusern drückt, die Fenster dröhnen macht und nicht nur Kleinkindern Ohrenschmerzen bereitet. Einer Fluggesellschaft würde die Bürgerschaft zumindest fahrlässige, wahrscheinlich vorsätzliche Körperverletzung vorwerfen. Aber diese Körperschaft des öffentlichen Rechts nimmt ein jungmädchenhaft gekränktes Wesen an, wenn man sie behandelt wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, und ich habe nicht angefangen, Unterschriften zu sammeln. Und wenn diese Kirche nicht nach mir ruft in ihrer grobianischen Manier, traue ich mich in ihre Nähe und lese die Ankündigungen im Schaukasten, die Farblichtbildervorträge über die Seilstraßenbahnen in San Francisco oder die Erstickung des Individuums in den Zwängen und Isolierungen der modernen Industriegesellschaft, mit Diskussion, und bin regelmäßig verdutzt durch die Hartnäckigkeit, mit der dies Institut die feuilletonistischen Entwicklungen verfolgt, nicht nur in der Architektur, auch in der zeitgemäßen Reform seines Betriebsauftrags, der in der Erklärung der Welt für Mitglieder und Schwankende besteht. Und wie viele meiner Nachbarn drücke ich meine Hochachtung schweigend aus, und gehe nicht hinein.

Aus: Uwe Johnson, Berliner Sachen. Suhrkamp, 1975

 

Uwe Johnson an Anna und Günter Grass (Nyc, 6. April 1967)

 

Liebe Anna, lieber Günter, als ich euch anrief, war es bei euch wohl zweiundzwanzig Uhr, und ihr klänget auch nach dem stillen Abend den wir nunmehr entbehren. Wir sind euch sehr dankbar dafür, dass ihr uns helfen wollt. Die anderen Blätter sind das Original und die gleichermaßen gültige Kopie einer Vollmacht für Günter in bezug auf unsere Wohnungen; in der Eile ist die Ausdehnung auf Anna vergessen worden, aber wenigstens gibt euch der Schluss die Möglichkeit, die Ermächtigung sogleich auf euren Anwalt zu übertragen. Die Auswahl der praktischen Maßnahmen möchten wir eurem Urteil überlassen. Wir kennen nicht die Verhältnisse, wir waren noch heute mittag beim Lesen der Zeitung nicht imstande, uns hineingezogen zu sehen. Was wir uns wünschen, werdet ihr euch denken, und ich möchte es lediglich bestätigen:

 

Dagrun Enzensberger muss die Wohnung in der Stierstraße sofort verlassen und die Schlüssel der Hauswartfrau, Frau Fucker, übergeben. (Nachdem wir am Montag einen Brief mit Beschwerden der Hauseigentümerin bekommen haben, baten wir Dagrun Enzensberger in einem Brief vom Dienstag, am 15. April spätestens auszuziehen. Wir wünschen nun, dass sie es sofort tut.) Ulrich Enzensberger soll in unsere Wohnung in der Niedstraße nicht mehr gelassen werden, wenn du es für vermeidbar hältst, jedenfalls nicht ohne Zeugen, und er soll die Schlüssel dir oder deinem Rechtsanwalt geben.

 

Da die hiesigen Zeitungen von einer Beschlagnahme auch anderer Gegenstände sprechen, müssen wir befürchten, dass auch Manuskripte und Briefwechsel von mir mitgenommen wurden. Trifft das zu? Woran uns am meisten liegt, ist den Verlust der Wohnung in der Niedstraße zu vermeiden. Wenn ihr mit Frau Gierth von der „Gesellschaft für Handel und Grundbesitz“ (Berlin 15, irgendwo am Kurfürstendamm) sprechen solltet, betont doch unser Interesse an dieser Wohnung, wir hängen sehr daran. Wenn die angerichteten Schäden nicht gefährlich sind, schließt die Wohnungen einfach zu. Einer von uns wird im Juni kommen, sich die Bescherung anzusehen. Bis Dienstag könnten wir an jedem Tag kommen, wenn ihr es uns ratet, aber danach ist es vorläufig wegen Visaschwierigkeiten nicht möglich. Unsere Nummer ist 749-2857. Euer Verhalten am Telefon hat uns getröstet, und wir danken euch für eure Hilfe.

 

 

Uwe Johnson über Friedenau

 

Am 28.01.1963 schreibt Johnson an Wilhelm Müller, dem Englischlehrer an der John-Brinckman-Oberschule in Güstrow: In diesem Haus wohnen wir ganz oben und haben alles bezahlt. Aber ein paar Strassen weiter sitzt die Hausbesitzerin und addiert genussvoll was für Heizkosten nachzuzahlen ist; Krampfadern hat sie auch. Friedenau ist ein Dorf, es steht auch voller Bäume, meistens Kastanien, da war wohl mal ein Stadtbaumeister. In den Geschäften kaufen wir nun schon drei Jahre, das merken die sich: Einen guten Rutsch, der Herr! Auf der Strasse liegt der Schnee hoch aufgeschaufelt am Rinnstein, aber die kleinen Vögel werden schon übermütig. Auf dem Balkon sitzt schweigend ein dicker, schwarzer, es ist der uns immer besucht, aber wir kennen seinen Vornamen nicht, so kann man schlecht ins Gespräch kommen. Das Kind schreit und möchte vielleicht mit dem Alphabet spielen, das kann es aber noch nicht haben bei seinem Alter; man hört auch die leere Stadtbahn traurig halten, trübe weiterrollen, Flugzeuge wie die Ewigkeit über dem Dachfirst, und aus dem Treppenhaus den Mieter unter uns, er glaubt nicht, dass er schwerhörig ist und probiert öfter am Tag seine Klingel aus: ob sie geht hören aber nur die andern. Der Himmel müsste mal gewaschen werden.

***

Brief an Dorothy Hensan vom 26.09.1963, der Vermieterin seines Rostocker Studenten-Domizils: Allerdings haben wir ungefähr anderthalb Möbelwagenmeter zurückgelassen in der Niedstrasse Nummer 14. Zu dem gehe ich morgens in einem unbürgerlichen Sinne hin und regiere ihn. Abends kehre ich via Hauptstrasse oder via Handjerystrasse, Perelsplatz, Hähnelstrasse in die Stierstrasse zurück und halte die Beine neben den Tisch als wäre nichts gewesen. Und diese beiden Vorrichtungen sind durch einen Draht verbunden. Jede Wohnung ist das telefonische Vorzimmer des andern, eine Verbindung lässt sich mit Knopfdruck herstellen und kostet nichts ... Wir leben ziemlich belanglos weiter unter den Flugzeugen oder den Kastanien, die nach uns zielen. Das Kind macht uns zu seinem Adjutanten in allen Dienstbereichen, es sagt Wa! und wir kommen gelaufen.

 

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Brief an Manfred Bierwisch vom 21.08.1963: Kennst Du, erinnerst Du das Haus Nummer 13 in der Niedstrasse? Den Bau aus bunten Klinkern mit leicht verförstertem Dach? In dem Vordergarten hinter dem gehäkelten grünen Zaun spielten immer die amerikanischen Kinder und sagten Hi. Ein indischer Student ging würdevoll zum Briefkasten der im gemauerten Gartentürpfosten angebracht ist. Auf der Strasse standen mit Militärkennzeichen die drei Wagen der Familie. Alle sind jetzt ausgezogen. Das leere Haus hat zwei Dreizimmerwohnungen mit jeweils Bad und Küche im vorstehenden Hauptblock, im zurückgesetzten Block, der früher Kutscherwohnung bei Kommerzienrats war, übereinander zwei Einzimmerwohnungen. Die schmalen Rundbogenfenster sind von innen grösser als aussen. Die Räume sind niedrig aber menschlich geschnitten. Unter dem steilen Dach, dem man von vorn nur die Sucht des Architekten nach neugotischen Schnörkeln ansieht, ist in Wirklichkeit und nach hinten offen ein Atelier so hoch, dass ein Elefant nicht anstösst. Nach hinten zwischen den Brandmauern von Nummer 14 und der Bäckerei, von der Albestrasse aber nicht ganz zugestellt, sind noch einmal 500 qm Garten mit Apfelbäumen. Dies Haus wollte mir unser Hauswart gegen Provision vermitteln.

Wir fanden das Inserat in der Zeitung, rissen es aus und banden es auf dem Flugplatz einem Ankömmling an, der manchmal aussieht wie ein brasilianischer Kaffeegrosshändler, manchmal wie ein spanischer Viehhändler, manchmal wie ein Zigeuner aus der Kaschubei. In einer dieser Gestalten, von einer in Lederjacke begleitet, besichtigte er das Haus und verblüffte den Makler mit der Ankündigung er sei interessiert dafür sechzigtausend auf den Tisch zu legen. Der Makler musste sich aber erst noch vergewissern und fand zu seiner weiteren Verwirrung Leute, die leichthin mit jeder Summe für dies bärtige Individuum gutsagen wollten. Darauf ging das Individuum fort. Gestern wieder wurde es in der Niedstrasse vor dem Haus gesehen, auf einem Klappstuhl, wie es das Haus zeichnete. Kinder standen umher und waren bemüht, sich nicht zu wundern. Der Mann mit dem Bart, leicht zu zeichnen für Kinder: Schwarz für das Gewächs unter der Nase, schwarz für die Augen, schwarz für das schwarze Band um den zerknautschten Hut, so ging er aufs Postamt und schickte die Zeichnungen express in die Schweiz. Aus der Schweiz traf Zustimmung ein, und heute wird das Haus verkauft.

Du entsinnst Dich vielleicht dass ich Günter Grass von Anfang zuredete ein Telefon zu mieten. Unermüdlich hat er Jahre lang Berlin erpresst mit dem Telefon, an das man ihn nicht holen konnte. Auf diesem Umweg habe ich ihn doch hereingelegt, denn in dem Haus steht schon ein Telefon, das kann er übernehmen.

Im Dezember werden nun seine Zwillinge hinter dem Haus stehen und unermüdlich mich anspucken, wenn ich ins Haus daneben steige unters Dach. (...) Wir machen gleich die Probe auf eure Auslegung des Gesetzes über Fremdliteratur und schicken Dir Meine Liebe Hiroshima von Duras, etwas Ausgedachtes von Benjamin und drei Kriminalromane und eine Marke Tabak und das Einwickelpapier.

Friedenau, ein Teil des Stadtbezirkes Schöneberg von Gross-Berlin, ist in mancher Hinsicht zu vergleichen mit dem Stadtbezirk Lichtenberg, ebenda, eben deswegen. Verfügt man hier über Kastanienbäume, hat man doch eine Untergrundbahnstation bisher nicht aufzuweisen. Die Leute sind abends auch froh, wenn sie glauben den Tag hinter sich zu haben. Was den einen Stadtteil vom anderen trennt, ist einem von auswärts kaum zu erklären. Die Hiesigen laufen umher in der Meinung sie allein wüssten da aber Bescheid. Dieser Meinung muss nicht noch entgegengetreten werden.

Dies in diesem Sinne.

***

Seinen Arbeitsalltag als Schriftsteller beschreibt Uwe Johnson in einem ausführlich erzählenden Brief dem Englischlehrer Wilhelm Müller in Güstrow; zum ersten Mal werden in diesem Brief jene Fragen aufgeworfen, die Gesine Cresspahl in dem unvollendet gebliebenen Manuskript Versuch einen Vater zu finden später so intensiv beschäftigen werden. An den Oberlehrer schreibt Uwe Johnson: Bitte nennen Sie es doch nicht egozentrisch, wenn Sie Ihren Alltag erwähnen. Viel anderes weiss ich ja auch nicht mitzuteilen, nachdem uns nur vergangene Gelegenheiten gemeinsam sind, mitsamt deren Andenken, das halten wir aber fest, und wir lesen also gern ob Sie verreisen oder in den Heidberg gehen, um wenigstens auf die Art in Ihre Nähe zu kommen.

Sie erwähnen da so meine Betätigungen. Am liebsten täte ich davon nichts. Mir wäre schon recht man liesse mich hier sitzen und was aufschreiben klammheimlich, unberühmt, nicht prominent, einfach so. Stattdessen regt das Telefon sich auf mit der Frage: warum ich das tue, zu welchem, möglichst zu einem höheren. Ungelogen, wenn Zeitungen Brief schreiben, geben sie sich aber auch gleich als das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit und fragen die Berühmtheiten: was essen Sie zu Weihnachten, was denken Sie über die Ehe, waren Sie ein guter Schüler, würden Sie Ihre Kinder schlagen, was tun Sie weniger gern als was Sie tun? Harmloser wird man eingeladen zum Vortragen der Dichterstimme, aufgefordert zu Diagnosen der Weltverhältnisse, nach dem Sinn des Lebens gefragt; es stört aber auch. Solche Begleitumstände des Berufs haben zumindest in der Person sich geirrt, und viel lieber sässe ich unter dem Hut eines Pseudonyms und befasste mich da mit Cresspahl und den Seinen. Und nachdem ich auf meiner Reise durch Skandinavien nicht viel mehr gesehen habe als Flugplätze, Pressekonferenzen, Hotelzimmer, Vortragsräume, Rundfunkstudios und ab und zu Gegend aus zweitausend Meter Höhe, wird mir schon jetzt unbehaglich vor der Fahrt durch England, die mir den November auffressen wird, denn da werde ich zu nichts Vernünftigerem kommen als zu - Ansichtspostkarten nach Güstrow i. M..

 

Stierstraße Nr. 4

Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons (1875-1933)

 

Zweifel an der bisher „bekanntgemachten“ Lebensgeschichte von Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons sind angebracht, da sie zumindest in Teilen auf nicht überprüfbaren Selbstangaben beruht. Zu den Fakten gehört, dass der Sohn des Reichstagsabgeordneten der „katholischen“ Zentrumspartei die Kadettenanstalt absolvierte und eine Militärlaufbahn anstrebte. 1912 gab er auf. Er heiratete und verdiente sein Geld als Lobbyist der Industrie.

 

Der Erste Weltkrieg kam, der Kaiser rief und Nayhauß ließ sich bereits im August 1914 für die Kavallerie des Königs-Ulanen-Regiment Nr. 13 (1. Hannoversches) reaktivieren. Er wurde Rittmeister und mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet. Sturz vom Pferd und Schulterverletzung bedeutete das Aus. Während des Lazaretts gönnte er sich eine Fahrt auf dem Bodensee. Während der Überfahrt soll er Passagiere belauscht haben, die sich „in verdächtiger Weise über kriegswichtige Belange“ informiert hätten. Laut Wikipedia sei er daraufhin den Männern bis zur Villa des französischen Militärattachés in Bern gefolgt. Da habe er den Plan gefasst, den Attaché der gegen das Deutsche Reich gerichteten Spionage zu überführen. Er habe den Diplomaten aufgesucht, wobei er sich als williger Zuträger, der ihn mit Geheimnissen über die deutsche Kriegsführung versorgen könnte, ausgegeben habe. Der Franzose blieb reserviert und verwies ihn an den russischen Attaché, der wiederum bei den Schweizer Behörden Anzeige gegen ihn erstattet habe. Nayhauß wurde festgesetzt und nach Deutschland abgeschoben. Ein schlechter Krimi.

 

Im Reich wurde er des Landesverrats angeklagt und vom Kriegsgericht zunächst zum Tode, dann zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt. 1919 wurde er vom Reichsmilitärgericht freigesprochen und voll rehabilitiert. Die erste Ehe war inzwischen gescheitert. Nayhauß zog mit Sohn Hubertus (geb. 1913) nach Berlin. 1925 folgte die zweite Heirat. Aus der Ehe mit Erika geb. von Mosengeil gingen die Söhne Mainhardt und Engelbert hervor.

 

In diesen Jahren schrieb er seine Rechtfertigung nieder, der Versuch, Prozess, Gefängnis und Scheidung zu verarbeiten. Das Buch „Unschuldig zum Tode verurteilt“, Erinnerungen eines deutschen Reiteroffiziers, erschien 1929 im Verlag von Oskar Meister im sächsischen Werdau. 1933 war „v. Nayhauß, St., Graf, Rittmeister a. D.“ mit Familie in das Haus von Eigentümer E. Secondeanos Stierstraße Nr. 4 eingezogen.

 

Während der Weimarer Republik betätigte er sich als Vortragsredner für die rechtskonservative Deutschnationale Volkspartei des Verlegers Alfred Hugenberg. Aus heiterem Himmel – oder aus enttäuschten Hoffnungen – wandelte er sich nach Ansicht der Stolperstein-Initiatorin Petra T. Fritsche zum „Kritiker und Gegner der NSDAP“. Unter dem Pseudonym Clemens von Caramon verfasste er die Schrift „Führer des Dritten Reichs“, in der er die kriminelle Vergangenheit von Nationalsozialisten beschrieb: „Bei jeder anderen Partei verschwinden ‚schwarze Schafe‘, nachdem sie entdeckt wurden, von der Bühne des öffentlichen Lebens. Nur der Nationalsozialismus duldet einzig und allein skrupellos an seiner Spitze, in Führerstellung, vielfach Menschen, die in des Wortes wahrster Bedeutung ‚Dreck am Stecken‘ oder keine ‚weiße Weste‘ mehr haben. Und zwar in einer Anzahl, wie es bei jeder andren Partei von rechts bis links, die auf einwandfreie ethische, moralische Einstellung ihrer Führer hält, einfach unmöglich wäre.“

 

Was wollte Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons damit erreichen? Es ist gewagt, zu behaupten, dass er die Öffentlichkeit vor dem Nationalsozialismus warnen wollte. Nahe liegt, dass seine Schrift wohl eher für „sein“ Offizierskorps gedacht war, das nach den „Erniedrigungen“ während der Weimarer Republik wieder Hoffnung schöpfte und sich in Scharen der NSDAP zugewandt hatte. Nicht das nationalsozialistische „Galgen-Gesindel“ sollte die Zukunft des Reichs bestimmen, sondern die preußische Militärelite.

 

Am 26. Juni 1933 wurde Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons in Breslau arretiert. Nach dem 20. Juli meldete die „Breslauer Zeitung“, dass ein Angler in einem Teich einen Toten entdeckt habe. „Die Leiche ist unkenntlich, da sie etwa acht bis vierzehn Tage im Wasser gelegen hat. Sie war an Händen und Füßen mit einem zwei Millimeter starken Draht gefesselt und mit einem 96 Pfund schweren Stein beschwert. Der Tote war bekleidet, jedoch fehlten die Schuhe. Es besteht die Möglichkeit, dass der Mann gefesselt lebendig ins Wasser geworfen worden ist, was jedoch bisher nicht einwandfrei festgestellt werden konnte. Zweckdienliche Angaben erbittet die Kriminalpolizei Breslau.“ – Der Tote war Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons.

 

Am 23.07.1934 teilte Staatssekretär Dr. Lammers mit: Dem Antrag der Witwe, „die sterblichen Überreste des Grafen Nayhauß (vom Stroschwitzer Friedhof) auf Staatskosten nach einem noch zu bestimmenden Ort zu überführen, vermag der Reichs- und Preußische Minister des Inneren in Anbetracht der gesamten Umstände des Falls nicht näher zu treten“.

 

Am 04.12.1936 erteilte der Reichs- und Preußischen Minister des Inneren folgende Anweisung: „Der Gräfin Erika von Nayhauß-Cormons und ihren beiden Kindern wird anlässlich des Ablebens ihres Ehemannes bezw. Vaters aus Billigkeitsgründen vom 1. Dezember 1936 an eine monatliche Rente von 350 RM (Dreihundertfünfzig RM) aus Reichsmitteln bewilligt. Von diesem Betrage stehen der Gräfin selbst 150 RM, ihren Kindern je 100 RM zu. Die Rente für die Gräfin wird lebenslänglich, die Renten für die Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt.  Ferner bewillige ich der Gräfin von Nayhauß-Cormons eine einmalige Entschädigung von 2500 RM (Zweitausendfünfhundert RM) aus Reichsmitteln.“

 

Am 21. September 2009 wurde vor dem letzten Wohnhaus von Stanislaus Graf von Nayhauß-Cormons in der Stierstraße Nr. 4 ein Stolperstein verlegt. Es bleiben viele Fragen offen.

 

Alfred Bürkner, Friedenau. Straßen, Häuser, Menschen. Stapp Verlag Berlin, 1996

Stierstraße Nr. 5

Alfred Bürkner

 

Seit über zwei Jahrzehnten ist keine Publikation über Friedenau erschienen, die sich wohl nicht an Alfred Bürkner orientiert hat – inklusive Peter Hahn & Jürgen Stich mit ihrem Buch Friedenau – Geschichte & Geschichten. Noch heute greifen wir bei Recherchen immer wieder zu diesem Nachschlagewerk“, weil es kurz, bündig und effektiv schnelle Auskunft gibt. Diese wegbereitende Arbeit hat Alfred Bürkner geleistet: Sein Friedenau – Straßen, Häuser, Menschen ist Pionierarbeit. Das Buch erschien 1996 im Stapp Verlag Berlin. Einen besseren und kompetenteren Verleger hätte er nicht finden können. Bei Wolfgang Stapp (1927-2017) erschien alles, was für Heimatgeschichte relevant war. Nachdem er 1953 den Verlag gegründet hatte, eigentlich nur um einen Berlin-Kalender mit Schwarz-Weiß-Fotografien von Fritz Eschen herauszubringen, machte er ab 1962 Bücher. Er suchte Autoren, die sich mit Berlin und der Mark Brandenburg auskannten und spezialisierte sich mit dem Verlag konsequent auf Berolinensien und Brandenburgensien. Erinnert sei an die Reihen Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg oder Preußische Köpfe, an die Berliner Bürgermeister im 19. und 20. Jahrhundert, an Bedeutende Grabmäler in Berlin, an Schiller-Theater und Schloßpark-Theater, an Die Dörfer in Berlin und an Der Teltowkanal – Eine Lebensader im Süden Berlins.

 

Alfred Bürkner über sein Buch: 1996 feiert Friedenau seinen 125. Geburtstag: Am 9. Juli 1871 nahm der für die Entwicklung Friedenaus maßgebliche „Landerwerb- und Bauverein auf Aktien“ seine Tätigkeit auf, so dass dieses Datum als die eigentliche Geburtsstunde Friedenaus gelten kann. Dieses Jubiläum war mir Anlass für vorliegendes Buch, das zwei Ziele verfolgt: Aus der Anfangszeit Friedenaus sind nur wenige der für diese Zeit typischen Villen erhalten, reichhaltiger ist der Bestand an später entstandenen Mietshäusern, deren teilweise repräsentative Erscheinung noch heute zu beeindrucken vermag. Auf bauliche Schönheiten und Besonderheiten hinzuweisen und zu eigenen Entdeckungen anzuregen, ist mein eines Anliegen.

 

Rüdiger Barasch, 1980. Foto Volker Kunze

Stierstraße Nr. 6

Antiquariat Rüdiger Barasch

 

Rüdiger Barasch lebt seit über 50 Jahren in Friedenau. 1972 zog er in den 3. Stock Perelsplatz Nr. 16 (Gartenhaus). 1977 eröffnete er sein erstes Antiquariat an der Ecke Stierstraße Nr. 12 und Hähnelstraße Nr. 4. Das Haus entstand 1904, errichtet wahrscheinlich nach einem Entwurf des Büros für Architektur Frederichs & Großmann. 1905 war es im Besitz von Schlächtermeister Wilhelm Behr, Inhaber der Fleischwarenfabrik in der Schöneberger Kolonnenstraße, Aktionär der Viehmarkts-Aktiengesellschaft von Johann Christian August Sponholz und Kunde der Vieh- und Fleischmarktbank Sponholz, Ehestädt & Schröder. Fünf Jahre später zog Rentier Wilhelm Berg ein. Im Haus gab es zwei Läden, mal Schlächter, Schuhmacher, Parfümerie oder Sattler.

 

Im Vergleich zu den permanenten Eigentümerwechseln der benachbarten Anwesen bleibt das Eckhaus bis nach dem Zweiten Weltkrieg vier Jahrzehnte im Besitz des Wurstfabrikanten. Als Barasch 1977 einzog, hing im Hausflur noch das Schild ‘Behrsche Erbengemeinschaft‘. Frau Helga Zillmer, eine preußisch redliche wie durchsetzungsstarke Persönlichkeit war die sichtbare Vertreterin der Erben. 1978 gehörte Hähnelstraße Nr. 4 schon nicht mehr zum Behrschen Grundbesitz. Im Laufe der Jahre wurden auch Hähnelstraße Nr. 5/Stierstraße Nr. 12 veräußert und als Restbesitz der Helga Zillmer verblieb nur Nr. 13. Mit 79 Jahren verstarb diese großartig selbstlose Frau, die sich um stetige Verbesserung und Verschönerung des Anwesens kümmerte, am 5. Oktober 2005. Bis zu ihrem Tod hatte sie Wohnrecht in der Stierstraße Nr. 12.

 

 

 

Am 1. April 1978 bot sich Rüdiger Barasch die Gelegenheit, günstigst einen Eckraum in der Stierstraße Nr. 6 Hähnelstraße Nr. 6 zu mieten. Vermieter war Leon Ruczycki (1911-1993), ein Beutedeutscher der ukrainisch-polnischen Herkunft. In Warschau hatte er eine gediegene Ausbildung als Schneider und war in diesem Gewerbe sowohl als Zwangsarbeiter von hohen Militärs als Maßschneider sehr gesucht. Nach dem Mai 1945 setzte sich diese Tätigkeit fort. Die russischen Offiziere organisierten Tuch und Pelz und traktierten ihn mit Extrazuteilungen von Wodka. In der späten Nachkriegszeit war er Zwischenmeister der damals blühenden Berliner Textilbranche. Er residierte in einer Ladenwohnung in Kreuzberg. In den spätfünfziger Jahren, als die Grundstückspreise wegen der Berlin-Krise in den Keller rutschten, erwarb er für ‚1 ½ Wüstenrots‘ (ca. 90.000 DM) das Doppelhaus mit 2 Aufgängen und Seitenflügel im ramponierten Zustand. Die ‚Wäscherei Ladeley‘ hatte einen völlig verrotteten Ladentrakt hinterlassen.

 

Das Dachgestühl war bis zum Tod des Hausbesitzers undicht und Leon Ruczycki rührte 2 x im Jahr seinen Spezialmörtel, um die regnerischen Hinterlassenschaften zu bekämpfen. Die von mir gemietete Dépendance-Räumlichkeit (darunter ein Keller mit holprigem Gestein auf märkischem Sand) war mauerdurchfeuchtet und marode. Die Grundsanierung honorierte der Hausherr durch günstigen Mietzins – Ein Luftentfeuchter lief von 1978 bis 1998. Da der ca. 25 qm große Raum (mit 2 ½ qm Nebenraum 5,40 m hoch war, bauten wir ein wohnlich anheimelndes Zwischendeck aus Holz. Große Holzbücherregale und Bücherschränke vervollkommneten das Idyll, welches ich seit dem 10. Mai 1984 spitzwegmäßig bewohnte und bewirtschaftete.

 

Am 1. Juli 1978 wurde das Antiquariat Barasch mit großem Empfang eröffnet. Volker Kunze, der in den Ceciliengärten ein Spezialantiquariat für Fotografie betrieb, überreichte in seiner großzügigen Wahrhaftigkeit einen triftig-deftigen Werbespruch: Die besten Bücher in Friedenau hat Barasch die alte Sau. Barasch startete mit den Baumeistern Ludwig Stier (1799-1856) und Hermann Hähnel (1830-1894), deren Wirken Einfluss bzw. Ausstrahlung auf die Baugestalt dieser Straßenzüge hatte. Beide waren verdiente Bratenrocktypen des 19. Jahrhunderts. Dennoch wird sich die dritte und vierte bauhaus-Generation an ihnen messen müssen. Es sind nämlich Häuser mit Gesicht und Würde. Sie bleiben Repräsentanten einer alternativen Moderne. Bei aller Geschlossenheit strahlen sie keine Eintönigkeit und Gleichgültigkeit ab. Es sind individuelle Baukörper mit reichhaltiger Gliederung und vielfältigen Kompositionselementen. Die Traufhöhe und die Geschosshöhe sind gleich und waren bauamtlich vorgegeben. Gauben, Erker, Balkone, Wintergärten, Gesimse, Fensterfelder, Eingänge, Supraporte sind von großer Mannigfaltigkeit. Die Häuser runzeln nicht. Ihre Leuchtkraft vermehrt sich von Jahr zu Jahr, da die Zeit von der sie zeugen, einmalig war und unwiederbringlich dahin ist.

 

In der Stierstraße sind mehrere Hauseigentümer in der zweiten Nachkriegszeit den Verlockungen der senatsgeförderten Stuckabschlagsprämie erlegen. Ihrem Antlitz wurden schwere Blessuren zugefügt. Der Publizist Wolf Jobst Siedler hat das in einem grandiosen Buch ‚Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum. Ein Bilderbuch – Elegie‘ bereits 1964 skandalisiert. Auch hier wären beinahe alle Vorgärten geopfert worden, um autogerechte Parkbuchten zu schaffen. Noch in den Frühachtzigern entfernte man die friedenau-spezifischen Natursteinplatten vom Gehweg und verscheuerte Sie in die DDR, ersetzte sie durch langweilige Kunststeine (wahrscheinlich auch aus der DDR). Begründung Stolpergefahr. Und 2012 wurden uns Stolpersteine en masse gratis geliefert, um uns und noch unseren Kindeskindern volkserzieherisch die tägliche Schuldration zu verpassen.

 

Von 1983 bis 1996 gab Rüdiger Barasch über 30 eigenhändig gebastelte Kataloge heraus, in denen er seine antiquarischen Kostbarkeiten offerierte. Die Zeit der Bücherfreunde ging zu Ende. 1998 gab er das Ladengeschäft auf und konzentrierte sich auf die Tätigkeit eines Versandantiquars. Das Haus wurde saniert und in Eigentumswohnungen umgewandelt. Zusätzliche Balkone, deren Eckpfeiler allerdings ein wenig streichholzartig wirken, wurden an der Stirnseite gesetzt. Seither wohnt Rüdiger Barasch in der Stierstraße Nr. 13. Als Anwohner 2012 auf die Idee kamen, die Gegend mit einem Straßenfest zu beleben, lud er zum Kiezrundgang ein. Seine bemerkenswerten Detailschilderungen, versehen mit Illustrationen der Grafikdesignerin Ines Kersting, veröffentlichen wir auf dieser Webseite unter Barasch’s Streunereien unter Aus fremden Federn.

 

 

Handgefertigte Kataloge von Barasch

 

Stierstraße Nr. 7 nach 1945. Archiv Gutschke

Stierstraße Nr. 7

Hellas-Bad

 

Auf den Plänen von 1876 bis 1892 ist auf dem Dreieck zwischen Lauterstraße, Ringbahntrasse und Friedenauer Straße (Hauptstraße) keine Bebauung verzeichnet. Die Lauterstraße war Gemarkungsgrenze, nach Westen war Friedenau, nach Osten Schöneberg. Nachdem Schöneberg einen Bebauungsplan für das Areal entwickelt hatte, war ab 1890 erstmals eine „Hähnelstraße“ eingetragen –mit der Anmerkung „gehört zu Schöneberg, unbebaut“. Es folgte am 30. Dezember 1901 der Eintrag „Stierstraße“ und 1903 „Bennigsenstraße“.

 

Die auffällig schmalen Bürgersteige vor den Häusern Stierstraße Nr. 7 bis Nr. 11 gehen auf die Polizeiverordnung von 1899 zurück, mit der festgelegt worden war, dass parallel zur Hausfront angelegte Wege eine Breite von 1,25 m nicht überschreiten dürfen. Nachzutragen ist, dass die 315 Meter lange Stierstraße bis 1940 zu Schöneberg gehörte und erst in den 1950er Jahren dem Ortsteil Friedenau zugeordnet wurde.

 

 

 

Eigentümer der bis dahin unbebauten Grundstücke Stierstraße Nr. 7 und Nr. 8 war 1910 der Nutzholzhändler Cassirer aus Berlin. 1914 geht Stierstraße Nr. 7 in das Eigentum von Major a. D. R. Anders aus Berlin, Oranienburger Straße Nr. 32 über. Für das Haus ist die Milchhandlung von G. Zimmeck verzeichnet. Eigentümer der Stierstraße Nr. 8 ist der Inhaber des Baugeschäfts A. Blank. Im Haus gibt es den Schlächtermeister R. Fehmel. Nach dem Ersten Weltkrieg heißt es im Jahr 1922 für Stierstraße Nr. 6 siehe auch Hähnelstraße Nr. 6. Für beide Häuser wird als Eigentümer Holzhandlung Nossol (Gleiwitz) aufgeführt. Stierstraße Nr. 7 „siehe auch Hähnelstraße Nr. 15a“ ist im Eigentum der Deutschen Volksversicherung AG. Bei Stierstraße Nr. 8 ist vermerkt: „Siehe auch Bennigsenstraße Nr. 6, Eigentümer Nossol Holzhandlung (Gleiwitz).“ Verwalterin E. Teßmer. Im Haus gibt es den Fleischermeister P. Greiff.

 

Die Eigentumsverhältnisse für den Gebäudekomplex zwischen Hähnel-, Stier- und Bennigsenstraße sind verwirrend. Für das Jahr 1928 sind dokumentiert: „Stierstraße Nr. 7 siehe Hähnelstraße Nr. 15a. Eigentümer Deutsche Lebensversicherung Gemeinnützige AG. Stierstraße Nr. 8 siehe auch Bennigsenstraße Nr. 6. Eigentümer B. Nossol, Holzgroßhandlung (Gleiwitz). Bennigsenstraße Nr. 6 siehe auch Stierstraße Nr. 8. Eigentümer B. Nossol.“ Bis 1943 war das Eckhaus Stierstraße Nr. 7/Hähnelstraße Nr. 15 a im Besitz der Iduna Germania Versicherung. In Nr. 7 waren als Mieter gemeldet: Handelsbevollmächtigter W. Knoche, Oberschulrat G. Neuendorf, Volkswirt Dr. W. Pilz, Oberst a. D. H. Pleger, Studienrat a. D. Prof. Dr. L. Seippel, Generaldirektor a. D. C. Wenzel sowie der NSDAP-Reichshauptstellenleiter K. F. Jurda. In Nr. 15 a gab es die Staatliche Lotterie Einnahme J. Albers, Direktor und Hauptmann a. D. H. Brugger, Buchdrucker-Hilfsarbeiter E. Deutschmann, Patentanwalt Dr. O. Faust, Handelsvertreter G. Hoogklimmer, Spielwaren H. Kaniß, Oberingenieur P. Rudloff und den Bäckermeister G. Schundt.

 

So bleibt es bis zum Zweiten Weltkrieg. Da fällt auf die Straßenecke eine Bombe. Das Haus bleibt verschont, aber durch die Druckwellen ziemlich beschädigt. Die Geschichte der heutigen Physiotherapiepraxis beginnt 1945. Da gründeten Bruno Lettau und seine Frau Hella an der Ecke Stierstraße Nr. 7 und Hähnelstraße Nr. 15 das „Hellas-Bad“, eine der Not geschuldete Einrichtung mit „Wannenbädern“, gedacht für Menschen, die zu Hause keine Badewanne hatten. Seit damals existiert die bis heute aktuelle Telefonnummer 852 44 49. Zwei Drittel der Fläche waren Badeanstalt, ein Drittel Wohnung mit 3 Zimmern, Küche, Bad – Hauseingang Stierstraße Nr. 7. In den Wirtschaftswunderjahren kamen medizinische Bäder, Bestrahlungen, Schlammpackungen und Massagen hinzu – und der erst Anfang der 1990er Jahre demontierte Schriftzug der Leuchtreklame „Hellas-Bad“, die die Ecke nachts beleuchtete.

 

Aus Altersgründen verkauften die Lettaus 1963 die Praxis an die 35-jährige Ursula Mertins. Ermöglicht wurde ihr das durch ERP-Mittel, einem Fonds zur Förderung der deutschen Wirtschaft. Die alleinstehende Frau mit zwei Töchtern hatte nach ihrer Ausbildung in der Massageschule von Dr. Vogler ab 1962 als Masseurin im „Hellas-Bad“ gearbeitet. In den sechziger und siebziger Jahren boomte der Laden. Eine Krankheit zwang sie 1992 zum Verkauf. Vier Jahre später starb sie im Alter von 68 Jahren. Der junge Masseur, der die Praxis erworben hatte, erkrankte schwer und musste wieder verkaufen. 2006 wurde aus „Hellas-Bad“ die Physiotherapiepraxis Susan Raymond.

 

Stierstraße Nr. 8. H&S 2019

Stierstraße Nr. 8

Ecke Bennigsenstraße Nr. 6

 

 

 

 

 

 

 

 

Geburtsurkinde Bonosus Julius Nossol, 1882

1922 erscheint als Eigentümer Bonosus Julius Nossol, Inhaber der Holzgroßhandlung, mit Wohnsitz  in Gleiwitz (Oberschlesien). Er war am 21. August 1882 in Klodnitz (Oberschlesien) als Sohn des Grund- und Mühlenbesitzers Joseph Nossol und seiner Ehefrau Hedwig geb. Wunschik geboren worden, und seit 1912 mit Florentine Barbara geb. Walochnik verheiratet. 1921 wurde in Alt Reichenau, Kreis Waldenburg, Sohn Georg Josef geboren, der 1943 an der Ostfront den Heldentod fand.

                   

1925 sind für das Eckhaus als Eigentümer Nossol, B., Kaufmann, und Ehefrau (Gleiwitz) sowie Nossol, F., Pfarrer (Gleiwitz) eingetragen. 1935 steht Nossol’sche Erben. Bonosus Nossol fungiert als Verwalter. Während des Zweiten Weltkrieges kommt es zu Veränderungen, für die wir bisher keine Erklärung finden konnten. Bonosus Nossol ist Eigentümer des Eckhauses Stierstraße Nr. 6 und Hähnelstraße Nr. 6. Das gegenüberliegende Eckhaus Stierstraße Nr. 7 und Hähnelstraße Nr. 15a ist im Besitz der Versicherungsgesellschaften Deutscher Ring bzw. Iduna Germania. Für Stierstraße Nr. 8 und Bennigsenstraße Nr. 6 ist es die Grundstücksgemeinschaft Geschwister Nossol – Verwalter Bonosus Julius Nossol mit Wohnung Stierstraße Nr. 6.

 

Im Zweiten Weltkrieg fällt an der Ecke eine Bombe, so daß die Häuser Stierstraße Nr. 7 und Nr 8 durch die Druckwellen ziemlich beschädigt wurden, aber wieder bewohnbar gemacht werden konnten.

 

 

 

 

 

Mit der schriftlichen Anzeige des Polizeipräsidenten in Berlin vom 20. März 1952 beim Standeamt Berlin-Schöneberg entstand weitere Verwirrung. Laut Todesurkunde ist der Hausverwalter Bonosus Julius Nossol, wohnhaft Berlin-Schöneberg, Stierstraße Nr. 6, am 18. März 1952 um 21 Uhr 30 Minuten, in Berlin-Schöneberg, Canovastraße Nr. 9, (Auguste-Viktoria-Krankenhaus) verstorben. Der Verstorbene war seit 27. April 1912 verheiratet mit Florentine Barbara Nossol geb. Walochnik. Todesursache: Komplizierte Schädel- und Schädelbasisfraktur, Kreislaufversagen, Unfall.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Exkurs

Nachdem Peter Hahn und Jürgen Stich auf www.friedenau-aktuell.de über das Haus Stierstraße Nr. 8 berichtet hatten, stellte uns Herr Michael Hoffmann aus Charlottenburg 2020 seine Hausgeschichte zur Verfügung: Im März 1958 zog meine Familie, Vater, Mutter, zwei Schwestern und ich aus der Ofenheizungswohnung in der Wielandstraße in die zentralbeheizte Wohnung Stierstraße Nr. 8, dritte Etage links – Hoffmann. Welch ein Komfort, Warmwasser ständig, kein Kohleschleppen und befeuern von Kachelöfen. In der Etage unter uns lebte die Hauseigentümerin Frau Nossol-Blust mit ihren drei Kindern, eine Tochter und zwei Söhne. Frau Nossol hatte an ihrer Wohnungstür ein kleines Holzschild in folkloristischem Dekor angebracht: ‚Hax'n abkratzen‘. Dies sorgte bei uns Jugendlichen für ständige Heiterkeit. Ansonsten war unser Verhältnis zu ihr geschäftsmäßig geprägt, also unterschiedliche Vorstellungen zur Miethöhe, nachbarschaftliche Beschwerden. Sie mochte nicht, dass mein Vater Klavier und ich Klarinette spielte, also das Übliche.

 

In der Wohnung unter Frau Nossol, also in der ersten Etage, lebte Frau Bermbach-Martin, geschiedene Frau eines Landgerichtsdirektors. Sie betrieb dort einen Animierclub für amerikanische Soldaten. Gegen Mittag ging Frau Bermbach spazieren, im Pelzmantel und stets mit Sonnenbrille, sehr verlebt aussehend und erzählte jedem, ob er es wissen wollte oder nicht, dass sie demnächst in die USA auswandern werde. Ob es dazu gekommen ist, weiß ich nicht. Meine Mutter und meine Tante, beide attraktiv, gut gekleidet und frisiert, damals etwa vierzig Jahre alt, stiegen eines Nachts die Treppe hinauf. Ihnen kam die Treppe hinab der Nachbar Schulz, leicht angesäuselt entgegen und sagte: Weiß schon, wo sie hin wollen, Puff, Puff, Puff.

 

In dem Ladengeschäft am Eingang links befand sich die Fleischerei von Wilhelm Budnik. Die Qualität dieser Fleischerei war so gut, daß der Kundenbereich zum Teil über die Bezirksgrenzen hinausging. Allerdings, zusammen mit der 1933 entstandenen Bäckerei in der Bennigsenstraße Nr. 6, wurde verursacht, daß das gesamte Haus mit Schaben befallen war. Soweit ich mich erinnern kann, nahm man das achselzuckend hin.

 

Oben rechts, also dritte Etage, lebte Frau Fiedler, ehemalige Steuerberaterin und zusammen mit ihrem verstorbenen Ehemann passionierte Seglerin. Frau Fiedler schnarchte sehr stark, so dass man dies des Nachts bis in das Treppenhaus hörte. Frau Fiedler war mit Frau Schulz aus der zweiten Etage rechts befreundet. Nach dem Tod von Herrn Schulz zogen beide Damen in das Dibeliusstift. Parterre rechts lebte Frau Zschoche mit ihren drei Kindern, eine Tochter, zwei Söhne. Es gab auch einen Hausmeister, der das Haus reinigte und die Koksheizung betrieb, er hieß Kauz und war auch ein solcher. Ich habe gerne in der Stierstraße gewohnt.

 

Einige Jahre später: Nachdem die Mauer gefallen war, wollte Peter Hahn von Frankfurt am Main wieder nach Berlin zurück. Im Juli 1990 unterschrieb er bei der Hauseigentümerin Margot Nossol einen kuriosen Mietvertrag für die ziemlich ramponierte Vier-Zimmer-Wohnung Stierstraße Nr. 8, erster Stock links Vorderhaus. Festgehalten wurde in einem Beiblatt, daß der Mieter die Wohnung übernimmt, wie er sie am 3. Juli 1990 besichtigt hat. Als Gegenleistung wird vom Vermieter keine Kaution erhoben. Eine vorzeitige Kündigung durch die Vermieterin ist nur gegeben, falls dieselbe wegen erheblicher Erkrankung auf die Wohnung im ersten Stock angewiesen sein sollte.

 

Nachdem Jürgen Stich seit Mitte 1991 (laut Formulierung von Frau Nossol) ja sehr oft in meinem Haus weilt, und es dabei auch bleiben sollte, wollten wir dies regeln. Frau Nossol hielt es für geeigneter, wenn Sie Herrn Stich als Untermieter bei sich aufnehmen. Der Vertrag zwischen Ihnen und mir bleibt wie er ist. So ist es bis heute, obwohl sich die Verhältnisse geändert haben.

 

In der ehemaligen Fleischerei unter unserer Wohnung war 1987 die Galerie Christof Weber entstanden. Am 24. August 1991 wurde das fünfjährige Bestehen gefeiert. Peter Hahn sollte (musste) die Laudatio halten. In den folgenden zehn Jahren gab es gute und weniger gute Vernissagen. 2001 war Schluß und Christof Weber eröffnete eine Gestalttherapie-Praxis in Wilmersdorf.

 

Der Wasserschaden

Voller Schrecken vernahm Frau Margot Nossol im September 1993, daß wir Wasserschäden in Bad, Flur und Schlafzimmer abbekommen haben. Ausführlich schilderte sie das Ereignis: Am Donnerstag hatte ich eine Verstopfung im Bad, die am gleichen Tage beseitigt wurde - leider ohne Erfolg. Als am Morgen die Frau Übel duschte, floss das Duschwasser überall in meinem Bad herum, sodass ich bis zu den Knöcheln im Wasser stand. Ich konnte sie auch nicht erreichen, weil sie mich beim Duschen nicht hören konnte!! Als ich sie endlich erreichte, war es fast zu spät - auch die Toilette war übergelaufen! Ich habe gleich um 7 Uhr früh den Klempner von der erneuten Verstopfung unterrichtet. Erst um 11 Uhr 45 kamen die Klempner und trotz allen Wischens ist dadurch bei Ihnen Schaden entstanden. Das Schreiben endete mit dem Satz: Leider bin ich nicht mehr versichert, sodas ich alles selber bezahlen muss.Das aber wollten wir der alten Dame nicht zumuten.

 

 

Bereits 2001 erteilte die Grunstückseigentümerin Margot Nossol ihrem Sohn, Rechtsanwalt Peter Blust, Verwaltervollmacht. Am 13. November 2006 verstarb Frau Nossol im Alter von 90 Jahren. Die Trauerfeier fand auf dem Friedhof Stubenrauchstraße statt. Jahre später entdeckten wir zwei Gräber, in dem einen Bonosus Nossol, auf dessen Stein an den 1943 an der Ostfront gefallenen Sohn Georg Nossol erinnert wird, und in einiger Entfernung das Grab von Margot Nossol. Eine Erklärung haben wir nicht.

 

Stierstraße 8. Quelle Architekturbüro Freudenberg

Am Haus Stier- Ecke Bennigsenstraße begann eine neue Zeit. 2007 wurden Fassade, Balkone und Treppenhäuser erneuert. 2018 veräußerte Eigentümer Peter Blust die Dachgeschosseinheit als Rohling. Nach über einjähriger Bauzeit gab es im Dachgeschoss drei Eigentumswohnungen à 90 bzw. 130 qm. Im Innenhof mit Zugang von der Bennigsenstraße Nr. 6 Portal I wurde ein Außenfahrstuhl an die Hauswand gesetzt. Die markante Turmecke sowie die ursprüngliche Dachstruktur blieben erhalten. Einige Mietwohnungen wurden in Eigentumswohnungen umgewandelt, so daß es inzwischen einen Mix aus Miet und Eigentum gibt, der von einer externen Hausverwaltung betreut wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

Monika Sieveking. Foto Hartmut Becker

Die Nachbarin Monika Sieveking

 

 

In Vorbereitung

Eingang Stierstraße Nr. 9, 1954. Im Hintrgrund Thomsche Fabrik. Archiv Thärichen

Stierstraße Nr. 9

 

Das Mietswohnhaus wird wohl demnächst ein Haus mit Eigentumswohnungen werden.

 

Weiteres in Vorbereitung

Stierstraße Nr. 10

Helene Paetznick (1904-1974)

 

Da wohnen wir seit mehr als drei Jahrzehnten in der Stierstraße und erfahren erst im Juli 2023 von Wolfgang Behr aus Recklinghausen, daß eine mit Hans Fallada verbundene Friedenauer Künstlerin von den 1920ern bis in die 1970er Jahre gegenüber in der Stierstraße Nr. 10 wohnte – also in Ihrer Nachbarschaft: Helene Paetznick illustrierte 1946/47 für den Aufbau-Verlag die beiden Neuausgaben von Falladas ‚Jeder stirbt für sich allein‘ und ‚Wer einmal aus dem Blechnapf frißt‘.

 

Wolfgang Behr, Spezialist für die Illustrationen in den Fallada-Büchern, wird demnächst eine Spurensuche starten, um detailliertere Daten zur Lebensgeschichte und zum künstlerischen Schaffen zu erforschen. Wir sind gespannt und halten unter der Stierstraße Nr. 10 schon mal Platz für seine Recherchen bereit.

 

Bisher können wir nur mitteilen, daß ihr Vater, der Maurerpolier Karl Paetznick, 1907 das schmale Grundstück von den Hewald’schen Erben erworben hat. Viel Platz blieb ihm nicht, zur Rechten das Eckhaus Nr. 9 zur Benningsenstraße, zur Linken das Eckhaus Nr. 11 zur Hähnelstraße. Entstanden ist ein Mietshaus für acht Parteien, in das 1908 der Buchhändler M. Boas, die Musikdirektorin Ida Bock, der Kaufmann B. Hartmann, der Elektrotechniker H. Heintz, der Städitische Lehrer R. Jancke, der Zeichenlehrer R. Piayda, der Rentier J. Stiebel und der Vizewachtmeister H. Stiebel eingezogen waren. Kleine Wohnungen mit drei bis vier Zimmern, Küche, Bad, WC und Balkon zur Straßenseite nach Osten.

 

 

Im Berliner Adreßbuch von 1942 erscheint unter den Mietern der Stierstraße Nr. 10 erstmals der Eintrag Helene Paetznick, Graphikerin. Sie soll die Kunstgewerbeschulen in Berlin und Zürich besucht und sich zwischen 1934 und 1939 für heraldische Studien in der Schweiz aufgehalten haben. Eine erste Publikation erscheint 1944 im Vier Tannen Verlag Scheider & Co. Berlin – die Buchdeckelzeichnung für das Das fremde Mädchen von Hilde Fürstenberg. Nach dem Weltkrieg war Helene Paetznick für das Verkehrsamt Berlin, den Sender Freies Berlin und diverse Firmen tätig, die mehr oder weniger mit Papier zu tun hatten, darunter der Langenscheidt Verlag Berlin; dessen Stand sie 1954 für die Frankfurter Buchmesse gestaltete.

 

Vorläufig bleibt verborgen, wie die Friedenauer Werbegraphikerin aus dem amerikanischen Sektor für den 1945 in Ost-Berlin vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gegründeten Aufbau Verlag zu dem Auftrag für die Umschlaggestaltung kam – zumal sich der Verlag vor allem um Exilliteratur und antifaschistische Werke bemühte.

 

Nun also ihre Umschlaggestaltungen für zwei Fallada-Bücher: Die Erstausgabe von Jeder stirbt für sich allen und Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Dieser Roman war bereits 1934 im Rowohlt Verlag erschienen – ausgestattet mit einem vom Typografen und Grafiker Emil Rudolf Weß gestalteten Schutzumschlag. Unverkennbar der Respekt von Helene Paetznick vor diesem grandiosen Schrift- und Buchkünstler. Auch sie setzt auf wenige Striche, aber es gelingt ihr bei beiden Büchern nicht, die Weiß’sche Eindringlichkeit zu erreichen.
 

Max Herrmann-Neiße, Berliner Sonntag

Stierstraße Nr. 14 & 15

Max Herrmann-Neiße (1886-1941)

 

Dieses Gedicht entstand am 11. Februar 1923 in der Stierstraße Nr. 14/15. In das Gartenhaus Parterre links waren nach der Hochzeit am 14. Mai 1917 Max Herrmann und seine Frau Leni geborene Gebek eingezogen. Von da an fügte er seinem Nachnamen den Namen seiner Heimatstadt an: Max Herrmann-Neiße. Dort war er 1886 geboren worden, gezeichnet von Hyposomie. Zu dieser Kleinwüchsigkeit kam, dass sein Vater 1916 verstorben war und seine Mutter sich ein Jahr später in der Neiße ertränkte. Einziger Halt für den verwachsenen Gnom war seine aufopfernde Gefährtin Leni (1896-1960). Das blonde, schöne Mädchen träumte vom Theater und überredete ihn zum Umzug nach Berlin. In Friedenau glaubte er zuerst, dass er dem Berliner Betrieb als hoffnungslos unpraktischer Provinziale und körperlich Benachteiligter niemals gewachsen sein würde. Er gab nicht auf, schrieb nieder, was er erlebt und erlitten hatte. Als 1918/19 drei Verlage seine Gedichte herausbrachten, wurde er als Dichter gefeiert. Die offenherzigen autobiographischen Texte, gepaart mit seiner körperlichen Auffälligkeit, machten ihn obendrein interessant, weckten die Begierde der Gesellschaft.

 

Für eine Privatbühne war es eine Attraktion, dass zur Uraufführung seiner Komödie Albine und Aujust der bucklige Autor als Unikum selbst auf der Bühne stand. Über seinen Auftritt witzelte er: Erstens wird man kein Wort verstehen, weil er zu leise knödelt, dann spricht er zu schlesisch, drittens wird er steckenbleiben - in summa: Schuster, bleib bei deinem Leisten! Das blieb er, auch wenn er nun regelmäßig mit seinen Gedichten und Chansons in Kabaretts auftrat. Für Else Lasker-Schüler (1869-1945) waren sie große pietätvolle Wanduhren, schlagen herrlich, wenn er sie vorträgt. Er wurde zum bekanntesten Berliner Literaten der Goldenen Zwanziger.

 

 

Das berühmt gewordene Porträt des Schriftstellers Max Herrmann-Neiße von George Grosz gehörte ebenso in diese Welt wie sein Brief vom 18. Mai 1926 an Alfred Kerr (1867-1948): Leni ist ja leider so ganz im ‚mondänen‘ Berlin aufgegangen, dass sie da nicht mehr loszueisen ist. Seine Briefe sind so offen wie die Ehe. Nach sechs Ehejahren kam er gegen Lenis Liebe zum Juwelier Alphonse Sondheimer (1881-1960) nicht an. Er ging in Bordelle und suchte weibliche Zuwendung aller Art. Nach einem Aufenthalt in Breslau schrieb er: Also, ich werde auch ungefickt, ja sogar ungeküßt und ungerammelt von dannen schreiten.

 

Leni sorgte am 27. Oktober 1926 für den Wohnungswechsel von Friedenau nach Charlottenburg: Berlin W 15, Kurfürstendamm 215, Gartenhaus, 2. Stock, vis-à-vis dem Uhlandeck, also dichte bei Romanischem Café und Nelson-Theater. Nach dem Reichstagsbrand war damit Schluss. Am 2. März 1933 hatte Leni den Nörgler Max und den Zappelphilipp Alphonse nach Zürich geschleppt, und damit beiden das Leben gerettet. Später ging dann in der gemeinsamen Londoner Wohnung das tragikomische Lust-Spiel weiter – zu dritt. Bis zu seinem Tod am 8. April 1941 arbeitete er an dem Roman Unglückliche Liebe. Die letzten Zeilen entstanden in der vorletzten Nacht seines Lebens: Da ist die Frau, die ich geliebt und geheiratet habe. Wie seltsam sind wir uns im Laufe der Jahre entglitten! Ich kann nicht einmal sagen, wie es gekommen ist. Eigentlich lieben wir uns noch, wenigstens in den besseren Stunden unseres Selbstbewusstseins. Wir küssen uns vor dem Einschlafen und liegen dann Hüfte an Hüfte, eins dem andern vertrauend. Aber wir schlafen nicht, heucheln nur voreinander Schlummer, und jedes ist mit seinen eigenen Gedanken, Ängsten, Lüsten und Wünschen unlösbar allein.

 

Max Herrmann-Neiße wurde am 15. April 1941 auf dem East Finchley Cemetery London (Grab P3- 31) bestattet. Als seine Verehrer 2001 zum 60. Todestag an ihren schlesischen Dichter erinnern wollten, fragten sie bei der Deutschen Botschaft in London an, wie es denn um die Pflege seines Grabes stehen würde. Mitgeteilt wurde ihnen, daß die Kosten für die Grabpflege in diesem Jahr [wie bereits schon seit 1999] nicht vom Auswärtigen Amt getragen werden. Wegen der angespannten Haushaltslage und den immer größer werdenden Einsparungen muss sich das Amt bedauerlicherweise aus Grabpflegeverpflichtungen zurückziehen. Ich möchte Sie bitten zu prüfen, ob nicht private Förderer wie Literaturzirkel oder Stiftungen bereit wären, die Kosten für die Grabpflege zu übernehmen.

 

Nachdem sich Menschen gefunden hatten, die Kosten zu übernehmen, ging die Geschichte erst richtig los. Die Botschaft fragte beim Auswärtigen Amt an, ob dazu die Erlaubnis gegeben würde. Am 19. Februar 2002 kam die Antwort: Eine regelmäßige Pflege des Grabes würde in den kommenden Jahren einzig auf dem gelegentlichen Waschen des Steines und dem Wegräumen von Laub beruhen. Der allgemeinen Verfassung der Grabstätte würde hierdurch jedoch nicht aufgehalten werden können. Im Interesse einer dauerhaften und angemessenen Sicherung sollte jedoch dringend eine umfassende, hinsichtlich der anfallenden Kosten vergleichbare einmalige Sanierung ins Auge gefasst werden. Ich hoffe, Sie stimmen mit mir überein, dass mit einer grundlegenden Sanierung der Grabstätte von Max Herrmann-Neiße die Voraussetzung geschaffen ist, dem Andenken des Dichters eine angemessene und würdige Dauer zu verleihen. Eine mehr als zynische Antwort.

 

Da 2016 sowohl der 130. Geburtstag als auch der 75. Todestag von Max Herrmann-Neiße anstand, fragten wir den Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts Dr. Andreas Görgen. Die Antwort kam aus der Londoner Botschaft: Die Grabstätte von Max Herrmann-Neiße wurde 2002 einer ausführlichen Instandsetzung unterzogen. Die Deutsche Botschaft London war damals in Kontakt mit der Friedhofsverwaltung. Für die Kosten kamen zwei private Sponsoren auf. Ob die beiden Herren sich weiterhin um die Grabpflege kümmern, ist uns nicht bekannt. Auf unsere Bitte, wenigstens die Inschrift wieder lesbar zu machen, teilte uns der Kulturchef des AA am 4. Dezember 2017 mit: Wir werden mit den Kollegen in London sprechen. Danach Stille. Görgen berät inzwischen Kulturstaatsministerin Claudia Roth.

 

Max Herrmann-Neiße, Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen

Um die Grabstätte hat sich seit Jahren niemand gekümmert. Max Herrmann-Neiße war nach dem Reichstagsbrand 1933 mit seiner Frau Leni in die Emigration gegangen und hatte sich schließlich in London niedergelassen. 1938 haben ihm die Nationalsozialisten offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Er beantragte die englische – ohne Erfolg. 1941 ist er gestorben, an Heimweh und Herzeleid, ohne Nachkommen. Auf unsere Nachfrage, ob Max Herrmann-Neiße nun als Deutscher oder Staatenloser einzustufen ist, bekamen wir von der Deutschen Botschaft in London folgende Antwort: Die NS-Zwangsausbürgerungen, von denen auch Max Herrmann-Neiße betroffen war, sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes (Entscheidungen vom 14. Februar 1968 - 2 BvR 557/62 - und 15. April 1980 - 2 BvR 842/77) als nichtig anzusehen. Verfolgte haben durch diese Zwangsausbürgerungen ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren, soweit sie nicht zu erkennen geben, dass sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen wollen. Da die Zwangsausbürgerungen nichtig sind, haben auch Verfolgte, wie Max Herrmann-Neiße, die den 8. Mai 1945 nicht überlebt haben, ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren.

 

Dem Deutschen Literaturarchiv Marbach wurden einst Photographien aus den Friedenauer Jahren von Max Herrmann-Neiße überlassen - nicht fürs Archiv, sondern für die Öffentlichkeit, um die Erinnerung an Max Herrmann-Neiße wachzuhalten. Wir hätten diese Aufnahmen auf dieser Webseite gerne veröffentlicht. Da die Veröffentlichungsgebühren des von der Bundesregierung finanzierten Instituts horrend sind, müssen wir auf diese leider verzichten. Unser Dank geht an die Universitäts- und Landesbibliothek Münster, die uns aus ihrer Sammlung nachfolgende Photographien aus den Londoner Exiljahren von Max Herrmann-Neiße für die Veröffentlichung zur Verfügung stellte.

 

http://www.ulb.uni-muenster.de/sammlungen/nachlaesse/nachlass-herrmann-neisse.html

 

Stierstraße 16, 1953. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Stierstraße Nr. 16

 

Das Interesse an einer Miethausbebaung der Grundstücke Stierstraße Nr. 14-19 hielt sich in Grenzen. 1910 ging Nr. 16 an die Handelsgesellschaft für Grundbesitz Berlin. 1912 ist für die Grundstücke Nr. 16 bis 19 als Eigentümer die Firma Baugeschäft Paul Doemeland eingetragen, die gleichzeitig unter Paul Doemeland, Hypotheken, Schöneberg, Stierstraße Nr. 19, Hochparterre, firmiert. Ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg waren die Bauten mit Seitenflügeln und Gartenhäusern von jeweils über 20 Mietparteien bezogen, darunter in Nr. 18 der Historiker Friedrich Thimme (1868-1938), der 1922 unter dem Titel Die Große Politik der Europäischen Kabinette die höchst bemerkenswerte Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes 1871-1914 publizierte.

 

Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Häuser Stierstraße Nr. 16 bis 19 durch Bomben beschädigt. Die 1947 vom Baulenkungsamt Schöneberg erstellte Schadenskarte vermerkt für Nr. 16 vielleicht wiederherstellbar (Grün) und für Nr. 17 bis 19 Abbruch empfehlenswert. Die Aufnahmen von Herwarth Staudt von 1953 belegen allerdings, daß ein Wiederaufbau zumindest teilweise möglich gewesen wäre. Bevor die Bomben fielen, war Nr. 16 im Besitz der Grundstücksgesellschaft Stierstraße 16 GmbH mit 28 Mietparteien.Staudts Aufnahme von 1953 zeigt links die Ruine Nr, 17 und rechts daneben das schin wiederhergestellte Haus Nr. 16 mit ausgebautem Dachgeschoss.

 

Stierstraße Nr. 17-19

Philippus-Kirche und Diakoniestation

 

Was bezweckte Bischof Otto Dibelius mit dem Bau der Philippus-Kirche? Sollte der beim Wettbewerb um den Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.gescheiterte Architekt Hansrudolf Plarre (1922-2008) entschädigt werden? War Friedenau mit der Kirchengemeinde Zum Guten Hirten, dem Gotteshaus am Friedrich Wilhelm-Platz und seinen Seelsorgbezirken nicht gut versorgt? Der Vorgang hat ein Geschmäckle.

 

Am 5. November 1958 wurde vom Bezirksamt Schöneberg für die Grundstücke Stierstraße Nr. 17 bis 19 der Bebauungsplan XI-51 K aufgestellt, in dem diese als Vorbehaltsbauplatz für soziale und kirchliche Zwecke ausgewiesen wurden. Kurz danach erwarb die Evangelische Kirche die Grundstü> 

Da die Nathanaelgemeinde angeblich seit 1954 eine Gemeindeschwesternstation iin der Stierstraße Nr. 14/15 unterhielt, für die jeglicher Nachweis fehlt. Später soll auf dem Nachbargrundstück ein Zelt der Berliner Stadtmission errichtet worden sein, das dann die Anregung zum Bau der Kirche an dieser Stelle gab. Die Nathanael-Kirchengemeinde war im Gespräch. Ob die Kirchengemeinde Zum Guten Hirten einbezogen wurde, wird geflissenlich verschwiegen. 1958 entschieden sich Evangelische Kirche und Nathanael-Gemeindekirchenrat für einen Entwurf des Architekten Hansrudolf Plarre, der als Kirchenbaumeister damals bei Dibelius en vogue war, denn wenig später bekam er den Zuschlag für den ziemlich ähnlichen Bau der Charlottenburger Sühne-Christ-Kirche. Am 24. Juni 1962 übernahm selbstverständlich Bischof Otto Dibelius die Kirchweihe.

 

Uwe Johnson, der Dichter beider Deutschlands, der 1963 mit Frau und Tochter in das gegenüberlie Haus Stierstraße Nr. 3 eingezogen war, schrieb am 19. November 1969  eine Rede zum Bußtag: Ich lebe in einer Berliner Straße, aus der die Bomben drei Miethäuser herausgetrennt haben, gegenüber der einstmals leeren Fläche, auf der die evangelische Kirche ein Haus für den Dienst an Gott und eins für die Geselligkeit hat hochziehen lassen, in einer recht modeseligen Auffassung von Baukunst, und nicht nur die auswärtigen Besucher stehen versonnen an meinem gemieteten Fenster und sprechen unverhofft von einem Ski-Übungshang. Dennoch sind unsere Beziehungen zu dieser Niederlassung Gottes verblüffend innig. Das kommt von dem frei stehenden Glockenturm, der, besonders am Freitag, zu oft knalligen Lärm in die Schallkanäle zwischen den vierstöckigen Häusern drückt, die Fenster dröhnen macht und nicht nur Kleinkindern Ohrenschmerzen bereitet. Einer Fluggesellschaft würde die Bürgerschaft zumindest fahrlässige, wahrscheinlich vorsätzliche Körperverletzung vorwerfen. Aber diese Körperschaft des öffentlichen Rechts nimmt ein jungmädchenhaft gekränktes Wesen an, wenn man sie behandelt wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, und ich habe nicht angefangen, Unterschriften zu sammeln. Und wenn diese Kirche nicht nach mir ruft in ihrer grobianischen Manier, traue ich mich in ihre Nähe und lese die Ankündigungen im Schaukasten, die Farblichtbildervorträge über die Seilstraßenbahnen in San Francisco oder die Erstickung des Individuums in den Zwängen und Isolierungen der modernen Industriegesellschaft, mit Diskussion, und bin regelmäßig verdutzt durch die Hartnäckigkeit, mit der dies Institut die feuilletonistischen Entwicklungen verfolgt, nicht nur in der Architektur, auch in der zeitgemäßen Reform seines Betriebsauftrags, der in der Erklärung der Welt für Mitglieder und Schwankende besteht. Und wie viele meiner Nachbarn drücke ich meine Hochachtung schweigend aus, und gehe nicht hinein.

 

1962 gab es eine Nathanael- und eine Philippusgemeinde, die im Jahr zur Philippus-Nathanael-Kirchengemeinde fusionierte. Mit der Philippus-Kirche wird die Evangelische Kirche nicht glücklich. Das liegt zum großen Teil an ihrem Kirchlichen Bauamt, das mit dem Grundstück zwischen der gewaltigen Brandmauer Nr. 16 und den nach dem Weltkrieg übriggebliebenen Bauten Nr. 21 & 22 nichts anzufangen wusste. Zur Straße das Gotteshaus auf einem spitzwinkligen Grundriss mit dem blau-grünen Glasfenster von Florian Breuer (1916-1994), mit Abstand daneben der Campanile als trapezförmiger Turm aus Sichtbeton, dahinter die in mehreren Baustufen errichtete Diakoniestation – alles umgeben von beschrankten Mitarbeiterparkplätzen, so daß die hinter dem Glockenturm platzierte Skulptur des Friedenauer Bildhauers Gerson Fehrenbach (1932-2004) von Flaneuren nicht entdeckt werden kann. 2010 wurde die Philippus-Kirche von der Bauaufsicht gesperrt, weil das Dach einzustürzen drohte. Nachdem die Gemeinde den vor ihr geforderten Eigenanteil an der Sanierung des Kirchendachs zusammengetragen hatte, wurde die Dachkonstruktion erneuert und 2012 wieder eingeweiht. Der Besuch der Gottesdienste hält sich in überschaubaren Grenzen.

 

 

Stierstraße 20-23

 

Mit der Bebauung des Terrains, welches bisher Acker- und Gartenland war und von der angelegten Stierstraße durchzogen wird, wurde 1902 über die ganz ungewöhnliche: Tiefe dieser Grundstücke debattiert. Sie zwingen eigentlich dazu, recht viele Hinterwohnungen zu bauen, für die sich nur schwer Käufer finden, da sie dem Eigentümer nicht so viel Miethe bringen wie Vorderwohnungen.

 

Maurermeister Otto Berheine, Besitzer und Bauherr der Grundstücke Stierstraße Nr. 21 und Nr. 22 drehte den Spieß um. Er spiegelte den üblichen u-förmigen Grundriss, so daß auf dem tiefen und breiten Doppelgrundstück drei ineinander verwobene Gebäudeteile entstanden. Mit der Verlagerung des Innenhofes zur Straßenfront, erhielten die Häuser reprässentative Entrées. So schuf er insgesamt herrschaftliche Vorderhäuser für 36 Mietparteien in 3 bis 7 zimmrigen guten und gesunden Wohnungen, die dem Stadtteil alsbald ein gutes und steuerkräftiges Publikum zuführten.

 

Kaum waren die Wohnungen 1905 bezogen, kam am 8. Oktober 1907 die Zwangsvollstreckung für die im Grundbuch eingetragenen Grundstücke von 17 ar 93 qm bzw. 17 ar 85 qm großen Anwesen, bestehend aus Vorgarten und Hofraum mit Wohngebäude bei einem Grundsteuer-Nutzungswert von jeweils 15.000 Mark. 1909 waren Nr. 21 & 22 im Eigentum von R. Steinberg, dem Besitzer der Hutfabrik in Luckenwalde. Bis zum Zweiten Weltkrieg folgten als Eigentümer Groß & Hermann (1925), Grundstücksgesellschaft mbH Hausfrieden (1930), Bodenverwertung-und Hypotheken AG.. Dann fielen die Bomben.

 

1947 erstellte das Schöneberger Hochbauamt eine farbige Schadenskarte: Für Nr. 20 hieß es elleicht wieder herstellbar (Grün) und für Nr. 20 bewohnbar bzw. wieder herstellbar (Gelb). Die vom Fotografen Herwarth Staudt im Auftrag des Baulenkungsamtes Schönberg zwischen 1950 und 1954 erstellten Aufnahmen belegen allerdings, daß ein kompletter bzw. teilweiser Wiederaufbau durchaus gerechtfertigt gewesen wäre. Dennoch wurde der rechte Gebäudeteil des Berheineschen Hauses abgerissen. Auf dieser Fläche entstand unter der heutigen Adresse Stierstraße Nr. 20A mit einer Spende der Stiftung Hilfswerk Berlin und der ARD-Fernsehlotterie eine Seniorenfreizeitstätte ein Flachbau aus Klinkern. Was von Berhein noch übriggeblien war, wurde entdekoriert.

 

Stierstraße Nr. 19

Meta Laserstein (1867-1943)

Lotte Laserstein (1898-1993)

Käte Laserstein (1900-1965)

 

Die heute wohl bekanntesten Bewohner der Stierstraße Nr. 19 waren die Lasersteins. Ihre Geschichte beginnt am 8. Februar 1898 mit der Eheschließung des Apothekenbesitzers Hugo Laserstein (1859-1902) aus Preußisch Holland und Meta Birnbaum (1867-1943) aus Danzig. Am 28. November 1898 wurde Tochter Lotte geboren, am 27. Mai 1900 kam Käte zur Welt. Zwei Jahre später verstarb der Vater am 2. März 1902 im Alter von 43 Jahren. 1912 zog Witwe Meta Laserstein mit ihren Töchtern Lotte und Käte sowie deren Großmutter, verwitwete Geheime Justizrat Ida Birnbaum und deren Schwester, der unverheirateten Malerin Elsa Birnbaum, in zwei Wohnungen der Stierstraße Nr. 19.

 

In den Inflationsjahren verlor die Familie einen Großteil des Vermögens. Lotte Laserstein arbeitete als Illustratorin und Gebrauchsgraphikerin und eröffnete 1927 schließlich in Wilmersdorf, Friedrichsruher Straße Nr. 33a, eine private Malschule. Nach dem Tod von Ida Birnbaum zog Meta Laserstein mit Tochter Käte 1932 in die gemeinsame Wohnung Steglitz, Immenweg Nr. 7. Bereits mit dem ersten Rassengesetz von 1933 wurde den Lasersteins bewußt, daß die Heiratsurkunde von Hugo und Meta Laserstein mit der Angabe evangelischer Religion keinen Bestand haben würde. Die Eltern von Hugo waren Juden und Meta hatte einen jüdischen Vater. Käte Laserstein wurde als nichtarisch aus dem Schuldienst entlassen. Lotte Laserstein nutzte 1937 die Einladung der Stockholmer Galerie Moderne zur Emigration. Über eine Scheinehe mit dem Kaufmann Sven Marcus (1876-1940) erhielt sie die schwedische Staatsbürgerschaft. Als Käte Laserstein am 14. Juli 1942 von ihrer geplanten Deportation erfuhr, tauchte sie mit ihrer Freundin Rose Ollendorf unter. Nachdem Mutter Meta über den Aufenthaltsort ihrer Tochter keine Auskunst geben konnte oder wollte, wurde sie verhaftet und am 23. Dezember 1942 in das Frauen-KZ Ravensbrück gebracht. Dort starb die 76-Jährige am 16. Januar 1943..

 

Lotte Laserstein, Abend über Potsdam, 1930. Nationalgalerie Berlin

 

Lotte Laserstein (1898-1993)

 

Lotte Laserstein absolvierte wie ihre Schwester Käte die Chamisso-Schule.am Barbarossaplatz und studierte danach an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums Berlin. Da die Familie in den Inflatuionsjahren einen Großteil des Vermögens verllor, arbeitete sie zeitweise als Gebrauchsgraphikerin. 1927 eröffnete sie eine private Malschule: Lotte Laserstein, W 50, Nachodstraße 15, Telefon Rheingau 1611. Sie sorgte dafür, daß ihre Arbeiten publik wurden: In der Zeitschrift Die Woche erschien 1928 das Gemälde Russisches Mädchen mit Puderdose, im Modemagazin Bazaar unter dem Titel Sport in der modernen Kunst die Tennisspielerin (1928). Der Motorradfahrer (1929) und Morgentoilette (1930). Das Berliner Tageblatt schrieb: Lotte Laserstein – diesen Namen wird man sich merken müssen. Die Künstlerin gehört zu den allerbesten der jungen Maler Generation, ihr glanzvoller Aufstieg wird zu verfolgen bleiben!

 

Für die vom Deutschen Staatsbürgerinnenverband im Kaufhaus Wertheim präsentierte Ausstellung Die gestaltende Frau schuf sie 1930 das Plakat. Die Galerie Gurlitt ermöglichte ihr 1931 die erste Einzelausstellung. Da sie 1935 dem Fachverband Bund Deutscher Maler und Graphiker der Reichskammer der bildenden Künste nicht beitrat, wurde ihre Malschule geschlossen. Vorübergehend fand sie eine Anstellung als Kunstlehrerin an der höheren jüdischen Privatschule von Luise Zickel in Schöneberg. 1937 nutzte sie die Einladung der Stockholmer Galerie Moderne zur Emigration. Über eine Scheinehe mit dem Kaufmann Sven Marcus (1876-1940) erhielt sie die schwedische Staatsbürgerschaft.

 

In Deutschland wurde Lotte Laserstein vergessen. 1987 war es die Londoner Belgrave Gallery, die das Werk von Lotte Laserstein entdeckte. 2003 präsentierten das Verborgene Museum und die Stiftung Stadtmuseum die Retrospektive Lotte Laserstein. Die Resonanz war mäßig. Der Tagesspiegel verpennte die Chance. Nachdem es der Berliner Nationalgalerie 2010 gelungen war, für eine halbe Million Euro bei Sotheby das Gemälde Abend über Potsdam von Lotte Laserstein zu erwerben, wachten die Berliner Kunstkriiker mit Superlativen auf: Schlüsselwerk, Meisterwerk, Hauptwerk. Im Frühjahr 2020 übernahm die Berlinische Galeie die vom Frankfurter Städel-Museum konzipierte Ausstellung Lotte Laserstein – Von Angesicht zu Angesicht.

 

Das Gemälde Abend über Potsdam hatte Lotte Laserstein mit in die Emigration genommen. Jahrzehntelang soll es in ihrem schwedischen Heim über dem Sofa gehangen haben, als Erinnerung an meine Freunde, die sich 1930 über den Dächern von Potsdam zusammengefunden hatten.

 

Damals mit dabei Gertrud Süssenbach, genannt Traute, verheiratete Rose, seit 1924 Freundin, Muse und Lieblingsmodell von Lotte Laserstein, vielleicht auch mehr. Sie schilderte die Entstehung des Bildes: Zunächst wurde vor Ort die Gruppe skizziert und der Hintergrund mit der Potsdam-Topografie angelegt. Dann ging es mit der riesigen Holztafel per S-Bahn zurück nach Berlin ins Atelier, wo die Feinarbeit stattfand. Meine Position außen links vor dem Geländer stand fest, ebenso die meines Mannes, der unseren Hund zu seinen Füßen hatte. Die Mittelfigur war zuerst ein Mädchen im roten Pullover, die allerdings nicht lange genug durchhielt und schließlich durch das Mädchen im gelben Hemdchen ersetzt wurde. Der neben ihr sitzende romantische Mann hat auch einen Vorgänger. Er wurde zu seinem großen Bedauern ausgewischt. Das im Vordergrund stehende Mädchen in Grün war passend, konnte aber nicht so lange stehen. Also stand ich Modell für ihre Beine. Mein Mann Ernst, der seinen zurückgelehnten Kopf auf die Hand stützt, hatte am meisten Schwierigkeiten, seine Pose zu halten.

 

Anzeige in der FAZ vom 19. Mai 2021

Lotte Laserstein starb am 21. Januar 1993 im Alter von 94 Jahren im Lotte Laserstein starb am 21. Januar 1993 im Alter von 94 Jahren im südschwedischen Kalmar.

 

Im Feuilleton der FAZ erschien am 19. Mai 2021 nebenstehende Anzeige: Lotte Laserstein. Aus einer schwedischen Privatsammlung zu verkaufen: Gemälde aus den 1920er und 30er Jahren von Lotte Laserstein.südschwedischen Kalmar. Im Feuilleton der FAZ erschien am 19. Mai 2021 unter Verschiedenes eine winzige Anzeige: Lotte Laserstein. Aus einer schwedischen Privatsammlung zu verkaufen: Gemälde aus den 1920er und 30er Jahren von Lotte Laserstein.

 

 

Lotte Laserstein, Käte Laserstein mit Zigarette, April 1961. Auktionshaus Stahl

Käte Laserstein (1900-1965)

 

Abitur am Chamisso-Lyzeum in Schöneberg, Germanistik und Kunstgeschichte an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität München: Der Griseldisstoff in der Literaturgeschichte. Eine Untersuchung zur Stoff- und Stilgeschichte. Für den Literaturhistoriker Franz Muncker war die ausführliche Arbeit mit größtem Fleiß und Scharfsinn durchforscht. Eine Fülle treffender Bemerkungen, die stets auf gründlicher Beobachtung und selbständiger Prüfung beruhen, findet sich in allen Teilen. Das Werk von Frau Dr. phil. Käte Laserstein wurde 1926 vom Verlag Alexander Duncker Weimar gedruckt. Damit nicht genug: 1928 erschien im Verlag von Emil Ebering Berlin Wolframs von Eschenbach Germanische Sendung und 1931 bei Walter de Gruyter Die Gestalt des bildenden Künstlers in der Dichtung.

 

Danach hatte Käte Laserstein von der Germanistik genug. 1931 schrieb sie sich an der Universität Greifswald ein, wo sie 1932 das Preußische Staatsexamen für das Lehramt an Höheren Schulen mit Auszeichnung ablegte. Am 1. April 1932 trat sie in Berlin ihr Referendariat an.

 

Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentum vom 7. April 1933 wurde sie als nichtarisch aus dem Schuldienst entlassen. Als am 25. April 1933 das Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen die Zulassung jüdischer Schüler entsprechend dem jüdischen Bevölkerungsanteil von 1,5 % reglementierte, entschloss sich Schulvorsteherin Luise Zickel (1878-1942) in ihrer privaten Mädchenschule auch Jungen anzunehmen. Da die Räumlichkeiten in der Kufsteiner Straße 16 nicht mehr ausreichten, zog sie mit ihrer Höheren Privatschule für Mädchen und Jungen und jüdische Volksschule in das ehemalige private Lorenz-Lyzeum in der Schmargendorfer Straße Nr. 25.

 

 

 

 

Angeboten wurde das komplette Lyzeumsprogramm mit Englisch, Französisch, Hebräisch und Religion. 1937 hatte die Schule mehr als 200 Schüler und Schülerinnen und 16 Lehrkräfte, darunter Käte Laserstein und ihre spätere Lebensgefährtin Rose Ollendorf (1904-1960). Nachdem die Schule 1939 geschlossen wurde, ging Käte Laserstein für einige Zeit nach England, kehrte aber wegen ihrer Mutter Meta und Rose Ollendorf nach Berlin zurück: Ab dem gesetzlichen Datum, dem 1. September 1941, trug ich den Judenstern und war somit von einem menschenwürdigen Dasein in Freiheit ausgeschlossen. Die Bemühungen ihrer Schwester Lotte, inzwischen schwedische Staatsbürgerin, Mutter, Schwester und Freundin Rosa nach Schweden zu holen, scheiterten.

 

Nachdem Luise Zickel Anfang Januar 1942 nach Riga deportiert worden war, erhielt auch Rose Ollendorff die Aufforderung, sich zur Deportation bereitzuhalten. Meta und Käte Laserstein nahmen sie in ihrer Steglitzer Wohnung Immenweg 7 auf. Als Käte Laserstein am 14. Juli 1942 von ihrer Deportation erfuhr, tauchten beide unter. Meta Laserstein wurde am 23. Dezember 1942 verhaftet und in das Frauen-KZ Ravensbrück gebracht.

 

Käte Laserstein und Rose Ollendorf fanden Unterschlupf bei einer Tante in Schöneberg, dann in Charlottenburg und schließlich ab März 1943 über zwei Jahre in der Laube ihrer ehemaligen Lehrerin Gertrud Kopitsch in der Kleingartenkolonie Schmargendorf. Heimlich, ohne Wissen der Studienrätin, brachte Rose Ollendorff dort auch ihre frühere Lebensgefährtin Lucie Friedländer unter. Dort gab es weder Licht noch Heiz- oder Kochmöglichkeit und während der Wintermonate kein Wasser, dafür aber Nachbarn, die wir weit mehr zu fürchten hatten als Bomben und Minen, erinnert sich Käte Laserstein 1953.

 

Am 9. Februar 1945, so beschreibt es Charlotte Elisabeth Wust (1913-2006) in ihrem Taqebuch, hatte sie, inzwischen mit der Jüdin Felice Schragenheim (1922-1945) liierte Mutter von drei Söhnen, in einem Restaurant Käte Laserstein, Rose Ollendorf und Lucie Friedländer kennengelernt: Mein Gott, wie leben diese Frauen. Sie können nur bei Dunkelheit ein- und ausgehen. Sie waschen sich in den Restaurants und trocknen ihre Wäsche heimlich an den Stühlen, auf denen sie sitzen. Ein Glück, dass jetzt der Krieg endlich zu Ende geht. Es wird schon werden. Elisabeth Wust nahm sie in ihrer Wohnung in der Friedrichshaller Straße Nr. 23 in Schmargendorf auf. Im Haus soll sie die Frauen als ausgebombte Cousinen aus Frankfurt ausgegeben haben.

 

Käte und Rose überlebten in Berlin. Im Mai 1945 zogen sie wieder in die Steglitzer Wohnung Immenweg Nr. 7. Von Juli bis Oktober 1945 war Käte Laserstein als Dolmetscherin bei der britischen Militärbehörde in Berlin tätig. Am 1. Dezember 1945 begann sie als Lehrerin im Rang einer früheren Studienrätin an der Lankwitzer Oberschule für Mädchen in der Barbarastrasse. Im Juli 1946 siedelte sie nach Stockholm zu ihrer Schwester über, kehrte aber nach acht Jahren wieder nach Deutschland in ihre Wohnung Immenweg Nr. 7 zurück. Nach den Sommerferien 1954 übernahm Oberstudienrätin Dr. Käte Laserstein ihre erste Klasse als Lehrerin für Deutsch und Englisch an der Gertraudenschule in Dahlem. Der frühe Tod ihrer erst 53-jährigen Freundin Rose Ollendorf im Sommer 1960 wird zum Denken über das gelebte Leben. Ich habe arbeiten gelernt, aber nicht leben. Am 8. oder 9. August 1965 erleidet sie beim Schwimmen einen Herzinfarkt. Zur Trauerfeier am 18. August 1965 versammelten sich Lehrer und Schüler der Gertraudenschule und Nachbarn aus dem Immenweg. Aus Schweden reiste Schwester Lotte Laserstein an.

 

Die Story von Aimée & Jaguar

1993 lernte die Ikone des österreichischen Feminismus Erica Fischer in Berlin die 80-jährige Charlotte Elisabeth Wust, genannt Lilly, kennen. Fischer erfuhr von der Liebesbeziehung der Arierin zur Jüdin während der NS-Zeit. Die gewiefte, aber bisher erfolglose Autorin, sichtete Lillys Tagebuch, führte Gespräche und fertigte nach Recherchen die fragwürdige dokumentarische Erzählung Aimée & Jaguar. 1999 kam der gleichnamige Film mit Maria Schrader und Juliane Köhler in die Kinos. Mit der Geschichte von Käte Laserstein und Rosa Ollendorf hat dieser Film nichts zu tun. Aber, so Erica Fischer 2022 kurz vor ihrem 80. Geburtstag: Der Feminismus hat mich gerettet. Das sagt alles. Der Nachlass von Elisabeth Wust kam ins Jüdische Museum Berlin, an dem für die Geschichte von Käte Laserstein und Rose Ollendorf offensichtlich kein Interesse besteht.

 

Exkurs Käte Laserstein

Am 22. Februar 2020 schrieb uns Herr Michael Hoffmann aus Charlottenburg zum Haus Stierstraße Nr. 19: Frau Oberstudienrätin Dr. Käte Laserstein war ab Herbst 1960 meine Lehrerin an der Gertraudenschule in Dahlem. Sie unterrichtete Deutsch und Englisch und führte mich im März 1963 zum Abitur. Noch heute, Jahrzehnte später, ist sie mit ihrer Kompetenz als Lehrerin, ihrem scharfen Verstand und besonders auch mit ihrem Witz in lebendiger Erinnerung. Ohne Zweifel war sie eine herausragende, ungewöhnliche und prägende Persönlichkeit.

 

Mitschülerinnen beschrieben sie als ca. 1,60 groß, korpulent, dicke runde Brillengläser, kurzes, graues, sehr dünnes, krauses Haar, das um den Kopf herum stand und durch das die Kopfhaut hindurch schien; intelligentes Gesicht, sinnlicher Mund; starker Gegensatz zu der eher plumpen Figur die auffallend kleinen Füße und Hände, hübsche, zierliche Hände mit kurzen, rund gefeilten Fingernägeln; an der linken Hand trug sie einen Ring mit einem runden, goldgefassten, dunklen Stein, ansonsten keinerlei Schmuck. Die Kleidung bestand immer, sommers wie winters, aus strengen, doppelreihigen Schneiderkostümen in gedeckten Farben mit hochgeschlossenen Blusen und Gesundheitsschuhen an den Füßen. Niemals trug sie irgendetwas Farbiges und schon gar nicht Lippenstift oder sonstige Schminke.

 

Ihr Unterricht war stets interessant gestaltet und bot die Möglichkeit, viel zu lernen. Besonders ihre Aperçus hatten es mir angetan und konnten mir in mancher Lebenssituation weiterhelfen. Dazu einige Beispiele:

 

K.L. zu einem Schüler: Wiederholen sie doch bitte einmal, was wir in der letzten Stunde zu dem Thema erörtert haben. Aber fangen sie nicht beim Ersten Punischen Krieg 264 bis 241 v. Chr. an.

K.L.  Was ist Bildung? Bildung ist, wenn man den Namen Klopstock hört und nicht lacht!

K.L. Wie nähert man sich einem Gemälde? Man nähert sich einem Gemälde wie einem König: Man wartet, dass es einen anspricht.

K.L. zur falschen Benutzung eines Wortes: Es ist widersprüchlich, wenn man formuliert: Sie saß laufend am Fenster. Richtig hat es zu heißen: Sie saß ständig am Fenster!

K.L. zum Gebrauch des Wortes ‚beleuchten‘: Mit wieviel Watt?

 

In einem Hausaufsatz hatte Michael Hoffmann aus dem Feuilleton Abgeschriebenes aufgenommen, ohne es als Zitat zu kennzeichnen: Michael, ich lese auch den Tagesspiegel. Zitat erwünscht, Plagiat unerwünscht. Oder auf Hoffmanns Äußerung – Darauf kommt es nicht drauf an – ein typisches Berliner Idom: Sagen sie mal, Michael, wo haben sie eigentlich dieses Portiersdeutsch her? Als Käte Laserstein Teile meines Hausaufsatzes als Beispiel für Thema vefehlt vor der Klasse vorlesen lassen wollte, war mir das peinlich, da mein pubertäres Geschwurbel quasi halböffentlich werden sollte, und bat daher, davon Abstand zu nehmen. K. L. heftig: Es geht hier nicht um Michael Hoffmann sondern darum, dass die Klasse etwas lernt.

 

Résumé: Es ist nicht paradox, wenn nach einer Umfrage durch die „Schülermitverantwortung“, welcher Lehrer den modernsten, die Jugend ansprechenden Unterricht gebe, die Schülerschaft der Gertraudenschule den Preis der 65 Jahre alten Oberstudienrätin Dr. Käte Laserstein zuerkannte.

 

 

 

Stierstraße Nr. 22

Von der Restauration Carl Schwarz (1905) zur Kogge un dem Friedenauer Pub

 

Die Stierstraße war 1903 noch unbebaut. 1904 ist im Adressbuch für Nr. 22 ein Neubau von Baumeister Otto Berheine eingetragen. 1905 wurde die Restauration von Carl Schwarz eröffnet und im Dachgeschoss für sofort und 450 bis 500 Mark große, helle Atelierräume offeriert. 1907 soll im Wege der Zwangsvollstreckung das in Schöneberg, Stierstraße 22 belegene, im Grundbuch von Schöneberg, Band 78, Blatt Nr. 2642, auf den Namen des Maurermeisters Otto Berheine eingetragene Grundstück am 8. Oktober 1907 durch das Königl. Amtsgericht Schöneberg, Grunewaldstraße 94/95, versteigert werden. Das Grundstück besteht aus Hofraum und Vorgarten, Wohnhuas mit Seitenflügel und Quergebäude, ist 17 ar 93 qm groß und hat einen Gebäudesteuer-Nutzungswert von 15.000 Mark. Neuer Eigentümer wird der Kaufmann W. Zimmerling aus Berlin. Aus der Buchhandlung wird die Gastwirtschaft von K. Schwarz. Zum 8. September 1913 lädt jedoch der Verein der Gast- und Schankwirte zur Versammlung beim Kollegen Carl Haar Stierstraße Ecke Hauptstraße ein. Zimmerling bleibt bis mindestens 1943 Eigentümer des Anwesens. Die Pächter geben sich die Klinke in die Hand. Am längsten hält wohl Gastwirt Ulke durch, der die Kneipe 1933 übernahm und die Bombardierungen der Häuser Stierstraße 21-17 erlebte. Bis 1953 ist er Kneipier.

 

Es gibt Kneipen, erzählt der alteingesessene Antiquarius Rüdiger Barasch während seines Kiezrundgangs, die überstehen einfach alles: Kaiser, Kriege und Kiezgrößen. Die Menschen kommen und gehen. Der Geruch und die Geschichten bleiben. Jeder Mensch ist ja sein Lebenslauf: Ein Bündel aus teils verarbeiteten, teils verworren verschwiemelten oder eingebildeten oder (s.o.) erfundenen Geschichten. Was ist schon die Wahrheit? Wie Max Frisch sagt: ‚Ein jeder erzählt sich eine Geschichte, die er am Ende für sein Leben hält.‘ (Wunderbare Sentenz!) In der Kneipe (ich rede von der ‚Eckkneipe‘, der vertrauten) werden nach und nach diese je individuellen Erzählstränge bis zur letzten Marotte ausgespuckt. Sie treten ans Kneipenlicht und es kommt zum Austausch und unter Umständen zu handfesteren Konfrontationen. Geschichte & Geschichten prallen aufeinander, Weltsichten verknäulen oder konturieren sich. Wie auch immer: Romba Zomba! Prost!  Von den Blondinen oder dem Mannsbild hinter der Theke gar nicht zu reden. Ob schlagfertig (‚Herz mit Schnauze‘), gerissen, gelangweilt oder jovial-gelassen, sie nehmen ihre Beichtmutter- bzw. Vaterrolle an. Notfalls animieren sie, denn Beichten fördert’s Geschäft und verhindert Stillstand, Öde, eigene Langeweile. Die Wirte & Bedienungen sind wahre Therapeuten, die sich einen feuchten Pfeffer um ‚Therapie‘ kümmern. (‚Wat soll dette denn heißen?‘)

 

Heute krankt Friedenau eher an einer Überschwappung von konzessionierten und abrechnungsfähigen ‚Therapeute/INNEN‘. Und ‚Coacher‘ übernahmen die Eckneipen. – Jenun, alles ist flüchtig. Meine Pflicht aber ist, für die ‚Kogge‘ ein Ströphlein zu summen. Denn dort ging ich jahraus jahrein vor Anker. Der Wirt Günter Liefke (65) übernahm am 1. September 1970 daselbst das Ruder. Seither hat die Kogge einen richtigen Kapitän und ist in ruhigem Fahrwasser. Vorher wechselten die Besitzer fast jährlich.‘ Nur die Stammgäste blieben treu. Im März 2013 steht er noch hinter der Theke. Ein Dinosaurier! Ein biographisches Kontinuitätsbeispiel von äußerstem Seltenheitswert in diesem anstrengenden Gewerbe. Weit über 40 Jahre uff’n Buckel und seine Schwester Edda (Jahrgang 1939) steht ihm immer noch hilfreich zur Seite. Wer hält das aus? Allein den Verlauf und Wandel in diesen Jahrzehnten zu beschreiben, würde auf romanhaften Umfang anschwellen. Schwänke und Überschwang reichlichst. Aber auch in diesem Falle gilt: ‚die Himmel wechseln ihre Sterne – geh!‘ (Gottfried Benn). Bordellkönige wie Hans Helmke oder Otto Schwanz ließen nicht nur die Puppen tanzen, sondern schmissen auch die eine oder andere Runde. Selbst Nobelpreisträger Günter Grass nahm in der Kogge seinen Schlummertrunk. Vielleicht lag’s auch am guten Essen. Unser Steak war richtig berühmt.‘  Heute gibt es Buletten und Bockwurst. Das stört die treuen Gäste wenig. Man sitzt, plaudert über alte Zeiten und schaut zur Kogge über dem Tresen.

 

Nach dem Ausscheiden von Liefke wurde renoviert. ‚Zur Kogge‘ ist nun Friedenauer Pub. Die Berliner Traditionsbiermarken Kindl und Schultheiss fließen vom Faß. Und Sky gibt’s dazu.