Am 26. März 1889 wurde die Schöneberg-Friedenauer Terraingesellschaft gegründet. Eingebracht wurde ein Terrain hinter dem Wannseebahnhof Friedenau von über 26 ha, begrenzt durch Rubens- und Peter-Vischer-Straße. Die Terraingesellschaft richtete am Dürerplatz Nr. 4 ein Verkaufsbüro ein. Geworben wurde mit Gesunde Lage, vorzügliche Verbindung nach Berlin durch Wannseebahn (fast durchweg 10-Minuten-Verkehr, Fahrtzeit 9 Minuten). Ringbahn, Dampfbahn, Pferdebahn, fertige Straßen-, Kanalisations-, Gas- und Wasseranlagen. Im Adressbuch von 1893 wird die Gegend unter Vororte Friedenau, gehört postalisch zu Friedenau, politisch zu Schöneberg aufgeführt. Ziel war der Ankauf von Land, Parzellierung und Verkauf von Grundstücken. Der Bebauungsplan existierte, Straßen waren angelegt, baureife Parzellen bereits verkauft, vereinzelt waren Mietswohnhäuser errichtet. 1892 wurde aus dem Neubaugebiet das Malerviertel, versehen mit Namen von Malern, die keinerlei Bezug zu Schöneberg hatten. So entstanden Becker- (vorher Straße 7), Begas- (6), Canova- (9), Cranach- (9), Dürerplatz (5), Knaus- (46), Menzel- (3), Rembrandt- (5), Rubens- (1) und Peter Vischer- (8). Am 15. November 1901 kamen die Thorwaldsen- (72) und 1914 die Semperstraße hinzu.

 

Die Cranachstraße war 1910 bebaut und bezogen. So blieb es bis zu den Luftangriffen der Alliierten: Vom 16. Januar bis zum 30. März 1943, vom 23. August bis zum 4. September 1943, Dezember 1943, am 3. Februar 1943 (erste Welle von 11:02 bis 11:18 Uhr, zweite Welle von 11:24 bis 11:52 Uhr, am 26. Februar sowie am 18. März 1945. Danach waren Nr. 1, 13, 14, 15, 24, 25-26, 29-30, 31-32, 33-34, 37, 43, 56 und 59 Ruinen.

 

Mehr als sieben Jahrzehnte danach erfuhr die Öffentlichkeit erstmals, dass im Schöneberger Archiv Ruinenfotos aus den Jahren von 1949 bis 1957 verwaltet wurden – 4244 Fotos der Sammlung Staudt. Herwarth Staudt (1924-1994) und seine Ehefrau Ruth geb. Böhm (1925-2002) hatten vom Baulenkungsamt Schöneberg 1949 den Auftrag erhalten, Kriegsruinen zu fotografieren. Mit Blick auf die Fotos verschaffte sich die Verwaltung einen Eindruck über die Bausubstanz – und entschied dann über Wiederaufbau oder Abriss.

 

Cranachstraße Ecke Peter-Vischer-Straße, 1910. Archiv Rüdiger Barasch
Cranachstraße 1. Wikipedia, 2022

Cranachstraße Nr. 1

Ecke Dürerplatz

 

Das Haus Cranachstraße Nr. 1 Ecke Dürerplatz Nr. 2 wurde 1892/93 errichtet. Architekt war der Maurermeister Reiche. Als Bauherren und Eigentümer werden Maurermeister Reiche aus Steglitz und Tischler Wulff aus Schöneberg genannt. 1893 sind dort neun Mietparteien eingetragen. Das Haus hat den Zweiten Weltkrieg überstanden. Die Fassade wurde in den Wirtschaftswunderjahren entdekoriert. Im Erdgeschoss gab es Gewerbe mit häufig wechselnden Nutzern. Aus dem Räumen einer Wäscherei wurden 1965 mit Hilfe der Dortmunder-Hansa-Brauerei die Dürerstuben mit dem typischen Berliner Angebot Bulette & Bockwurst mit Salat. Mit dem Namen Dürerstuben wurde an das 1893 unter der Adresse Dürerplatz Nr. 1 eröffnete Bierlokal Zum Dürer erinnert. 1974 wandelte die Pächterfamilie Maier die Lokalität zu einer gepflegten Fresskneipe um. 2016 gaben die Maiers auf. Es folgten kroatische und aktuell indische Küche.

 

Cranachstraße 2, LDA

Cranachstraße Nr. 2

Baudenkmal, 1894

Entwurf & Bauherr Wilhelm Rapsch

 

Die von Süden in den Dürerplatz einmündende Cranachstraße war die einzige, die mit Wohn- und Geschäftshäusern konzipiert wurde. Hier sind fast alle der um 1900 entstandenen Gebäude erhalten, auch wenn viele der Fassaden in den Wirtschaftswunderjahren entdekoriert wurden. Ein Beispiel für das ursprüngliche Erscheinungsbild dieser Bauten ist das 1894 von Wilhelm Rapsch errichtete fünfgeschossige Mietshaus Cranachstraße 2 mit reich dekorierter Stuckfassade und Ladenlokalen im Erdgeschoss. Ein kräftiger, von massiven Balkonen flankierter Erker mit aufwendigem Dekor setzt den Hauptakzent in der Mitte der annähernd symmetrisch gegliederten Straßenfassade. Der repräsentative Anspruch zeigt sich auch an den Fensterverdachungen der beiden oberen Geschosse, an den Säulen und dem gesprengten Volutengiebel des Erkers sowie an den Balusterbrüstungen und Reliefs, die in Formen der Neorenaissance gestaltet sind. Nachträglich wurden die Fenster des Mezzaningeschosses unter der weit auskragenden Traufkante vergrößert und das Dachgeschoss ausgebaut. Landesdenkmalamt, 2018

 

 

Cranachstraße 13, 1951. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 13

Ecke Beckerstraße

 

Die Grundstücke Cranachstraße Nr. 13-18 waren 1900 als Baustellen für den Eigentümer Schöneberg-Friedenauer Terrain-Gesellschaft eingetragen. 1903 heißt es im Bau. Eigentümer Regierungsbaumeister K. Kuttner (Berlin). 1905 war das Haus mit 11 Mietparteien bezogen.

 

Die Fotografie des zerstörten Eckhauses in der Cranachstraße Nr. 13 Ecke Beckerstraße Nr. 21 wurde am 16. März 1951 von Herwarth Staudt im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.aufgenommen.

Cranachstraße 14, 1951. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 14

 

Fotografien des zerstörten Hauses in der Cranachstraße 14, aufgenommen von Herwarth Staudt am 16. und 18. März 1951 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

Weiteres in Vorbereitung

Cranachstraße 15, 1951. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 15

 

Fotografie der Rückseite des zerstörten Hinterhauses in der Cranachstraße 15, aufgenommen von Herwarth Staudt am 16. März 1951 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

Weiteres in Vorbereitung

Cranachstraße Nr. 16-20

 

Mit der Bebauung zwischen Becker- und Peter-Vischer-Straße hatte die Schöneberg-Friedenauer Terraingesellschaft als Eigentümerin Probleme. Zwei Jahrzehnte nach Gründung waren die Grundstücke Nr. 13-18, Nr. 19-24, Nr. 25-32 und Nr. 33-40 noch immer Baustellen. 1911 standen die Eigentümer und Bauherren fest: Nr. 16 Rentiere Lange aus der Stubenrauchstraße, Nr. 17-18 Witwe Arndt aus Berlin und für Nr. 19-20 Oberzollsekretär F. W. Kähler.

 

Die Häuser Cranachstraße Nr. 16-20 bilden bis heute zwei ungewöhnlich große Gebäudekomplexe, deren Höfe nicht vollständig umschlossen, sondern zur Straße hin über eine breite Zufahrt geöffnet sind – eine Bauweise, bei der die Häuser um offene Hofgemeinschaften gruppiert sind. Diese Bauweise findet sich auch in der Rubensstraße Nr. 94-96 und in der Menzelstraße Nr. 23-25. In die einzelnen Häuser zogen zwischen 18 und 30 Parteien ein.

 

In Haus Cranachstraße Nr. 16 lebte 1910 der Literaturrhistoriker Theodor Poppe (1875-1914) - gefallen wenige Tage nach Beginn des Weltkriegs an der Front im ostpreußischen Wirballen. Poppe hat sich um den Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel bemüht. 1910 gab er Hebbels Werke in zehn Teilen heraus. 1913 erschien als Beitrag zur Poetik Friedrich Hebbel und sein Drama.

 

Cranachstraße 23, 1951. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 23

 

Nach der Jahrhundertwende berichtete der Friedenauer Lokal-Anzeiger, dass die Herren Moritz und Siegmund Stöckel, Inhaber der Baugeschäfte in der Fregestraße, die sogenannten Fundamentbaustellen Menzel- und Cranachstraße erworben haben, und ist zu hoffen, dass diese Baustellen, die dem Orte keineswegs zur Zierde gereichen, allmählich verschwinden, um vornehmen Mietspalästen Platz zu machen. Die Herren beabsichtigen daselbst hochherrschaftliche, mittlere und größere Wohnungen mit der jetzt beliebten und erprobten Warmwasserheizung zu erbauen. Auch die Gartenwohnungen sollen durch Zusammenlegen von mehreren Höfen und Errichtung von schmucken Gartenanlagen und Anpflanzungen von Bäumen und Sträuchern besonders gute werden, so dass dieselben in hygienischer Hinsicht bezüglich Zuführung von Licht und Luft allen Anforderungen entsprechen. Bauherr Moritz Stöckel musste dennoch über lange Zeit Inserate in die Zeitung setzen: Cranachstraße 22-23. 4, 5 u. 6 Zimmer m. Zentralheizung. Gartenhaus 2 u. 3 Zimmer mit Bad, Balkon u. Mädchenzimmer - um Mieter für die Wohnungen zu finden.

 

Das Foto des zerstörten Hauses in der Cranachstraße Nr. 23 wurde am 9. April 1951 von Herwarth Staudt im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg aufgenommen.

 

 

Cranachstraße 24, 1954. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 24

 

Fotografie gestapelter Trümmer auf dem Gelände der Cranachstraße 24 Ecke Peter-Vischer-Straße 11, aufgenommen von Herwarth Staudt am 5. April 1954 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

 

Weiteres in Vorbereitung

Cranachstraße 25-26, 1950. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 25-26

 

Fotografie des zerstörten Hauses Cranachstraße 25-26 Ecke Peter-Vischer-Straße 10, aufgenommen von Herwarth Staudt am 24. November 1950 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

Weiteres in Vorbereitung

Cranachstraße Nr. 29-30

 

Fotografie des zerstörten Hauses in der Cranachstraße 29-30, aufgenommen von Herwarth Staudt am 18. Januar 1951 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

Weiteres in Vorbereitung

Cranachstraße 31-32, 1951. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 31-32

 

Fotografie des zerstörten Eckhauses in der Cranachstraße 31-32 Ecke Thorwaldsenstraße 6, aufgenommen von Herwarth Staudt am 18. Januar 1951 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

Weiteres in Vorbereitung

Cranachstraße 33-34, 1950. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 33-34

 

Fotografie von Trümmern auf dem Gelände der Cranachstraße 33-34, aufgenommen von Herwarth Staudt am 10. Oktober 1950 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

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Cranachstraße 37, 1951. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 37

 

Fotografie eines bis auf die Grundmauern zerstörten Hauses in der Cranachstraße 37, aufgenommen von Herwarth Staudt am 10. November 1953 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

 

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Cranachstraße 43, 1951. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 43

 

Fotografie des zerstörten Hauses in der Cranachstraße 43, aufgenommen von Herwarth Staudt am 16. August 1951 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

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Arthur Willner, 1910

Cranachstraße Nr. 52

Arthur Willner (1881-1959)

 

Arthur Willner ist ein Vergessener. Daran wird sich wohl auch künftig nichts ändern, obwohl das New Yorker Leo Baeck Institut für seine vom Auswärtigen Amt subventionierte Berliner Zweigstelle seit 1. Oktober 2022 mit Markus Krah einen neuen Direktor hat. Zweifel sind angebracht, da die Suche erstens von der Personalvermittlungsfirma Storbeck unterstützt wurde und zweitens der bisherige Dozent für jüdische Religions- und Geistesgeschichte weder an der Universität Potsdam noch in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen hat.

 

Erinnert sei daran, dass das Leo Baeck Institut einst von Hannah Arendt als unabhängige Einrichtung für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums mitbegründet wurde, und es einfach nicht genügt, wenn der Nachlass dort nur aufbewahrt wird.

 

Arthur Willner kam nach dem Studium von Klavier und Komposition an den Konservatorien Leipzig und München nach Berlin. Im Adressbuch erscheint er 1907 als Musiker A. Willner, Cranachstraße Nr. 52, I. Stock. 1910 nennt er sich Konservatoriumsleiter, 1920 ist er als Tonkünstler in der Elsastraße Nr. 6 II. Stock zu Hause.

 

Der Pianist und Komponist Arthur Willner war von 1904 bis 1924 Lehrer für Komposition, Kontrapunkt, Musikgeschichte und Ästhetik am Stern'schen Konservatorium der Musik in Berlin. Gustav Hollaender (1855-1915) hatte das Institut – zugleich Theaterschule für Oper und Schauspiel – übernommen, und den 23-jährigen Willner verpflichtet. Die unbestrittene Blütezeit des Konservatoriums. 1924 wechselte er an das Neue Wiener Konservatorium, wo neben Orchester-, Dirigenten-, Opern- und Schauspielschule auch Operette, Tonfilm, Kabarett, Künstlerischer Tanz, Rhythmische Gymnastik und auch Jazz unterrichtet wurde. Der Wiener Musikverlag Universal Edition gewann ihn als Berater, wo er sich für Alban Berg, Anton Webern, Béla Bartók, Kurt Weill, Franz Schreker und Hanns Eisler einsetzte, und als Herausgeber dafür sorgte, dass die Nachwuchskomponisten Mihail Jora, Nikolaj Nikolaevič Čerepnin und Filip Lazǎr bei Universal Edition eine Chance bekamen.

 

 

 

Nach dem Anschluss von Österreich an Deutschland verließ Musikprofessor Arthur Willner am 15. März 1938 sein Domizil Zieglerberg Nr. 75 (VI. Bezirk). Über Paris emigrierte er schließlich nach England, wo er als Konzertpianist, Kammermusiker und Arrangeur arbeitete. In den Nachrufen heißt es, dass sein Gesamtwerk 6 Symphonien, Instrumentalkonzerte, sonstige Orchesterwerke, 5 Streichquartette, 2 Streichquintette, 2 Klaviertrios, Duos mit Klavier, Solowerke u. a. umfasst. Sie sind weitgehend vergessen. Am bekanntesten wurde seine Orchesterbearbeitung von Bartóks Rumänischen Volkstänzen. Arthur Willner starb 1959 in London.

 

Die Biographical Note des sogenannten Arthur Willner Collection des Leo Baeck Institut ist mehr als dürftig: Born 1881 in Turn bei Teplitz-Schönau, composer, pianist, pedagogue. Piano and composition studies at the Konservatorium Leipzig and Munich. 1904-24 teacher of composition, counterpoint, music history, aesthetics and vice-chairman Stern'sches Konservatorium in Berlin. 1924-38 teacher at the Wiener Volkshochschule, 1924-28 Neues Wiener Konservatorium, from 1924 consultant at Universal Edition. Composer, arranger. 1938 exile in Great Britain, from 1945 active as pianist, chamber musician. Over 90 works written in his British exile are still waiting to be premiered. Willner died 1959 in London.

 

Die Berliner Zweigstelle des Leo Baeck Instituts könnte mit dem Todestag von Arthur Willner beginnen. Ist er nun in London am 7. April 1959 oder am 20. April 1959 verstorben? Ein Anfang für eine Würdigung wäre zumindest gemacht.

 

Cranachstraße 56, 1950. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 56

 

Fotografie der Rückseite des zerstörten Hauses in der Cranachstraße 56, aufgenommen von Herwarth Staudt am 24. November 1950 im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg.

 

 

 

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Cranachstraße 58, 1980. Foto Jürgen Henschel, FHXB Museum Kreuzberg

Cranachstraße Nr. 58

Rosa Luxemburg (1871-1919)

 

Da war ja im April 1908 ganz schön was los in der Cranachstraße Nr. 58, als Leo plötzlich in die Wohnung im zweiten Stock und in mein Zimmer stürzte. Ich wurde, wie immer, eisig ruhig dabei, blieb auf meinem Platz und antwortete kein Wort. Das machte ihn noch rabiater, und er stürzte zu Dir, wobei er von mir die Adresse verlangte - ich antwortete natürlich nichts - und sich von Gertrud beide Schlüssel geben ließ. Wie ich das sah, ging ich zu K. (Kautskys) und blieb dort über Nacht …. Am anderen Morgen ging ich mit den Buben von Kautsky in die Wohnung, um nach Briefen zu sehen, traf ihn auf der Straße, schaute mich natürlich nicht um und ging rauf. Oben lagen meine Briefe geöffnet, und wie ich runter ging, war er wieder vor dem Hause und ging neben mir her. Er war bei Dir, Frau Großmann hätte ihm ‚alle Informationen‘ gegeben - offenbar über Besuche - ‚der Vogel sei ausgeflogen‘, aber er werde ihn schon erreichen … Du darfst jedenfalls nicht daran denken, hierher zu kommen, denn L. wird ja einen Ausbruch der Raserei haben … Schreibe mir bald, mein Süßer, süßer Schatz. Deine Niunia. Sei ruhig und heiter, Bubi, ich freute mich die ganze Zeit, daß ich Dich fern von Berlin, fern von dieser grausamen Aufregung und fern von Gefahr wußte. Diudiu, süßer.

 

Dieser Brief vom 14. April 1908 an Kostja Zetkin beschreibt das Dilemma, in das sich Rosa Luxemburg gebracht hatte. Da war Leo Jogiches (1867-1919), der berühmte Revolutionär aus Litauen, zu dem sie während ihres Studiums in Zürich eine gewisse Beziehung aufgebaut hatte, die er allerdings etwas anders sah. Er empfand ihre variationsreichen Kosenamen einengend und klammernd. Sie litt: Du hast mich dahin gebracht, dass ich mich geniere, Dir Persönliches zu schreiben, von meinen Gefühlen und Eindrücken. Es scheint mir, dass es etwas Schlechtes ist, wenn man nicht von der Sache schreibt.

 

 

 

 

 

 

 

Um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, heiratete sie am 19. April 1898 den 24-jährigen Schlosser Gustav Lübeck. Vier Tage danach mietete Frau Rosa Lübeck-Luxemburg ein möbliertes Zimmer in Berlin-Tiergarten, Cuxhavener Straße Nr. 2, Gartenhaus I. und schrieb an Leo Jogiches, dass das Zimmer so ziemlich allen Ansprüchen entspricht: 1. Stock, elegant möbliert, mit einem Pianino, sonnig, mit einem kleinen Balkon, grün bewachsen, mit Schreibtisch, Schaukelstuhl, einem Spiegel über die ganze Länge der Wand, der Balkon und das Fenster gehen in den Garten, und ringsum sieht man nur Grünes. Das Viertel ist entzückend, still, es gibt dort keine Straßenbahn, ringsum üppiges Grün, und die Luft ist ausgezeichnet.

 

Ein Jahr später hatte sie endlich eine Wohnung in der Friedenauer Wielandstr. 23 gemietet, zwei möblierte Zimmer, Salon mit Plüschmöbeln und einem großen Balkon, im II. Stock, ein Prachteingang, ich habe es gleich mit ‚Pension‘ für 80 M genommen. Ich bekomme morgens Kaffee, Mittagessen und Abendbrot um 8 Uhr. Gestern habe ich nach Hause und an Papa über uns geschrieben. Ich habe ihm geschrieben, daß wir im Frühjahr vielleicht heiraten werden. Wir haben über diese Seite der Angelegenheit überhaupt noch nicht miteinander gesprochen, aber das kann man nicht übergehen: Wir müssen etwas in der Art einer Hochzeit machen.

 

Im August 1900 zog Leo Jogiches unter dem Namen Grosovski ein, jeder in einem Zimmer, darauf bedacht, dass ihre Beziehung ein Geheimnis blieb. Dass er Rosas Mann war, sollte niemand wissen. Im Frühjahr 1902 fand sie eine geeignetere Wohnung: Lübeck-Luxemburg, Rosa, Frau Dr. jur., Schriftstellerin. Schöneberg. Cranachstr. 58 II. (Postbezirk Friedenau). 1903 wurde die Ehe mit Lübeck geschieden. Der Name Luxemburg-Lübeck blieb. Die Beziehung zwischen Luxemburg und Jogiches gestaltete sich zunehmend schwierig. Von einem gemeinsamen Leben konnte nicht die Rede sein. Politisch eng verbunden reichte ihr nicht. Sie wollte geliebt werden.

 

So kam es, dass Rosa Luxemburg ab 1907 eine Liebesbeziehung zu dem 14 Jahre jüngeren Kostja Zetkin (1885-1980) unterhielt. Den Sohn von Clara Zetkin brachte sie während seiner Aufenthalte in Friedenau zur Tarnung in einer Pension unter. Das Verhältnis sollte (auch wieder) geheim gehalten werden, vor den Genossen, vor den Freunden Clara Zetkin und Karl Kautsky.

 

Leo Jogiches schien vorerst kein Problem zu sein, da er zwischenzeitlich inhaftiert worden war. Im April 1907 musste sie Kostja Zetkin informieren, dass am letzten Sonnabend Lew Grigorowitsch aus dem Gefängnis entwichen ist. Er wird wohl bald in Berlin auftauchen. So kam es. Etwas schwammig schreibt sie an Kostja, dass gegenwärtig im kleinen Zimmer ein Genosse aus Polen wohnt, er verreist aber in diesen Tagen, und Du wirst wahrscheinlich, das Zimmer frei finden; Du kannst dann selbstverständlich bei mir absteigen. Die Liebesbeziehung zu Jogiches war zwar beendet, aber die Wohnung in der Cranachstraße blieb das gemeinsame Zuhause von Luxemburg und Jogiches.

 

Im Mai 1907 kam es zum Eklat: Geliebter, schrieb Rosa Luxemburg an Kostja Zetkin, gestern hat L Deinen Brief abgefangen, geöffnet und gelesen. Er gab ihn mir nicht, und ich will nicht danach fragen, um hier keine Katastrophe herbeizuführen. Ich weiß nicht, was Du drin geschrieben hast. Ich will Dir nur in aller Hast avisieren, daß Du nicht mehr Briefe schreibst. Geliebter, ich sehne mich so nach Dir! Welchen Ausgang die Sache nimmt, weiß ich nicht. Du musst um jeden Preis aus dieser Affäre heraus, Du musst beiseite bleiben, bis ich die Sache gänzlich ausgefochten habe. Unser Verkehr wird ja jetzt in den ersten Tagen noch viel unmöglicher als früher, denn Leo Jogiches weiß alles.

 

Im Oktober 1907 hatten sich die Wogen scheinbar geglättet. Kostja Zetkin hatte sich für ein Studium der politischen Ökonomie in Berlin entschieden. Wenn Du kommst, wirst Du die ersten Tage, bist Du eingerichtet bist, bei mir wohnen. Ich bin ganz allein, und es ist hier ganz still. Bloß geht es leider nicht oder noch nicht, daß Du wieder ganz bei mir bleibst; Du wirst schon verstehen, warum das nicht geht jetzt. Aber in der Nähe wirst Du wohnen müssen, denn Du wirst bei mir zu Mittag und Abend essen und immer, wenn Du willst, bei mir sitzen. Das kannst Du ganz ruhig. Liebling, freust Du Dich darauf?

 

Mitte April 1908 stürzte L. plötzlich in die Wohnung und in mein Zimmer. Ich wurde, wie immer, eisig ruhig dabei, blieb auf meinem Platz und antwortete kein Wort. Das machte ihn noch rabiater, und er stürzte zu Dir, wobei er von mir die Adresse verlangte (ich antwortete natürlich nichts) und sich von Gertrud beide Schlüssel geben ließ. Wie ich das sah, ging ich zu Kautskys und blieb dort über Nacht. Am anderen Morgen ging ich mit den Buben von Kautsky in die Wohnung, um nach Briefen zu sehen, traf ihn auf der Straße, schaute mich natürlich nicht um und ging rauf. Oben lagen meine Briefe geöffnet, und wie ich runter ging, war er wieder vor dem Hause und ging neben mir her. Er war bei Dir, Frau Großmann hätte ihm ‚alle Informationen‘ gegeben - offenbar über Besuche -, ‚der Vogel sei herausgeflogen‘, aber er werde ihn schon erreichen … Kleiner geliebter Bubi, nimm Dich in acht … Welchen Ausgang die Sache nimmt, weiß ich nicht ... Du musst um jeden Preis aus dieser Affäre heraus, Du musst beiseite bleiben, bis ich die Sache gänzlich ausgefochten habe. Unser Verkehr wird ja jetzt in den ersten Tagen noch viel unmöglicher als früher, denn Leo Jogiches weiß alles. So musst Du denn ruhig warten, bis ich mich ganz frei gemacht habe. Ich werde, denn ich muß mich ja frei machen - so oder so. Vielleicht endet die Sache traurig, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich küsse Dich. R.

 

1. Juni 1908 an Kostja Zetkin: Dudu Herzlieb, Dudu süßer Freund, Dudu schöner schlanker nackter Bub! In Leid und Freud sehne ich mich nach Dir. O Herzchen, ich lieb Dich so! Überhaupt werde ich immer alles tun, was Du willst, Du Liebling süßer. Liebst Du mich? Bitte küß jedesmal Deinen Brief am Ende, ich werde auch dort küssen und Dein Mündchen spüren.

 

16. Juni 1908 an Kostja Zetkin: Geliebtes, teures Herz, … gestern sah ich drei nackte kleine Buben in der See stundenlang hüpfen und schwimmen, wie toll vor Freude, die kleinen Körper glänzten feucht in der Sonne. Ich dachte daran, daß ich so am Ufer sitzen möchte, und im Wasser muß mein geliebter Bub sich so tummeln, nackt und frei. Ich muß mir einen solchen See in der Schweiz herausfinden, wo wir beide allein rasten. Ich küsse Dich, Süßer.

 

18. Juni 1908 an Kostja Zetkin: Es wäre mir schrecklich, wenn Du nicht im Verhältnis zu mir volle innere und äußere Freiheit fühlen würdest. Ich habe selbst genug unter innerer Unfreiheit gelitten und möchte Dich immer frei wie ein Vögelein, wie einen Schmetterling wissen. Also, dummer Bub, geh los, übe Deine Glieder, aber schone mir das Herzlein, hörst Du? Denn das gehört mir, und ich will es nicht angestrengt wissen ... Dudu, ich küsse Dich, ich umarme Dich.

 

13. August 1909 an Kostja Zetkin: Süßer Geliebter, einziger Schatz, Du schreibst mir seit einiger Zeit so kalt und so mechanisch nur alle zwei Tage, daß ich mir das nicht erklären kann. Ich fürchte alle Erklärungen von Dir, weil Du leicht einen Wutausbruch kriegst, deshalb schwieg ich und suchte auf Deinen Ton auch meine Briefe zu stimmen. Aber ich halte das nicht mehr aus. Ich erwarte jeden Tag sehnlich Deine Briefe, und jeder Brief gibt mir einen tödlichen Stich ins Herz; ich bin ganz krank seit der letzten Zeit. Deshalb bitte ich Dich nur um eins: Wenn Du mich nicht mehr liebst, so sag es mir offen mit drei Worten. Ich werde Dir ja nicht den leisesten Vorwurf machen, Du kannst doch nichts dafür, und einmal muß es ja doch kommen. Aber sei offen. Du bist es der ‚Wahrheit im Leben‘ schuldig und auch - der Achtung für mich. Ich küsse Dich, küsse Dich und sei es auch zum letzten Mal, mein teurer, süßer Schatz.

 

Der letzte Brief

 

Mein lieber Costia, es kostet mich eine Überwindung, Dir noch zu schreiben, aber ich will doch, daß Du beim Abschied ebenso klar in mir siehst wie ich in Dir. Also ich habe es überwunden und bin ganz ruhig. Mir ist, wie wenn seit Sonntag ein Jahr vergangen wäre; das Schwerste hatte ich schon überstanden, als Deine falschen Briefe kamen, und als ich den letzten offenen las, da trat eine große Kälte und ein Weh in mein Herz, aber doch auch eine große Ruhe. Es kam so, wie ich Dir am Anfang sagte: Du hast mich durch Deine Liebe gezwungen, Dich zu lieben, und als Deine Liebe in nichts zerrann, da war es auch um meine geschehen. Mich schmerzte, daß ich Dich nicht früher von der Last befreite, mich schmerzt die Erinnerung an die bösen und gequälten Blicke eines gefangenen Vögelchens, aber ich wagte nie das erlösende Wort zu sprechen, weil ich innerlich unser Verhältnis als eine heilige und ernste Sache hielt ... Armer Junge, Du hieltest Dich für gefangen, während Dich ein kleines leises Wörtlein jeden Augenblick frei machen konnte, wie Du ja jetzt siehst, während in Wirklichkeit ich die Gefangene war, weil mich die Erinnerung an ein leises Stammeln im kleinen Zimmer: ‚Bleib mir doch treu, bleib mir treu‘, und ein Flehen im Briefe: ‚Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht!‘ wie mit eisernen Ketten hielt. Das Stammeln eines kleinen holden Knaben hielt mein Herz fest, auch als mich Dein unglückliches Aussehen unsäglich marterte …  Nun, es ist überwunden. Ich bin mit Lust und Liebe an der Arbeit und bin entschlossen, noch mehr Strenge, Klarheit und Keuschheit in mein Leben zu bringen. Diese Lebensauffassung ist in mir gereift im Verkehr mit Dir, deshalb gehören diese Worte noch Dir. Nun bist Du frei wie ein Vögelchen, sei doch auch glücklich.

 

Rosa Luxemburg zog 1911 allein in die Wohnung im Biberacher Weg 2 in Südende – fünf Zimmer mit Küche, Haushälterin Gertrud Zlottko und Katze. Ihre Briefe aus Friedenau umfassen 938 Briefe an Leo Jogiches und 613 Briefe an Kostja Zetkin. Die Briefe von Leo Jogiches und Kostja Zetkin hat Rosa Luxemburg auf deren Wunsch verbrannt.

 

Nachfolgend als PDF die Briefe von Rosa Luxemburg an Leo Jogiches und Kostja Zetkin zwischen 1898 und 1909:

 

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Nachfolgend veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung einen Beitrag von Dr. Christian G. Pätzold zu 100 Jahre JUNIUS-BROSCHÜRE von Rosa Luxemburg der am 21. Juni 2016 zuerst auf www.kuhlewampe.net erschienen ist.

 

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Cranachstraße 59, 1952. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Cranachstraße Nr. 59

 

Das Grundstück Cranachstraße Nr. 59 war 1895 als Baustelle ausgewiesen. Zwei Jahre später war das Haus mit Seitenflügel und Gartenhaus für über 25 Mietparteien errichtet. Als Eigentümer wird 1897 Baumeister F. Flatow aus der Berliner Bülowstraße Nr. 20A genannt. 1910 geht das Anwesen an die Familie Neumann, die 1923 an den Landwirt der Domäne Hammer am Finowkanal Egbert Hayessen verkauft.

 

Der neue Eigentümer der Cranachstraße 59, Egbert Hayessen, verließ die Domäne Hammer am Finowkanal 1925. Er zog aber nicht nach Berlin, sondern pachtete das Gut Klausheide in der Grafschaft Bentheim. Der Pachtvertrag wurde am 1. Juli 1925 für 20 Jahre bis zum 30. Juni 1945 abgeschlossen.

 

In einer ganz anderen Weise hat die Familie Hayessen in Berlin dennoch Spuren hinterlassen. Dabei kann es wegen der Namensgleichheit zu Verwechslungen kommen. Denn unser Egbert Hayessen, der Eigentümer der Cranachstraße 59, hatte einen gleichnamigen Neffen – den späteren Major und Widerstandskämpfer Egbert Hayessen (1913-1944), Sohn seines Bruders Ernst Hayessen.

 

 

 

 

Das Schicksal dieses jüngeren Hayessen sei an dieser Stelle kurz geschildert: Im November 1943 wurde Egbert Hayessen in das Allgemeine Heeresamt nach Berlin in den Stab von Friedrich Olbricht versetzt. Fünf Monate später kam er als Adjutant des Berliner Stadtkommandanten Paul von Hase in das Oberkommando des Heeres in die Bendlerstraße. Nachdem das Attentat vom 20. Juli 1944 gescheitert war, wurde Egbert Hayessen noch in der Nacht verhaftet und am 15. August 1944 zum Tod verurteilt und am gleichen Tag in Plötzensee gehängt.

 

Das Berliner Haus des Onkels Egbert Hayessen in der Cranachstraße Nr. 59 ist im Krieg zerstört worden. Ein Foto des zerstörten Hauses wurde am 28. Januar 1952 von Herwarth Staudt im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg aufgenommen. Weitere Aufnahmen von Cranachstraße Nr. 60, 59-und-58 machte der Fotograf Jürgen Henschel 1982 für die in West-Berlin erscheinende SEW-Tageszeitung Die Wahrheit, wobei es wohl vor allem um das Haus Nr. 58 ging, in dem einst Rosa Luxemburg lebte.

 

Über die weitere Geschichte Cranachstraße Nr. 59 schrieb uns Volker Hayessen (geboren 1943): Mein Großonkel Egbert Hayessen (1879-1964) lebte zuletzt in Bremen, Wachmannstr. 53. Die Cranachstr.59 hat er mir vererbt. Er hatte das Haus bis auf das Gartenhaus zum größten Teil wieder aufgebaut. Ich habe es Ende der 1960ger Jahre an eine Berliner Baufirma verkauft. Mit den geringen Mieteinnahmen (Berlin war damals sogenannter weißer Kreis. Der Mietdeckel lag bei 1,25 DM) waren die Kosten (hohe Darlehensbelastung und Reparaturen) für einen Studenten nicht zu tragen. Schon mein Onkel hatte die Bewirtschaftung des Hauses einer Berliner Häuserverwaltung übertragen. Da ich keine Unterlagen mehr habe, kann ich Ihnen weder die Häuserverwaltung noch die Baufirma benennen. Vielleicht finden Sie ja noch Hinweise auf die Häuserverwaltung. Die könnte Ihnen sicherlich noch nähere Angaben machen.

 

Herta Müller, Atemschaukel. Hanser Verlag 2009

Exkurs Herta Müller

 

In der Cranachstraße lebt auch die in der rumänischen Region Banat geborene und inzwischen 70-jährige Herta Müller. 1987 bewilligte die Regierung des neostalinistischen Diktators Nicolae Ceaușescu ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland. Von wegen Ausreise – Herta Müller reiste nicht aus. Sie ging ins Exil. Das klang dramatischer und machte mehr her. Im Exil musste die nun als deutsche Schriftstellerin kategorisierte Frau alsbald registrieren, dass ihre schriftstellerischen Kreationen bei den namhaften Verlagen auf keine Gegenliebe stießen. Sie musste sich mit der zweiten Garde zufrieden geben. Da ihre Schreiberei auch dort wenig Resonanz hervorbrachte, weil sie nur ein bisschen literarisch und mehr journalistisch und politisch war, verlegte sie sich auf Statements, was ihr den Titel Brandrednerin einbrachte. Höhepunkt war ihre Kritik an Günter Grass und seinem Gedicht Was gesagt werden muss. Sie forderte von ihm Zurückhaltung, weil er ja nicht ganz neutral ist. Wenn man mal (im Alter von 17 Jahren für sieben Monate) in der SS-Uniform gekämpft hat, ist man nicht mehr in der Lage, neutral zu urteilen. Wenn er ehrlicher wäre, hätte er einen Artikel geschrieben. Will er, dass es Literatur ist und damit interpretierbar? Dort steht kein einziger literarischer Satz drin, also ist es ein Artikel.

 

Als die inzwischen 70-Jährige 2009 den Nobelpreis für Literatur erhielt, waren die Kommentare ziemlich eindeutig.  Für Nobelpreisträger Günter Grass hat die Jury so entschieden, und die werden Gründe gehabt haben. Marcel Reich-Ranicki wollte nicht über die Herta Müller reden, da hier viel Politik im Spiel sei. Noch früher spottete Arno Schmidt über die Kriterien der Preisvergabe: Was sich gut übersetzen lässt, kriegt’n Preis! Daher bedeute der Preis für seine Träger ein Stigma der Mittelmäßigkeit. Müllers rumänische Kollegen Grigore Cartianu und Cristian Tudor Popescu brachten es auf den Punkt: Wäre sie in Rumänien geblieben, hätte sie es wahrscheinlich nicht über das Niveau einer x-beliebigen Schriftstellerin geschafft. Sie spricht ständig über die Diktatur, nicht über Literatur. Als ob sie Nelson Mandela war. Vielleicht hätte der Friedensnobelpreis besser zu ihr gepasst.

 

 

Der Nobelpreis für Herta Müller und ihr Roman Atemschaukel war zuerst einmal ein gelungener Schachzug der Lobiisten. Das Buch erschien am 17. August 2009 im Carl Hanser Verlag und schon am 8. Oktober 2009 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis dekoriert. Im Nachwort zu Atemschaukel heißt es: 2001 begann ich, Gespräche mit ehemals Deportierten aus meinem Dorf aufzuzeichnen. Ich wusste, dass auch Oskar Pastior deportiert war, und erzählte ihm, dass ich darüber schreiben möchte. Er wollte mir helfen mit seinen Erinnerungen. Wir trafen uns regelmäßig, er erzählte, und ich schrieb es auf. Doch bald ergab sich der Wunsch, das Buch gemeinsam zu schreiben. 2004 reisten Oskar Pastior und Herta Müller zu Orten ehemaliger Zwangsarbeitslager in die Ukraine. Nach dem Tod von Oskar Pastior 2006 hatte Herta Müller vier Hefte voller handschriftlicher Notizen, dazu Textentwürfe für einige Kapitel. Die persönliche Nähe aus den Notizen machte den Verlust noch größer. Erst nach einem Jahr konnte ich mich durchringen, das Wir zu verabschieden und allein einen Roman zu schreiben. Doch ohne Oskar Pastiors Details aus dem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt.

 

Am 17. September 2010 machte der Historiker Stefan Sienerth bekannt, dass sich Oskar Pastior am 8. Juni 1961 schriftlich verpflichtet hatte, als IM Stein Otto für den rumänischen Geheimdienst Securitate tätig zu werden. Schadensbegrenzung war gefordert. Müller wählte nach der Enttarnung die Worte enttäuscht, bestürzt, entsetzt, verbittert. Auch von Erschrecken, Wut, Anteilnahme, Trauer war die Rede, und es sei natürlich schrecklich, wenn man von jemandem, den man zu kennen glaubte, etwas Dunkles, kaum Fassbares erfahre, etwas, was einem nie anvertraut wurde. Dann aber habe sie sich darauf besonnen, wie verletzbar, erpressbar Pastior gewesen sei: ein Homosexueller in einem Staat, der Homosexualität mit mehreren Jahren Haft ahndete. Ich muss mich von Oskar Pastior nicht distanzieren. Und ich habe einen Menschen so lieb, wie ich ihn vorher hatte.

 

Im Zentrum von Atemschaukel steht die Geschichte des Lyrikers Oskar Pastior aus Hermannstadt in Siebenbürgen, der nun als Romanfigur Leopold Auberg von der Nacht zum 15. Januar 1945 erzählte, als ihn die Patrouille abholte und in ein sowjetisches Arbeitslager brachte. Pastior als Ich-Erzähler, in vier Heften voller handschriftlicher Notizen, dazu Textentwürfe für einige Kapitel. Über Tonbandaufzeichnungen kein Wort. Die Frage muss gestattet sein: Was ist von Pastior und was ist von Müller? Eine Antwort steht aus.

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