Name seit 1895, vorher Bischofstraße, benannt nach dem Geheimen Kanzleirat und Hauptmann a. D. Louis Carl Ernst Blankenberg (1821-1889). Er stand mehr als 40 Jahre im preußischen Staatsdienst. Nach seinen Auszeichnungen zu urteilen, Ritter der III. Klasse des Rothen Adlerordens, Kronenorden, Eisernes Kreuz, müsste er im Badischer Krieg (1848/49), Preußisch-Dänischen Krieg (1848/51), Deutsch-Dänischen Krieg (1864) und Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) an der Front gekämpft haben. Danach war mit dem Kämpfen Schluss. 1871 erwarb er Anteile beim Landerwerb- und Bauverein auf Actien und wurde in dessen Aufsichtsrat gewählt. 1875 war er Eigentümer des Anwesens Nr. 4 in der Bahnstraße (später Saarstraße). Als Pensionär wurde Louis Blankenberg Schöffe und Mitglied des Gemeindevorstandes. Nach seinem Tod am 22. Dezember 1889 dankte ihm Gemeindevorsteher Roenneberg in einem Nachruf für Eifer und Pflichttreue bei Verwaltung seiner communalen Ämter, die Schärfe seines Urteils und die unabhängige Vertretung der gewonnenen Überzeugung bei den Beratungen der Gemeindebehörden. Sein Anwesen übernahm Witwe F. Blankenberg geb. Pfuhle und von 1897 bis 1904 die Blankenbergsche Erbengemeinschaft. Louis Blankenberg wurde auf dem Friedhof Stubenrachstraße beerdigt. Das Grab existiert nicht mehr.

 

Edwin Fischer, 1919. Foto Hofphotograph Ernst Haenisch

Blankenbergstraße Nr. 1

Edwin Fischer (1886-1960)

 

Fassungslos schreit Anna Fischer ihren Sohn an: Jetzt habe ich Dich verloren! Ein Leben lang hatte sie dem Jungen eingeredet, dass er sein Talent und sein Klavierspielen für immer verlieren werde, wenn er jemals, auch nur ein einziges Mal, das Ding mit einer Frau tun würde. Das allerdings hatte er bereits 1912 im Tagebuch für seine Richtlinien verinnerlicht: Liebe und Sinnlichkeit trennen. Erstere stets und überall rein, morgenkeusch und edel ausüben, keine Leidenschaftsverhältnisse, sie ruinieren. Ideal: Enthaltung. Und er ermahnt sich immer wieder selbst: Glaube mir, Edwin, es ist das einzig Richtige, zu nahe Verhältnisse zu meiden. Erkenne die Grenze und beherrsche Dich selbst! Kurze Stunden der Lust wiegen das Elend und den Verlust an Ehrgefühl nie auf. Über viele Jahre führte er konsequent seinen Kampf gegen die tierische Sinnlichkeit, das, was an dunklem Drängen, an böser Lust in mir aufsteigt, Kraft meiner Ideenrichtung umzuwandeln in göttliche, reine Freude an der Schönheit.

 

Die Rede ist von Edwin Fischer – dem großen Pianisten des 20. Jahrhunderts – an den Alfred Brendel immer wieder erinnert, den kleinen, löwenhaften, elastischen Mann auf dem Podium, bei dem jede Faser mit musikalischer Elementarkraft geladen war. Wildheit und Zartheit wohnten in seinem Klavierspiel nahe beieinander, und dämonischen Ausbrüchen folgte wie durch Zaubermacht innerer Friede. Es machte ihm ebenso wenig Mühe, außer sich wie in sich zu geraten. Eine Einfachheit, die überflüssige Komplikationen vermied, die aber zugleich höchst sensibel im Klang war – also eine Mischung aus großer Verfeinerung und einfacher Aufrichtigkeit. Seine besten Aufnahmen – vieles von Bach, Beethovens Es-Dur-Konzert mit Furtwängler, die G-Dur-Violinsonate von Brahms mit Gioconda de Vito oder seine Schubert Lieder mit Elisabeth Schwarzkopf sollten jedem an der Musik ernsthaft Interessierten zur Hand sein.

 

Das alles ist bekannt, wohlbehütet auch Elisabeth Schwarzkopf singt Lieder von Franz Schubert, begleitet von Edwin Fischer, aufgenommen 1954 bei EMI in London – seine letzte Schallplattenaufnahme. Nicht bekannt war, dass Fischer vier Jahrzehnte in Friedenau wohnte – und ihn seine Mutter hier nicht aus ihren Klauen ließ.

 

1904 zogen Mutter und Sohn von Basel nach Friedenau in die Stubenrauchstraße Nr. 65 – ein gemeinsamer Haushalt – nun, da es in Berlin viele Fischers gab – unter dem Eintrag Witwe Anna Fischer-Friedlin. 1908 erfolgte der Umzug in die Blankenbergstraße Nr. 1, eingetragen mal unter Witwe A. Fischer-Friedlin, mal unter Pianist E. Fischer. Von 1915 bis 1931 lautete die Adresse Südwestkorso Nr. 60A III., abwechselnd aufgeführt als Privatiere A. Fischer-Friedlin und Pianist Edwin Fischer. 1919 kamen die Anschriften Edwin Fischer, Pianist, Kaiserallee Nr. 192 IV. und 1934 Rentnerin Anna Fischer-Friedlin Hildegardstraße Nr. 1 hinzu.

 

Anna Fischer-Friedlin und Sohn Edwin. ZHBLU

Edwin Fischer wurde am 6. Oktober 1886 in Basel geboren. Sein Vater Johann Baptist Fischer, geboren am 24. August 1826, stammt aus einer böhmischen Familie von Instrumentenbauern. Er verließ Prag und war ab 1845 bei der Basler Concertgesellschaft als Oboist tätig. Nachdem er 1880 ordentlicher Bürger von Basel wurde, heiratete der 59-Jährige am 15. Dezember 1885 die 27-jährige Anna Friedlin. Die Tochter von Johann Friedlin, gebürtiger Basler und Inhaber eines Hutgeschäfts, und seiner Ehefrau Anna geb. Bossard (1831-1898) wurde am 3. April 1858 geboren. Das Ehepaar hatte insgesamt drei Töchter: Anna (1858-1947), Fanny (1860-1936) und Emilie (1862-1932).

 

Anna Fischer-Friedlin, eine tüchtige Geigerin, soll ihren Ehemann Johann Baptist Fischer drei Jahre intensiv gepflegt haben, bevor er am 16. Februar 1891 im Alter von 63 Jahren starb. Es blieb nicht aus, dass sich die 33-jährige Witwe nun auf ihren einzigen 4-jährigen Sohn Edwin konzentrierte. e nätts, blonds Biebli vo 8 Johr mit eme grosse blonde Wuschelkopf und blauen Augen.

 

1893 wurde Edwin eingeschult. Noch am Gymnasium sorgte Mutter Anna ab 1896 für seine Ausbildung an der Musikschule Basel in der Klasse des Pianisten Hans Huber (1852-1921): Die Mutter war es, die mich in das Reich der Musik einführte, indem sie den Vierjährigen auf den Schoß nahm, die Klaviertasten anschlug und mir so die ersten Töne beibrachte. Am 30. Juni 1904 stand für Fischer mit dem Prüfungskonzert der Fortbildungsklassen sein bisher wichtigster Auftritt an. Es galt, sich im Musiksaal der Musikschule mit dem 1. Satz aus Beethovens fünftem Klavierkonzert in Es-Dur op. 73 zu beweisen: In der Probe hatte ich nicht gut gespielt, auch war nicht, wie voriges Jahr, geklopft worden, da ich einen Takt vor dem Schluss übersprungen hatte. Es hieß, ich hätte nett gespielt. Jedenfalls hatte er ein vorzügliches Abgangszeugnis erhalten.

 

 

1904 Stern'sches Konservatorium in der Bernburger Straße

Wie weiter? Diverse Konservatorien wurden verworfen, auch Köln, das wollten Mama und ich nicht, weil kein bedeutender Klavierspieler dort ist. Eigentlich kam für Mutter und Sohn nur Berlin in Betracht. In der Hauptstadt gab es berühmte Klavierlehrer: Königliche akademische Hochschule für Musik (Ferruccio Busoni), Konservatorium Klindworth-Scharwenka (Conrad Ansorge), Eichelberg'sche Konservatorium (Fritz Masbach), Stern’sche Konservatorium (Martin Krause).

 

Der 18-jährige Edwin und/oder seine Mutter Anna entschieden sich für das seit 1850 bestehende Stern’sche Konservatorium in der Bernburger Straße. Sein Lehrer wurde der Pianist und Klavierpädagoge Martin Krause (1853-1918). Bevor es mit dem Studium losging, schickte das Stern’sche Konservatorium seine angehenden Schüler erst einmal in die Provinz. Über den Auftritt im Gesellschaftshaus zu Spremberg notierte Fischer: Das Programm wickelte sich glatt ab, ohne besonderen Beifall. Der Sänger war wütend, dass man nicht raste vor Beifall, als er sein hohes c so schön erklingen ließ. Ich spielte eine Polonaise von Liszt so gut es ging.

 

 

In Berlin begann für Mutter und Sohn erst einmal das äußerst unangenehme und sehr ermüdende Wohnungssuchen. Wir hatten uns bald für Friedenau entschieden und mieteten am Abend des 2. Tages eine Wohnung, die wir allerdings nur in der Dämmerung gesehen haben, aber nur 650 M. kostet (Stubenrauchstraße Nr. 65). Wenn ich jetzt aber durch unsere Wohnung schreite, so muss ich sagen, es gefällt mir sehr. Alles erfreut mich durch künstlerische Einfachheit: die Türen die verzierten Decken, das Treppenhaus. Der Ausblick vom Balkon ist hübsch.

 

Während der Studienzeit am Stern’schen Konservatorium spielte er nebenbei 1905 die Viola in Max Reinhardts legendärem Sommernachtstraum, wo Shakespeares Liebespaare und Zaubergeister im auf der Drehbühne montierten echten Wald wie nie zuvor zur Wirkung kamen. Er war Klavierlehrer am Stern’schen Konservatorium und betätigte sich als Klavierbegleiter für Sängerinnen. Im Herbst 1910 organisierte er seine erste Tournee mit Klavierabenden. In Dresden, Stuttgart. Darmstadt und Köln spielte Edwin Fischer Liszt, Chopin, Beethoven, Mozart und Bach.

 

1907 zogen Mutter und Sohn in die größere Wohnung Blankenbergstraße Nr. 1. Der Unterschied für mich besteht in einem hübschen, neu eingerichteten Arbeitszimmer, und einem viel schöneren Musikzimmer. Das Instrument seiner Basler Jugendjahre hatte ausgedient und wurde gegen einen neuen Flügel eingetauscht. Der Abschied vom Kinderspielzeug, Jugendkamerad, Tröster, Schlachtkumpan fiel schwer.

 

Edwin Fischer an der Sommerakademie Potsdam

Nach einem Konzert schrieb das Berliner Tageblatt am 5. November 1910: In einem Beethovenabend konnte man das ernste Vorwärtsstreben des jungen Edwin Fischer feststellen. Er steht jetzt in der Übergangszeit, wo man nicht mehr seine früh und trefflich entwickelte technische Begabung bewundert, und er andererseits die Überlegenheit des reifen Künstlers noch nicht erreicht haben kann. Da will es denn schon etwas bedeuten, dass man ihn auf dem richtigen Wege zum Ziele und alles nur Virtuosenhafte außer acht gelassen sieht. Wenn er mit der letzten C-moll-Sonate (soweit ich sie hören konnte) besser fertig wird als mit dem anmutigen Fragespiel des Finalsatzes und dem eigentümlich-behaglichen Ton des Scherzos der D-Dur-Sonate op. 10, so ist das nicht weiter verwunderlich. Der Geschmack für das Intime bildet sich eben am spätesten.

 

 

 

Zum 1. April 1914 erfolgte der dritte Umzug von Mutter und Sohn in eine geräumige Wohnung mit etwas freiem Blick und Gastzimmer auf dem Südwestcorso Nr. 60A. Edwin Fischer übernahm die Leitung der Sommerkurse am Deutschen Musikinstitut für Ausländer in Potsdam. In Europa verbreitete sich sein Ruf als Musikerzieher. Sein Schüler Alfred Brendel, der es nun wirklich wissen muss, schreibt Jahrzehnte später: Dass Edwin Fischer einer der größten Pianisten des früheren 20. Jahrhunderts war, ist jungen Klavierspielern kaum mehr bewusst. Es stimmt, dass sich seit damals manche musikalischen Vorstellungen verändert haben. Umso notwendiger wäre es, Vergleiche anzustellen und seine Vorbilder nicht nur in der Gegenwart zu suchen. Die Erinnerung an Fischers Kurse, an seinen Klang, sein Cantabile-Spiel, seine inspirierte Einfachheit, hat mich ein Leben lang begleitet.

 

Da dem gebürtigen Schweizer während des Ersten Weltkriegs die Uniform erspart blieb, konnte er in diesen Jahren als Pianist konzertieren, darunter am 8. März 1918 mit dem Philharmonischen Orchester unter Wilhelm Furtwängler (1886-1954) das 5. Klavierkonzert von Beethoven.  Schon gab es eine Autogrammkarte: Der Künstler im dunklen Anzug mit Hemd, Krawatte und verschränkten Armen vor der Brust – links unten eingedruckt Edwin Fischer.

 

Villa Mendelssohn im Grunewald

Anlässlich verschiedener Gesellschaften hatte er sich vor einiger Zeit noch gefragt, ob man in Gesellschaften spielen soll, ohne rundweg zu erklären, ich spiele nie in Gesellschaften, ist es doch sehr zu empfehlen, möglichst wenig im ‚Salon‘ zu spielen. Im kleinen Kreise wirkt das Spiel stets anders und die Behandlung der Gastgeber ist meist wenig nett. ‚Spielen Sie schnell ein kurzes Stück‘ war jüngst die ‚Bitte‘ einer Dame. Man ist der Sklave der Gönner.

 

Nun konzertierte Fischer privat auch in der Mendelssohn‘schen Villa. Im Januar 1916 lernte er Robert von Mendelssohn (1857-1917), dessen Ehefrau, die Pianistin Giulietta geb. Gordigiani (1871-1955), ihre Kinder Eleonora (1900-1951) und Francesco (1901-1972) sowie Cousine Lilli von Mendelssohn kennen, die sich leidenschaftlich der Musik widmeten. In die Grunewald-Villa war die Prominenz aus Politik, Wissenschaft und Kultur regelmäßig geladen.

 

Thomas Blubacher, Gibt es etwas Schöneres als Sehnsucht, 2008

Exkurs

Gibt es etwas Schöneres als Sehnsucht?

Die Geschwister Eleonora und Francesco von Mendelssohn

 

Die Beziehung von Edwin Fischer zur Familie von Mendelssohn – insbesondere zu Eleonora und Francesco – hat Thomas Blubacher in seinem 2008 im Henschel Verlag Berlin erschienenen Buch Gibt es etwas Schöneres als Sehnsucht? ausführlich beleuchtet. Edwin Fischer nimmt darin eine nicht unbedeutende Rolle ein. Die umfangreichen Anmerkungen machen verständlich, dass der Autor damit fast neun Jahre beschäftigt war. Was er aus den verschiedensten Quellen aufspürte und minutiös mit Zitaten belegte, verdient Respekt, weil er erstmals ein bisher weitgehend unbekanntes Kapitel im Leben des Pianisten aufdeckt. Von diesen Recherchen konnten auch wir dankenswerter Weise profitieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Julia Zalkow, Edwin Fischer, Eine Biographie

Exkurs

Edwin Fischer 1886 – 1960

Pianist, Dirigent, Musikpädagoge

Eine Biographie

Böhlau Verlag, 2020

 

Die Biographie von Julia Zalkow konnte man erwarten – ebenso ihren ganz anderen Ansatz, mit dem der Pianist, Dirigent und Musikpädagoge Edwin Fischer ins rechte Licht gesetzt wurde. Die Musikwissenschaftlerin nennt ihr Werk eine wissenschaftliche Künstlerbiographie. Das klang erst einmal eher abschreckend, erwies sich allerdings als eine überaus faszinierende Lektüre. Das Buch ist in die Kapitel Eine Basler Kindheit (1886-1904), Stationen einer Künstlerkarriere in Berlin (1904-1943) und Zurück in der Schweiz (1943-1960) gegliedert. Es beleuchtet die bisher weißen Flecken des Musikers. Julia Zalkow hat für diese bewundernswerte Arbeit sechs Jahre gebraucht. Was sie in Nachlass und Tagebuch gefunden hat, fand sich in der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern (ZHBLU) sowie in der Musik-Akademie Basel. Obwohl Fischer vier Jahrzehnte in Berlin wirkte, hat es die Universität der Künste Berlin als Nachlassverwalterin bisher versäumt, ihn zu würdigen. Der Hinweis, dass die Archivbestände durch den Krieg stark dezimiert wurden, kann nur mit dem Berliner Trott erklärt werden. Immerhin gelang es der Autorin nun, ein zeitgeschichtliches Porträt vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in die NS-Zeit zu erstellen. Was über die Berliner Stationen der Künstlerkarriere zwischen 1904 und 1943 in Basel und Luzern gefunden wurde, vom Unterricht bei Martin Krause (1904-1907) bis zum Protegé des NS-Regimes (1933-1943), hätte von der UdK geleistet werden müssen. Über das von Julia Zalkow entdeckte Material, belegt mit vielen Zitaten, war es möglich, auch die Friedenauer Zeit von Edwin Fischer zu dokumentieren. Wir bedanken uns.

Francesco, Giulietta, Angelica, Robert & Eleonora von Mendelssohn

Nach dem Tod Robert von Mendelssohns am 20. August 1917 überließ Witwe Giulietta ihren beiden Kindern die Villa im Grunewald. Eleonora und Francesco sollen, so wird kolportiert, das Haus zur Party-Location für Tout Berlin gemacht haben. Edwin Fischer hatte bislang über das gemeinsame Musizieren Kontakt zu Lilli (Violine) und Francesco (Cello). Er wurde zum engsten Vertrauten des 16-Jährigen, der das Cellospiel zu seinem Beruf machen möchte – und sich zunehmend seiner Homosexualität bewusst wurde. Der schwärmerischen Zuneigung von Francesco begegnete er mit einer gewissen Distanz: Sie leben so in der Musik, dass es gar keinen Sinn hätte, sich von ihr abzuwenden. Sie haben Rhythmus, Gefühl, Ton. Lernen Sie vor allem rein spielen, da hapert’s manchmal noch, und geben Sie Ihrer Weichheit nicht nach, biegen Sie nicht, sondern stehen Sie fest, und Ihre Kunst wird Ihnen viel Freude und Freunde machen.

 

 

 

 

 

 

Das von Francesco angetragene Du lehnt er ab, zu vertraulich, doch in den folgenden Monaten entsteht eine immer engere Freundschaft: Nun liege ich wieder mit Grippe und gedenke täglich Ihrer, sehe Sie wieder mit Rosen im Arm hereinkommen, höre Sie selbst noch husten - fühle ihre liebe Hand und lese in Ihren warmen treuen Augen. Francesco lassen Sie sich, lass Dir heute noch einmal von Herzen Dank sagen für alles Gute, das Du tatest. Und eines: fragen Sie, wenn Sie im Zweifel sind, immer Ihr Herz. Sie haben dies köstliche Geschenk mitbekommen, das all Ihren Taten Wert verleihen kann. Man wird Sie bewundern, viel umschmeicheln, hören Sie auf ihr Herz. Stets gehen meine Freundesgedanken Ihre Wege mit, möchten Ihnen helfen, über wirre Schatten hinwegzukommen und uns in Ihnen das glückliche Bild eines schauen zu lassen - den die Götter lieben und segnen.

 

Eleonora von Mendelssohn. ZHBLU

Nun kam das verehrte Fräulein Eleonora dazu. Etwas leichtfertig schrieb Fischer der jungen Dame, dass ich Sie nur nicht allein, einsam wissen möchte. Am 2. Dezember 1918 trifft sie sich mit ihm. In sein Tagebuch schreibt er: Sie erklärt mir, unsere Freundschaft müsse aus sein. Ich wehre mich und fühle, dass ich viel mehr empfinde, als ich bis jetzt wusste. Ich gehe, sie zittert - fasst nochmals meine Hand. Meine Stimme ist heiser. Auf der Straße stürzt sie mir nach, steckt mir etwas zu und flüstert: von Papa. Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Beim Nachhausegehen fühle ich, dass das Geschenk Eleonoras die goldene Uhr ihres Vaters sei. Schrecken. Ich rufe Francesco an, er soll auf Eleonora Achtung geben.

 

Wenig später bittet Francesco von Mendelssohn Edwin Fischer in die Mendelssohn-Remise Jägerstraße Nr. 51 und eröffnet ihm, dass Eleonora im Begriff sei, ihrem Leben ein Ende zu setzen, einen Abschiedsbrief habe sie schon geschrieben, nun halte sie die geladene Waffe in der Hand, und nur er könne den Suizid verhindern: Eleonora sitzt, nur von einem schwarzsamtenen Mantelüberwurf bekleidet, mit gelösten Haaren am Schreibtisch. Springt auf und will fort. Ich fasse sie und sehe in ein Antlitz tiefsten Jammers. Weite starre Augen, verweinte Lider, totenblass. Ich fange an, ihr klar zu machen, dass ich nie mehr glücklich sein könnte, wenn sie sich ein Leides täte, dass meine Kunst zu Grunde ginge, dass ich so viel für sie empfände. Nach einer Stunde löst sich der Krampf, sie weint, beruhigter wird ihr Gemüt, sie verspricht mir, standhaft zu sein, und um 3 Uhr gehe ich fort, nachdem sie mir den Revolver und die Patronen ausgehändigt hat. Während es für Francesco so nicht weitergehen kann, fragte Fischer, ob es besser sei, sich nicht mehr zu sehen. Dazu sei es zu spät, es gebe nur eines: Heirat. Edwin Fischer ist hin- und hergerissen. Er mag Eleonora, aber er begehrt sie nicht. Tage später schildert er Eleonora sein Leben, beschreibt seinen Charakter, erwähnt sein Freiheitsbedürfnis und seine schlechten Seiten, das Los eines Künstlers – und fragt doch leichtfertig: Wollen wir es zusammen versuchen? Eleonora nickt.

 

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Adolf von Hildebrandt, Giulietta von Mendelssohn vor 1908. Neue Pinakothek München

Mitte April 1919 sucht Edwin Fischer Giulietta von Mendelssohn auf. Er bittet sie förmlich um die Hand ihrer Tochter. Die Verlobungszeit ist, wie er es später in einem Brief vom 31. August 1924 an Giulietta formuliert, kritisch. Im Tagebuch nennt er sie schrecklich, grässlich. Edwin Fischers Mutter Anna weint indes ohne Unterlass, demonstriert damit ihr Nein zur Verlobung. Aus Eifersucht kränkt sie fortwährend ihre zukünftige Schwiegertochter. Eleonora will den Verlobten schließlich freigeben. Man arrangiert sich wieder.

 

Am 10. Juli 1919 gab es Standesamt und Kirche. Mutter Giulietta spielte das Vorspiel zur Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. Pfarrer Siegmund Schulze spendete den Segen und Mutter Anna wirkte ruhig und gefaßt. Die Frischvermählten verabschieden sich und reisen mit der Bahn in Fischers Geburtsstadt Basel. Es folgen Flitterwochen am Thunersee, Aufstieg zum Gemmipass, Abstieg nach Leukerbad, Rhônetal, Belalp, Aletschgletscher, Bettmeralp. Am 19. August 1919 treffen sie Anna Fischer in Basel. Meine Traurigkeit setzte wieder ein. Spannung. Tränen, notiert ihr Sohn. Die Tage zu dritt sind ein Fiasko. Die Bahnreise zurück nach Berlin ist durch Mama’s Benehmen eine Qual, Tränen über Tränen.

 

Im September 1919 ziehen Eleonora und Edwin Fischer in eine Wohnung im vierten Stock des 16 Parteien beherbergenden Mietshauses Kaiserallee Nr. 192. Nach Thomas Blubacher ist die mit erlesenen Antiquitäten und Gemälden aus Mendelssohnschem Familienbesitz möblierte Wohnung äußert geräumig. Neben mehreren Schlaf- und Badezimmern, der Küche und Räumen für das Personal bilden einige miteinander verbundene Wohnräume eine Flucht von stattlichem Ausmaß: Auf das große Esszimmer folgt ein Salon mit einem Flügel, an den sich ein weiterer Salon mit einem zweiten Flügel anschließt, darauf die Bibliothek, bis unter die Decke gefüllt mit kostbaren Büchern, im Frühstückszimmer befindet sich ein Pianino. Für den Haushalt sorgen Eleonoras einstiges Kindermädchen Anni Trautmann und Köchin Lina Gerlieb. Mutter Anna Fischer-Friedlin blieb am Südwestkorso wohnen.

 

Fischer genießt es, von Eleonora in den Berliner Salons herumgereicht zu werden. Begabung und Fleiß allein, so Fischer später, hätten ihn nicht zum Erfolg geführt. Und so kam es auch: Am 29. Dezember 1922 dirigierte Emil Bohnke, Schwiegersohn von Franz von Mendelssohn (1865-1935), das Philharmonische Orchester unter Mitwirkung von Edwin Fischer: Lustspiel-Ouvertüre und Konzert für Klavier und Orchester von Max Reger sowie die V. Symphonie von Ludwig van Beethoven. 1926 wurde Edwin Fischer als erster Pianist gebeten, das gesamte Wohltemperierte Klavier von Bach für den mechanischen Musikautomat von Welte-Mignon einzuspielen, mit dem eine weitgehend authentische Wiedergabe von Klavierstücken möglich wurde. Erst danach folgen Ferruccio Busoni, Artur Schnabel, Walter Gieseking und Vladimir Horowitz mit weiteren Einspielungen.

 

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Edwin Fischer und Eleonora von Mendelssohn, 1919. ZHBLU

Fischers Aufstieg verdeckt nicht, dass seine Ehe problematisch bleibt. Hier die impulsive, abwechselnd zu Melancholie und Hysterie neigende Eleonora, dort der sensible Pianist, und über allem seine Mutter, von der er sich nicht wirklich emanzipieren kann. Immer wieder kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Eleonora und Schwiegermutter. Fischer erkennt, dass hässliches Benehmen und Eifersucht seiner Mutter das Verhältnis trüben. Der Riss zwischen Mama und ihr ist größer als je, und das tut oft weh. Da ich beide liebe, und an Mama Fehler, große Fehler zu sehen, ist mir so schmerzlich. Im Rückblick an seine ersten Ehejahre schreibt er später: Eleonora hatte es anfangs nicht leicht, mich unerfahrenen, langsamen Mann, mehr Kind, neben sich zu haben, ich merkte das nicht, weil sie vieles verbarg. Eleonora ist direkter: I thought being married just meant playing duets – was wohl nach Ansicht von Thomas Blubacher auch bedeuten könnte, dass Fischer gelebte Sexualität unangenehm ist, vielleicht sogar unheimlich, auf alle Fälle nichts, was er begehrt, sondern allenfalls eine Pflicht, um deren Erfüllung er sich möglichst drückt.

 

 

Wieder erreicht Mutter Anna ihr Ziel. Ein Jahr nach der Hochzeit machen die Eheleute getrennte Ferien. Eleonora reist mit ihrem Bruder Francesco nach Italien. Edwin wandert mit Mutter in der Schweiz. Danach begleitet ihn Eleonora wieder auf seinen Gastspielreisen. Fischer aber bemerkt die Unruhe seiner Frau. In der ehelichen Wohnung spielt sie, wenn er für seine Konzerte auf dem einen Flügel übt, auf dem anderen Flügel den Orchesterpart. Er spürt ihr Unausgefülltsein und ist doch erstaunt, als sie ihm am 20. März 1921 mitteilt, sie wolle Schauspielerin werden und in Walter Hasenclevers Drama Der Sohn die Rolle des Fräuleins übernehmenl. Ich versuche ihr das auszureden, ihre Mutter Giulietta von Mendelssohn ebenso. Auch Schwiegermutter Anna mischt sich ein und schlägt vor, sie solle statt des Fräuleins doch lieber die Rolle der Dirne spielen. Es folgt ein fürchterlicher Krach.

 

Silvester 1922 konstatiert er: Eleonora ist unglücklich und ihr Nervenzustand sehr bedenklich. Ihre ständigen Krankheiten geben den Ärzten Rätsel auf. Fischer erkennt, dass alle seine Bemühungen, die beiden Frauen zu versöhnen, aussichtslos sind und sein werden. Traurig. Fester Entschluß, meinen Weg zu gehen und mich nicht durch diese ewige Streiterei unterkriegen zu lassen.

 

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Eleonora von Mendelssohn um 1920

Am 10. März 1924 reist Eleonora nach Wien – im Kopf die Ankündigung von Max Reinhardt, so wird die junge Eleonora Fischer, ein Patenkind der Duse, mütterlicherseits italienischer Abkunft, eine unvergleichliche Julia sein – im Gepäck vorerst ein Vertrag für die Rolle der Edine in Hofmannsthals Der Schwierige. Ehemann Edwin Fischer stellt resigniert fest: Nun ist sie ganz drin im Theater. Zur Premiere am 16. April 1924 fällt sie einigen Rezensenten positiv auf: Den vornehmen Gesellschaftston wusste Frau Fischer ohne Übertreibung zur Wirklichkeit zu erheben. Am 26. Mai 1924 steht die Anfängerin wieder unter Reinhardts Regie als Jessica in Shakespeares Kaufmann von Venedig auf der Bühne des Theaters an der Josefstadt. Die Kritiken sind vernichtend. Die Neue Freie Presse konstatiert: Ihr Sprechen wirkt ebenso wie ihr Stil hie und da noch dilettantisch. Kritiker Alfred Polgar: Nicht zu können scheint sie eine ganze Menge, was sie kann, verhüllte Befangenheit des ersten Auftretens. Im Sonntagsblatt heißt es: Die Jessica der Frau Fischer war schön und sonst nichts. Die Tageszeitung Die Stunde kolportiert, dass das Fräulein Fischer, das im Verzeichnis der Schauspieler bei Reinhardt noch nicht vorkommt, frisch vom Bankhaus Mendelssohn weg, in die heilige Schar aufgenommen ward.

 

Überstürzt verlässt Eleonora Wien und flieht nach Berlin, wo sie nur noch gehetzt herum rast. Das Theater befriedigte sie nur sehr kurz, da das Unangenehme überwog. Vom Salon vergöttert, kam sie in eine Wolke von falschem Parfüm und Theaterglanz. Eleonora denkt an Max Reinhardt, die unerfüllte Liebe ihres Lebens seit den Teenagerjahren, telefoniert dreimal täglich mit Imre von Jeszenszky (1893-1981), der erste Mann, der ihre Liebe erwidert.

 

 

 

 

Am 25. August 1924 teilt Eleonora ihrem Ehemann mit, dass sie sich von ihm trennen wird. Fischer informiert Schwiegermutter Giulietta in Italien: Ich kämpfte, umsonst, fand ihren Nervenzustand katastrophal. Sie will ihr eigenes Leben führen, eventuell wieder Theater spielen, sich von mir trennen, betont aber immer wieder, dass sie mich liebt. Ich habe alles versucht. Alles prallt wie an Stein ab. Ich unternehme den definitiven Schritt zur Scheidung, wenn ich mir klar bin, wieviel Ernst, Berechtigung in ihren Wünschen und Plänen liegt, wieviel kranke Nerven und Gewohnheit ist, alles zu erreichen. Meine Drohung, ganz mit ihr zu brechen, wirft sie in die größte Verzweiflung, aber ihren Plan gibt sie nicht auf.

 

Am 20. September 1924 zieht Eleonora aus der Wohnung in der Kaiserallee aus und wieder in die Villa im Grunewald ein. Im Januar 1925 treffen sich die beiden im Sanatorium in Meran, wo Fischer der krank im Bett liegenden Eleonora zuhört. Ihr Wunsch, befreundet zu bleiben, scheint ihm unerfüllbar: Doch es muss ein Schnitt gemacht werden. Am 1. Dezember 1925 sind sie geschieden.

 

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1927 heiratet Eleonora von Mendelssohn den Freiherrn Imre von Jeszenszky, die zweite Ehe, und erwirbt mit ihm Gut Kammer am Attersee. Im Herbst 1935 gehen Eleonora und Francesco ins Exil in die USA. 1938 heiratet sie den Schauspieler Rudolf Forster (1884-1968), die dritte Ehe, und schließlich 1947 den Schauspieler Martin Kosleck (1904-1994), die vierte Ehe. Am 24. Januar 1951 wird Eleonora tot in ihrer Wohnung in New York City aufgefunden. Mutter Giulietta von Mendelsohn stirbt 1955 in Florenz, Francesco am 22. September 1972 in New York City.

 

Johannisberger Straße 27A. Foto Hahn & Stich, 2021

1926 übernahm Edwin Fischer für ein kurzes Interregnum die Leitung des Vereins der Musikfreunde Lübeck, dem 1928 ein Engagement am Münchner Bach-Verein folgte. 1931 wurde Fischer Professor an der Akademischen Hochschule für Musik Berlin – Nachfolger für den Pianisten Artur Schnabel (1882-1951), der wegen des antisemitischen Klimas an der Hochschule seinen Vertrag nicht verlängert hatte: Ich zog es vor zu gehen.

 

Sechs Jahre nach seiner Scheidung von Eleonora von Mendelssohn wohnte Edwin Fischer 1932 noch immer in der Kaiserallee Nr. 192 – für 6000 RM Miete und mit Köchin Lina Gerlieb. Nun aber will er sich räumlich verändern. Man muss sich vereinfachen, entlasten, aber als Musiker braucht man Raum für Claviere für Klang. Der Gedanke vom eigenen Haus ließ ihn nicht mehr los. Kurz hinter der Gemarkungsgrenze von Friedenau war auf Wilmersdorfer Terrain 1930 in der Johannisberger Straße das Doppelhaus Nr. 27 und Nr. 27A entstanden. Eigentümer von Nr. 27A war Dipl. Ing. Adalbert von Weltzien (1876-1955).

 

 

 

Es zeichnete sich wohl ab, dass das rund fünf Ar große Grundstück Nr. 27A über kurz oder lang zu erwerben war. 1933 zog Edwin Fischer als Mieter ein. 1936 war er Eigentümer der zweigeschossigen Doppelhaushälfte mit Keller- und Dachgeschoss, das zumindest bis 1943 an den Schneider bzw. späteren Kraftwagenführer F. Jahn vermietet war: Hauskauf. Johannisberger Straße 27A für 58.500 RM, mit Steuern, Gebühren 62.000. Große Freude am Garten, Einrichten. Mit dem gemeinsamen Haushalt von Mutter und Sohn dürfte es damit wohl zu Ende gewesen sein. Anna Fischer-Friedlin ist nun im Adressbuch in der Wilmersdorfer Hildegardstraße Nr. 1 eingetragen.

 

1938 berichtete Harry Erwin Weinschenk in Künstler plaudern (Wilhelm Limpert-Verlag Berlin) von seinen Eindrücken, die er während eines Interviews von Fischers Heim gewonnen hat: Entrückt vom Lärm des Weltstadtgetriebes wohnt Edwin Fischer, in einer hübschen Villa, an die ein kleiner Garten grenzt. Wenn der Lenz die zarten Knospen sprengt, der Sommer die üppige Pracht der Blüten entfaltet, der Herbst noch einmal den bunten, blühenden Flor entflammt und letzte trunkene Düfte ins Musikzimmer schweben - immer liegt dieses schmucke Plätzchen gepflegt da, so als ob geübte Hände am Werk wären. Aber kein Gärtner ist es, der hier Blumen, Sträucher und Steinbeete hegte - der Künstler selbst bemüht sich in seinen Mußestunden um diese zarte Schönheit und offenbart auf diese Weise seine Neigung für die Natur.

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In der wissenschaftlichen Künstlerbiographie Edwin Fischer gibt es das Kapitel Protegé des NS-Regimes, in dem die Autorin u. a. schreibt: Seine Rolle im ‚Dritten Reich‘ ist weitgehend diffus geblieben. Sicherlich gehörte Fischer vor allem auch nach der Abwanderung verfolgter Musiker zu den gefragten Künstlern. Er nutzte die Vorteile. Mit seinem Kammerorchester Edwin Fischer, wo er vom Flügel aus die Musik des 18. Jahrhunderts dirigierte, und dem Kammermusiktrio Edwin Fischer (Klavier), Georg Kulenkampff (Violine) und Enrico Mainardi (Violoncello) gab er viele Konzerte. 1937 spielte er den Solopart in der Uraufführung von Wilhelm Furtwänglers (1886-1954) Konzert für Klavier und Orchester mit den Berliner Philharmonikern – im Januar 1939 erfolgte die Schallplattenaufnahme. Aber anders als die Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf (1915-2006), die am 15. April 1938 am Deutschen Opernhaus in Charlottenburg debütierte und am 1. März 1940 unter der Nummer 7.548.960 Mitglied der NSDAP wurde, hat sich Fischer dem Regime als Künstler zur Verfügung gestellt, ohne sich jedoch weit aus dem Fenster zu lehnen.

 

Sein Landsmann, der Schweizer Violinist Adolf Busch (1891-1952), urteilte im Juli 1945: Er hatte seinen Nützlichkeitsstandpunkt und wird ihn immer haben. Er ist so lange in Deutschland geblieben, als er es für nützlich hielt. Er hat nicht daran gedacht, dass er in die Karrieren von unschuldigen Kollegen sich hereinstahl, nur weil er kein Jude war. Er verließ Deutschland keine Sekunde eher als er sicher war, dass es klüger war, Deutschland zu verlassen.

 

 

Es kamen der Zweite Weltkrieg und die Flugzeuge der Alliierten über Berlin. Im März 1943 schrieb er in sein Tagebuch: Alarm. Die Flieger zogen über den Himmel. Sorge Sturm-Angriff auf Berlin Johannisberger Straße. Kurz danach fiel eine Sprengbombe in den gegenüberliegenden Garten und beschädigte das Obergeschoss seines Hauses schwer: Es ist ein Schrecken, als ich unsere Straße sehe, die Kirche ausgebrannt, die geschwärzten Ruinen der Häuser.

 

Noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs sorgte Erwin Fischer für ein Domizil in der Schweiz. In der Zürcher Stockerstraße existierte ein Zweitwohnsitz und in Hertenstein am Vierwaldstättersee erwarb er im April 1939 ein rund 2.700 Quadratmeter großes Grundstück. Im Frühjahr 1941 wurde dort mit dem Bau des eingeschossigen Hauses begonnen. Am 9. Januar 1942 war es errichtet: Ich taufe das Häuschen ‚Zum Friedly‘ nach meinem Großvater mütterlicherseits. Möge es seinem Name Ehre machen im Sinne des Friedens und gesegnet sein, menschlich und künstlerisch Gutes zu bewirken. Im Mai 1943 begann er mit der Einrichtung: Clavier gekauft, Teppiche, Freude am Häuschen. Danach reiste er wieder nach Deutschland, um mit dem Edwin-Fischer-Trio und dem Kammerorchester Edwin Fischer im Juni 1943 Konzerte bei den Potsdamer Musiktagen zu absolvieren. 30. August 1943: Schwierige Reise nach Feldkirch. Grenze. Ich verlasse Deutschland. Spät. Es war zuletzt alles zuviel, die Angst. Endlich in der Schweiz. Endgültig im ‚Friedly‘ – im Gefolge Mutter Anna Fischer-Friedlin und Köchin Lina Gerlieb. Das Mobiliar aus dem Haus Johannisberger Straße Nr. 27A wurde nach dem Bombenangriff in Göttingen eingelagert und 1946 in die Schweiz gebracht.

 

1942 war das Konservatorium Luzern gegründet worden. Dort gab Edwin Fischer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Meisterkurse. Der Pianist Paul Badura-Skoda (1927-2019), der einige dieser Meisterkurse besuchte, schreibt in seinem Buch Edwin Fischer – Meisterkurs in Luzern 1954: Beim Wiederlesen meiner vor mehr als 50 Jahren geschriebenen Notizen stelle ich mit Freude fest, daß Fischers Anregungen zur Interpretation der Werke unserer Meister nichts an Aktualität eingebüßt haben.

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Elisabeth Schwarzkopf und Edwin Fischer in Hertenstein. Schwarzkopf-Legge-Archiv

Die erzwungene Ehe mit Eleonora von Mendelssohn war für Edwin Fischer genug. Er blieb ledig und ohne Nachkommen. Als Eleonora nach dem Ende des Dritten Reichs den Kontakt aufnahm, schreibt er ihr am 27. Januar 1946: Es läßt sich sicher vieles sagen, und in manchen Augen wird es als unrecht angesehen, dass ich so lange in Deutschland blieb - allein darüber muss man einmal in Ruhe reden oder schreiben. Aber selbst, wenn es eine Schuld wäre, wer ist frei von Schuld?? Und ist es nicht besser, Menschen zu weiterem gutem Wirken zu bringen, als sie zu verdammen? 1954 entstanden bei EMI in London die letzten Schallplattenaufnahmen von Edwin Fischer: Elisabeth Schwarzkopf singt Lieder von Schubert, Schumann und Richard Strauss.

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Mutter Anna Fischer-Friedlin starb am 27. Februar 1947: Es ist bös, wenn mit 62 Jahren, in der Jugend nicht befriedigte Leidenschaften aufsteigen, Unruhe schaffen. Ein ungeheuer trauriges Gefühl des Versäumthabens überfällt Dich. Seit dem Tode meiner Mutter ist dieses Sehnen nach Leben verdreifacht, der Tod, das Leben. Und nun ist da Leben, und jenes verrückt-schöne, schmerzliche Gefühl der Liebe; oft empfunden nie so gefühlt. Stärker als der Verstand. Bringt Unordnung in alles.

 

Edwin Fischer starb am 24. Januar 1960 in einem Züricher Krankenhaus. Sein Nachlass ging an die Zentral- und Hochschulbibliothek der Universität Luzern. In das Haus mit Blick auf den Vierwaldstättersee und die Rigi zogen neue Bewohner ein.

 

 

 

Edwin Fischer spielt Bach-Busoni

 

 

Edwin Fischer spielt Bach-Busoni

 

 

Edwin Fischer, Meisterklasse in Luzern

 

Blankenbergstraße Nr. 1

Detlev Meyer (1948-1999)

 

Die Veröffentlichung seiner 50 Gedichte Heute Nacht im Dschungel 1981 im Berliner Oberbaumverlag war für uns Anlass, den Schriftsteller Detlev Meyer zu einer Lesung im Rahmen des Projekts Sternzeichen – Homosexualität und Theater in das Theater am Turm in Frankfurt am Main einzuladen. Mit seiner Performance Vier Nächte Status am 27. Dezember 1982 behauptete er sich souverän neben den Darbietungen der populären Szenekünstler Georgette Dee, Mathilde Santing, Familie Schmidt, Arnie Reinhardt, Corny Littmann, Dieter Heitkamp, Helge Musial, Guido Bachmann und Christoph Eichhorn – mit seiner Lyrik.

Detlev Meyer, geboren am 12. Februar 1948 in Berlin, gehört zu jenen Friedenauer Autoren, die in den Auflistungen der Friedenauer Berühmtheiten erst einmal gar nicht erwähnt werden. Er war bis zu seinem frühen Tod am 30. Oktober 1999 immer unter der Adresse Blankenbergstraße Nr. 1 zu erreichen. Er war einer, der sich im Leben wie im Werk offen zu seiner Homosexualität bekannte, vor allem aber war er ein Dichter, für DIE ZEIT sogar einziger Dandy der deutschen Gegenwartsliteratur. Meyers Thema war das Leben in und mit der Szene – betörend, witzig, erotisch, traurig, alltäglich. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Stubenrauchstraße (Grablage 20/21). Und noch immer, so scheint es, stellt er seine Fragen: Wäre es eigentlich schade um uns? Wäre es eigentlich ein Verlust für die Menschheit, wenn es uns alle dahinraffte? Was fehlte der Welt, wenn es uns eines Tages nicht mehr gäbe?

 

 

Georg Lebrecht, Bomben über Engeland. GDK 1941

Blankenbergstraße Nr. 9

Georg Lebrecht (1875-1945)

 

In der Blankenbergstraße Nr. 9 lebte auch einmal der Maler und Illustrator Georg Lebrecht (1875-1945). Der Mann war stets mit der Zeit, Frontsoldat, Freikorps, NSDAP. Kaum hatten die Nazis 1933 die Macht übernommen, erschien im Berliner Traditions-Verlag Kolk Die Uniformen und Abzeichen der SA, SS und des Stahlhelm, Brigade Ehrhardt (Freikorps), Hitler-Jugend, Amtswalter (Amtsträger der NSDAP), Abgeordnete, NSBO (Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation) und NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps) – insgesamt 20 Tafeln in Mehrfarbendruck nach Originalen der Kunstmaler Georg Lebrecht und Günther Vogler mit 24 Seiten begleitendem Text. Vier Jahre später verkündete Hitler am 18. Juli 1937 zur Eröffnung der Großen Deutschen Kunstausstellung in München einen unerbittlichen Säuberungskrieg gegen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung. Nun aber werden – das will ich Ihnen hier versichern – alle die sich gegenseitig unterstützenden und damit haltenden Cliquen von Schwätzern, Dilettanten und Kunstbetrügern ausgehoben und beseitigt. Einen Tag später wurden diese Cliquen in den Hofgartenarkaden mit ihrer Kunst präsentiert. Der vom Regime geförderten Deutschen Kunst wurde die Entartete Kunst gegenübergestellt.

 

Achtmal gab es die Große Deutsche Kunstausstellung, achtmal zwischen 1937 und 1944 war Georg Lebrecht mit Ölgemälden dabei – 1937 mit den Bildern Komitadschi, Hinter den Hunden, Grüne Husaren, Straßenbau, Reiterleskapelle und Kameraden. 1938: Ums Morgenrot, Das rote Feld. 1939: Der Hochblauen im Schwarzwald, Am Belchen im Schwarzwald, Nach Ostland woll’n wir reiten. 1940: Vom Schwarzwald zu den Vogesen, In der Tucheler Heide, Übergang über die Weichse“. 1941: Pferdetränke in der Pußta, Übergang über den Oberrhein, Bomben über Engeland. 1942: Eingekesselt, Märzenritt. 1943: Reiter nach vorn. 1944: Herbstallee.

 

 

Die Partei und ihre getreuen Helfershelfer sorgten für ihre Künstler. An vorderster Front der parteilose Staatsbeamte Otto Meissner, erst Staatssekretär des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, dann des monarchistischen Paul von Hindenburg und schließlich im nahtlosen Übergang Chef der Präsidialkanzlei des nationalsozialistischen Führers Adolf Hitler. Er kaufte 1938 das Gemälde Ums Morgenrot für 5.000 RM. Hitler folgte mit dem Ankauf von Nach Ostland woll’n wir reiten. 1940 kamen In der Tucheler Heide für 5.000 RM und 1941 Übergang über den Oberrhein für 8.000 RM hinzu. Da aber war Georg Lebrecht zum Jahrestag der nationalen Erhebung am 30. Januar 1938 vom Führer höchstpersönlich zum Professor und zum Leiter der Abteilung Malerei, Graphik und Bildhauerei an der Reichskammer der Bildenden Künste ernannt worden.

 

Während Lebrecht sich einst um Landschaft, Jagd und Pferde bemühte, konzentrierte er sich nach den Überfällen auf Polen und die Sowjetunion verstärkt auf Darstellungen des Krieges. Anfangs der Krieg als ganz gewöhnliches Männerabenteuer, später läßt er Soldat und Mensch einfach weg. Auf dem Gemälde Bomben über Engeland sind es nur noch die Stukas, die aus einem impressionistisch angehauchten Himmel auf die ebenso impressionistisch gemalten Ruinen von Londons stürzen. Lieblicher lässt sich The Blitz, die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf London zwischen dem 7. September 1940 und dem 16. Mai 1941, bei dem 43.000 Menschen den Tod fanden und über eine Million Häuser beschädigt und zerstört wurden, kaum darstellen.

 

Nachdem Lebrecht durch seine Bildverkäufe an nationalsozialistische Amtsträger und Museen einiges an Kapital zusammen hatte, tauschte er die Friedenauer Mietwohnung gegen ein Landhaus in Zehlendorf aus. Panik muss ihn dort überfallen haben, als er hörte, dass die Rote Armee den Teltowkanal überquert und die vom Volkssturm besetzten Stellungen überrannt hatte. Im April 1945 begangen Georg Lebrecht und seine Frau Suizide.

 

Lutz Mackensen, Neues Deutsches Wörterbuch

Blankenbergstraße Nr. 9

Lutz Mackensen (1901-1992)

 

Den Mackensen hatten wir auch mal im Regel stehen, genauer sein Neues Deutsches Wörterbuch. Gebraucht haben wir es kaum, und so konnten wir auch nicht über gewisse Formulierungen von Lutz Mackensen stolpern, mit denen sich der Germanist Helmut Henne beschäftigte. Schlag nach bei Mackensen! Er führt dich, wohin du nicht willst ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Haltung von Mackensen in der Zeit des Nationalsozialismus und mit seinem von 1952 bis 2006 in 13 Auflagen verlegt wird – unreformiert, undeformiert, wie die Bauchbinde ausweist.

 

Wer ist dieser Lutz Mackensen (1901-1992) – der (angebliche) Konrad Duden der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, der den deutschen Sprachschatz, also den Wortschatz seiner Zeit, (mit)verwaltet und Sprachzucht ausübt, indem er eine alphabetische und grammatisch-semantische Ordnung über die Wörter der deutschen Hoch- und Schriftsprache legt? Was machte er nach 1945?

 

Dr. Lutz Mackensen, Oberstudiendirektor a. D., zieht 1938 in die Blankenbergstraße Nr. 9. Fünf Jahre später ist er wieder weg. Er hat in Berlin und Greifswald studiert und 1922 in Heidelberg mit einer Arbeit zur Märchenforschung promoviert. Ab 1926 ist er Dozent für Deutsche und Nordische Philologie in Greifswald, etabliert an der Universität das Fach Volkskunde und wird 1932 außerordentlicher Professor am Herder-Institut Riga. 1933 tritt er in die NSDAP ein. 1935 wird er ordentlicher Professor und publiziert die Abhandlung Volkskunde in der Entscheidung. 1941 wird er Professor für Germanistik an der Reichsuniversität in Posen. Er sammelt Sagen, Überlieferungen und Sitten, aus denen sich eine Besiedlung der Region durch Germanen bzw. Deutsche seit der Bronzezeit nachweisen lassen sollte – die Re-Germanisierung des zu Polen gehörigen, aber 1939 von der Wehrmacht besetzten Gebietes.

 

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg vergisst er die Pflege des Deutschtums und setzt auf die Pflege der deutschen Sprache – Neues Deutsches Wörterbuch. Nebenher erscheinen nun fraglich gewordene Veröffentlichungen: 3876 Vornamen: Herkunft, Ableitungen u. Koseformen, Verbreitung, berühmte Namensträger, Gedenk- u. Namenstage (1969), Der tägliche Wortschatz: Ein Wörterbuch f. Büro, Schule u. Haus. Wortgebrauch, Wortbedeutung, Wortbeugung, Rechtschreibung, Satzzeichen, Fremdwörter, Redensarten, Namen, Regelteil (1970), Das moderne Fremdwörterlexikon: Über 32000 Stichwörter. Bedeutung, Herkunft, Aussprache, Beugung, Wortverbindungen (1971), Ursprung der Wörter: etymolog. Wörterbuch d. dt. Sprache, (1985).