Grabstätte Kurt Bartsch, 26-38-39. H&S, 2016

Kurt Bartsch (1937-2010)

 

Nachdem ich Ost-Berlin im Juli 1973 „illegal“ verlassen hatte, wurden auch Hans Rascher (1922-2010) und seine Frau Ellen Tiedtke (geboren 1930) vom MfS über mich „befragt“. Das allerdings erfuhr ich erst nach dem Mauerfall. Offensichtlich war bekannt, dass ich in ihrer Wohnung in der Möllendorffstraße ein häufiger Gast war. Als Informanten kamen wohl nur die IM des Kabaretts „Die Distel“ in Betracht. Sie wussten, dass mich ihr Hausautor Hans Rascher, der unter dem Namen Helmut Schneller als Sohn des KPD-Reichstagsabgeordneten Ernst Schneller geboren wurde, zur Mitarbeit an dem Kabarett-Stück „Grimm’s Märchen“ herangezogen hatte.

 

Das vom Magistrat finanzierte Auftragswerk, mit dem Ellen Tiedtke auch die Rückkehr ins Distel-Ensemble ermöglicht werden sollte, kam nicht zustande – weil die Distel-Genossen um Direktor Otto Stark der Meinung waren, dass diese literarische Parodie „der sozialistischen Sache“ nicht gerecht wird.

 

 

 

 

 

 

Dass sich in der Möllendorffstraße mitunter auch die Autoren Inge Ristock, Kurt Bartsch, Gerhard Geyer und Hans Rascher trafen, die sich den Gruppennamen „Ribagera“ (gebildet aus den beiden ersten Buchstaben ihrer Familiennamen) gegeben hatten, las ich erst 1996 in dem vom Ch. Links Verlag veröffentlichten Buch von Joachim Walther „Sicherungsbereich Literatur – Schriftsteller und Staatssicherheit in der DDR“.

 

Spät erfuhr ich, dass die Abteilung XX der BV (Bezirksverwaltung des MfS) Berlin einen OV (Operativer Vorgang) gegen diesen Personenkreis geführt hatte: Dokumente in drei Bänden mit 894 Blatt. „Die genannten Autoren hätten bereits 1973 versucht, die Vorzensur im Ostberliner Kabarett ‚Die Distel‘ zu umgehen und das Kabarett politisch aggressiver zu machen.“

 

Dazu lieferte ein DDR-Literaturwissenschaftler ein Gutachten: „Durch eine komprimierte Anhäufung von Fehlern, Mängeln und Sorgen der Menschen wird der Sozialismus als eine chaotische, hilflose und im Grunde unmenschliche Ordnung deklassiert; [...] die sozialistische Produktion wird einem Clown gleichgestellt, der immer ins Stolpern kommt, sich auf den Kopf stellt, auf das Gesicht fällt und sich trotzdem immer wieder hochrappelt; Partei- und Staatsfunktionäre werden als unfähig hingestellt, einen für die Dauer richtigen Kurs auszuarbeiten, und sie seien nur in der Lage, die permanenten Fehler mit Hilfe der Dialektik in Erfolge umzufunktionieren; die sozialistischen Massenmedien werden als unproduktive, die Menschen verdummende Einrichtungen verleumdet.“ (512 BStU, ZA, AOP 7941/84, Bd. 1, BI. 8.).

 

Joachim Walther teilt mit, dass bereits 1974 die „Schriftsteller Erwin Strittmatter und Hermann Kant empört waren über die Veröffentlichung des Buches ‚Kalte Küche‘ von Kurt Bartsch im Aufbau-Verlag. In diesem Buch werden Schriftsteller der DDR in Form der Parodie vorgestellt. Nach Ansicht der Genannten hat Bartsch in diesem Buch das Maß der Parodie überschritten und greift in diskriminierender Weise prominente und zur Politik der Partei stehende Schriftsteller an“. Kurzum: „Dieses Buch von Kurt Bartsch hätte in der vorliegenden Form nicht veröffentlicht werden sollen.“ (513 BStU, ZA, AIM 2173/70, Bd. II/4, Bl. 142).

 

Jahre später, am 18. Februar 1980, beschäftigte sich die ZAIG (Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe) mit dem Manuskript ‚Wadzeck‘ von Kurt Bartsch: „Mit dem Ziel der Verhinderung einer Veröffentlichung dieses feindlichen Manuskriptes werden folgende Maßnahmen vorgeschlagen: Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Bartsch. Der Aufbau-Verlag sollte veranlasst werden, - das Ministerium für Kultur offiziell vom Vorliegen dieses feindlichen Manuskriptes zu informieren und die Einleitung staatlicher Maßnahmen zur Verhinderung einer Veröffentlichung des Manuskriptes in der BRD vorzuschlagen, - mit Bartsch ein Gespräch zu führen, bei dem das Manuskript zurückgewiesen und dem Bartsch unmissverständlich zu verstehen gegeben wird, welche rechtlichen Konsequenzen eine Veröffentlichung dieses Machwerkes außerhalb der DDR zur Folge haben würde.“ (29 BStU, ZA, ZAIG 4484, Bl. 84.)

 

Auf Bartsch und seine Frau Irene Böhme wurden IM angesetzt, darunter IME „Pergamon“ (Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz, Klarname Wolfgang Tilgner, Chefdramaturg am Friedrichstadtpalast), der ein Gutachten zu der 1978 im Verlag Langewiesche-Brandt ‎erschienenen Schallplatte „Sarah Kirsch liest Gedichte“ (darunter Kurt Bartsch) lieferte, in dem er „antisozialistische Tendenz“, „falsche pseudohumanistische, pseudorevolutionäre Einstellung“ und den „ästhetischen und damit politischen Ausschließlichkeitsanspruch einer Clique“ attestierte.

 

Nachdem Kurt Bartsch im Juni 1979 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen worden war, schritten die „Tschekisten“ (hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter) am 8. Oktober 1980 zur Tat: „Um 10 Uhr hat der Genosse Kramer (BV Berlin/XX) dreimal an der Wohnung geklingelt. Es wurde nicht geöffnet, und es konnten auch keine Geräusche aus der Wohnung gehört werden. Mit einem Nachschlüssel wurde das Sicherheitsschloss und mit einem Dietrich den Schnapper geöffnet. In diesem Moment kam Andre, Bartschs Sohn, aus dem Badezimmer und sagte: „Nanu, wo haben Sie denn einen Schlüssel her?“ (514 BStU, ZA, AOP 7941/84, Bd. 3, Bl. 342.)

 

Im August 1980 erhielt Kurt Bartsch ein dreijähriges Visum für die „selbständige politische Einheit Westberlin“. Da er von nun an zwischen Ost und West pendelte, sich nach Ansicht des MfS „bewusst über die gesetzlichen Bestimmungen der DDR hinwegsetzt“, empfahl das MfS am 21. November 1980 „offizielle Beweise für strafbare Handlungen des Bartsch gemäß §§ 106 (1) Ziffer 2 und (2) sowie 220 (2) und (4) StGB zu erarbeiten und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit Haft zu prüfen.“

 

Kurze Zeit später zogen Kurt Bartsch und seine Frau Irene Böhme von Berlin (Ost) nach Berlin (West) in die Wohnung Detmolder Straße Nr. 18. In diesen Räumen entstanden zwischen 1991 und 1999 die Drehbücher für 70 Episoden der ZDF-Familienserie „Unser Lehrer Doktor Specht“.

 

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Die nachfolgenden Skizzen von Heinrich Dreidoppel entstanden 2010, im Todesjahr von Kurt Bartsch. Der in Friedenau lebende Zeichner und Maler Heinrich Dreidoppel war von 1989 bis 2003 Professor für Ästhetische Erziehung, Kunst- und Kulturwissenschaften an der Universität der Künste Berlin. Weitere Arbeiten finden Sie unter http://dreidoppel.blogspot.com.

 

Kurt Bartsch. Frühe Aufnahme des Porträtfotografen Roger Melies (1940-2009)

Kurt Bartsch zum Achtzigsten

 

Der im thüringischen Ilmenau ansässige Publizist Dr. Eckhard Ullrich hat auf seiner beachtenswerten und von ostdeutscher Sichtweise geprägten Website zum 80. Geburtstag von Kurt Bartsch am 10. Juli 2017 eine Würdigung geschrieben. Wir veröffentlichen den Beitrag mit Erlaubnis des Autors.

 

Zu den gravierendsten Fehlleistungen des „Kritischen Lexikons der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ (KLG) gehört die Verwechslung von Kurt Bartsch (Jahrgang 1937), um den es hier anlässlich seines heutigen 80. Geburtstages noch einmal gehen soll, und Kurt Bartsch (Jahrgang 1947), der sich als Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Graz diverse Meriten verdiente, unter anderem für die Sammlung Metzler Bände zu Ingeborg Bachmann und Ödön von Horvath verfasste und im Droschl Verlag eine Reihe von Dossiers herausgab, etwa zu Alfred Kolleritsch, Elfriede Jelinek, Barbara Frischmuth, Ilse Aichinger, Gerhard Rühm.

 

Kurt Bartsch (Jahrgang 1937) begann seine Laufbahn als Schriftsteller in Buchform 1968 mit „Zugluft. Gedichte, Sprüche Parodien“ und einem „Poesiealbum 13“. Bartsch belegte damit, es sportlich zu sehen, den sechsten Platz unter den lebenden DDR-Autoren, denen die Herausgeber ein solches Heft gönnten: vor ihm gab es nur Wulf Kirsten (4), Helfried Schreiter (7), Günter Kunert (8), Helmut Preißler (9) und Reiner Kunze (11), die alle älter waren, wenn auch zum Teil nicht sehr viel.

 

Als Kurt Bartsch am 17. Januar 2010 in Berlin starb, nannte ihn der SPIEGEL in seinem Kurznachruf ein Multitalent: „Er brillierte als Lyriker und Parodist ebenso wie als Dramatiker.“ Das Nachrichtenmagazin bedauerte, dass der Berlin-Roman „Fanny Holzbein“ dagegen nicht die verdiente Aufmerksamkeit fand. Man darf ein wenig boshaft ergänzen, dass das für den SPIEGEL umso bedauerlicher war, als er am 28. Februar 2005 dem Roman Aufmerksamkeit geschenkt hatte, wenn auch nur in zwei kleinen Spalten. Und mit einem (2005 !!) kuriosen Schluss: „Bartsch … trifft wunderbar jenen schnodderigen berlinerischen Ton, wie manche ihn vielleicht noch von Max Liebermann oder Marlene Dietrich kennen – das verleiht seinem Buch einen rauen Charme.“ Wie viele SPIEGEL-Leser mag es 2005 noch gegeben haben, die sich an den Ton (!!!) von Max Liebermann erinnern konnten, der am 8. Februar 1935 starb, also eben seinen 70. Todestag hinter sich hatte? Ich klage nicht: als ich den 75. Geburtstag von Bartsch zum Anlass nahm, über sein Buch „Der Bauch und andere Songspiele“ zu schreiben, meldete postwendend sich das Amt für Richtigstellungen.

 

Das ist eine in einer ehemaligen Thüringer Kreisstadt zu Füßen einer Burg residierende Ein-Mann-Institution, die immer dann aktiv wird, wenn irgendwer irgendwo irgendwas schreibt, sagt oder singen lässt, was dem DDR-Bild des Institutsdirektors widerspricht, wenn das Geschriebene, Gesagte, Gesungene gar andeutet, dass jemand ein Opfer war oder jemand anderes ein Täter, dann hechtet der Amtmann an die Alarmglocke und läutet wie weiland die stumme Kattrin bei Brecht.

 

Um es kurz zu machen: es gab in der DDR Menschen, deren höchstes Bestreben darin bestand, Bartsch-Texte zu rezitieren oder rezitieren zu lassen, Stücke aufzuführen oder aufgeführte Stücke zu besichtigen, als Bartsch schon der bekannten Schein-Ungnade verfallen war, die darin bestand, am 7. Juni 1979 aus dem Schriftsteller-Verband der DDR ausgeschlossen worden zu sein. (Das war jetzt Satire, liebe Humoristen!). Kurt Bartsch kaufte sich zu Lebzeiten eine Grabstelle auf dem Friedhof Friedenau an der Stubenrauchstraße, das gehört zu jener einstigen Frontstadt Berlin (um den Ost-Nostalgikern verständlich zu bleiben), die als Speerspitze gegen den Sozialismus missbraucht wurde.

 

Der III. Städtische Friedhof Stubenrauchstraße, so sein offizieller Name, ist auch die letzte Ruhestätte von, einige Beispiele in Todesjahr-Reihenfolge zu nennen: Ferrucio Busoni, Paul Zech, Dinah Nelken, Marlene Dietrich, Helmut Newton und Oskar Pastior. Kurt Bartsch finden die Verfasser der einschlägigen WIKIPEDIA-Seite bis heute nicht wichtig genug, ihn in die Reihe der Prominenten aufzunehmen. Im August 2016 erfuhr ich von Aktivitäten, ihm spätestens zu seinem (heutigen) 80. Geburtstag mehr Würdigung zu organisieren.

 

Irene Böhme, die langjährige Ehefrau und Witwe war von einem meiner Leser auf meinen Beitrag aufmerksam gemacht worden, wenig später stand ich an der Grabstätte und fotografierte sie für mein Archiv und traf sogar auf eine freundliche alte Dame, die Irene Böhme kannte und ihr von mir erzählen wollte. Mehr Eitelkeit will ich mir nicht können, denn sie hätte kein Maß in Relation zu dem, was ich tatsächlich bewirkte. Immerhin bin ich herzlichst gebeten worden, zum Jubiläum doch wieder etwas zu schreiben, was ich hiermit tue. Ich muss mir inzwischen auch nicht mehr einbilden, allein zu stehen mit meinem dezenten Hindeuten.

 

Anfang Juni konnte man in Synergie-Effekt-Blättern wie MITTELDEUTSCHE ZEITUNG und BERLINER ZEITUNG textidentische Beiträge zu einem Buch lesen, das gerade im Mitteldeutschen Verlag erschien. Es trägt den Titel „In all dem herrlichen Chaos“, ist 320 Seiten stark. Ich zitiere den Kritiker Christian Eger: „Bartsch, 1937 in Berlin geboren, gehört zu den gewitzten, anarchischen, nicht auf Linie zu bringenden Autoren des Ostens. Kein Großschriftsteller, der Prosa-Tapeten entrollt, sondern ein Mann der kleinen Form, misstrauisch gegen die große künstlerische und politische Geste.“ Vor fünf Jahren wies ich bereits darauf hin, dass im Tribunal des Berliner Schriftstellerverbandes 1979 Bartsch verbal keinerlei Rolle spielte, der Prokollband hat fünfmal seinen Namen, wenn ich damals richtig zählte, immer nur als alphabetisch Erster der inkriminierten Renitenzfälle. Den Band hat Irene Böhme, selbst Autorin so lesenswerter Bücher wie „Die da drüben“ und „Die Buchhändlerin“, gemeinsam mit Wasja Götze herausgegeben, der Bartsch 1972 nach einer Theaterprobe kennenlernte. Und schon die Bilder zu „Die da drüben“ beisteuerte.

 

Christian Egers Fazit lautet: „Das Buch zeigt: Die deutsche Vor-89er-Kulturgeschichte ist nur als eine Ost-West-Geschichte zu begreifen – kommerziell und personell vielfach verbunden; im Westen hörte die DDR nicht auf.“ Im Osten hat sie bis heute nicht aufgehört, möchte man ergänzen, bei Pawlows Hund wird der Speichel schon tropfen. Einmal, am 19. September 1983, gönnte der SPIEGEL Kurt Bartsch vier Seiten Platz, indem er, nicht eben oft geübte Praxis, aus dem eben neu-frischen Buch „Die Hölderlinie“, im Rotbuch-Verlag erschienen und 120 Seiten stark, Parodien einfach nachdruckte. Man ahnt noch heute die genießende Schadenfreude der Hamburger Redaktion angesichts der Kakaotunke für Hans Magnus Enzensberger, Gabriele Wohmann, Botho Strauß, Martin Walser, Ulla Hahn, Peter Schneider, Erich Fried und Reiner Kunze. Mit solchen, mit Verlaub, herrlichen Parodien rangiert Kurt Bartsch ganz oben im Parodisten-Olymp, der leider nicht übervölkert ist. „Sein Glied stand groß und lästig unter der Bettdecke. Er begann es zu streicheln, ließ aber davon ab, als er merkte, dass seine Gedanken unaufhörlich um die Studentenbewegung kreisten.“

 

Das zielt auf Peter Schneider (Jahrgang 1940), der immer, wenn es irgendwo um 68 geht, in die Zeitzeugen-Jacke schlüpft. Hermann Kant, wurde ich seinerzeit mahnend vom Amt für Richtigstellung belehrt, soll über die Kant-Parodie gelacht haben. Leider hat anders als bei Schiller das niemand dramatisch gestaltet: zwar hat dessen König geweint, aber der lachende Verbandskönig, der ist (mittlerweile: war) auf solche Ämter angewiesen. Um noch einmal auf „Fanny Holzbein“ zurückzukommen: Es ist verblüffend, wie unterschiedlich der Roman referiert wird bei Yaak Karsunke in der FRANKFURTER RUNDSCHAU, bei Sabine Brandt in der FAZ und eben im SPIEGEL. Die „sexuellen Exzesse der russischen Soldateska“ gibt es nur bei Karsunke. Im Lyrik-Kalender des Deutschlandfunks, den ich einige Jahr aufmerksam beobachtete (und bisweilen mit einem Leser-Brief belästigte), sind Bartsch-Gedichte mehrfach vorgetragen worden: aus dem Band „Weihnacht ist und Wotan reitet“, aus „Kaderakte. Gedichte und Prosa“, aus „Jahrbuch der Lyrik 1984“. Ich grüße in die Detmolder Straße zu Berlin, vielleicht wird es ja doch noch mit der größeren Publizität.

 

Dr. Eckhard Ullrich

www.eckhard-ullrich.de

 

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