Ewald Mahr 1935-2023

Zum Tod von Ewald Mahr

 

Im Herbst 2015 war unser Friedenau-Buch erschienen, darin kritische Beiträge zur Umgestaltung des Breslauer Platzes und den Bauplänen auf dem ehemaligen Güterbahnhof Wilmersdorf-Friedenau. Es war uns nicht entgangen, daß die Befürworter dieser Pläne massiv gegen uns vorgingen. Wenig später sprach uns ein – wohl mit der Bürgerinitiative verbandelter Herr an – und ließ uns wissen, daß er diese Reaktionen als geradezu krankhaft und völlig unbegreiflich findet. Das war Ewald Mahr.

 

Als wir uns im Frühjahr 2016 entschlossen, mit der Webseite www.friedenau-aktuell.de Geschichte und Entwicklung von Friedenau stärker in den Fokus zu rücken, auch den Schöneberger Teil von Friedenau und das Terrain hinter der Wannseebahn zu beleuchten, wurde Ewald Mahr für uns ein wichtiger Berater. Wie kaum ein anderer kannte er Gegend und Leute, wußte um Befindlichkeiten und Zusammenhänge – sozusagen ein Berliner Urgestein, geboren 1935 im Haus seines Großvaters Johannes Rudel in der Wilmersdorfer Bernhardstraße Nr. 11.

 

Die viergeschossigen Mietwohnhäuser waren Anfang der 1890er Jahre unmittelbar an der Grenze zu Friedenau in einem u-förmig angelegten Quartier zwischen der Ringbahnstraße (Wexstraße) und dem Damm der Ringbahn entstanden. Ausschlaggebend war wohl vor allem, daß 1892 die Ringbahnstation Wilmersdorf-Friedenau eröffnet und unter der Bahntrasse zwischen Bernhardstraße und Varziner Straße ein Fußgängertunnel gebaut wurde, über den nicht nur der Bahnsteig auf dem Bahndamm zu erreichen war, sondern Wilmersdorfer und Friedenauer einen direkten Weg zwischen den Ortsteilen fanden.

 

Eine Straße nach drei Himmelsrichtungen: Nach Westen hin gab es die Häuser Nr. 7A bis Nr. 10 (rechts) und Nr. 11 bis Nr. 15 (links), nach Süden zur Bahntrasse Nr. 5 bis Nr. 7, nach Osten Nr. 1 bis Nr.4 (links) und Nr. 16 bis Nr. 18A (rechts). Eigentümer diverser Grundstücke war der Friedenauer Bauunternehmer Hermann Pählchen. Da Pählchen noch vor der Fertigstellung verstarb, kam es zur Zwangsversteigerung der Baustellen. 1896 war der Kaufmann Johannes Rudel Eigentümer von Bernhardstraße Nr. 11, der seit 1887 mit Theresia Büchold verheiratet war. Aus dieser Ehe stammen die Söhne Johannes (1888), Max (1892), Waldemar (1898) und Tochter Charlotte (1895), die 1934 den Dentisten Hans Mahr heiratete – die Eltern von Ewald Mahr.

 

Das Haus ist noch heute im Besitz der Familie Mahr, und so kam es, daß der geschichtsbesessene Ewald Mahr unendlich viele Dokumente über die Bernhardstraße gesammelt hatte. Nun erfuhren wir, daß für das halbfertige Haus 1896 erst einmal Trockenwohnen angesagt war, daß es die Besohlanstalt von Wilhelm Wulfestieg gab, dem Stiefvater von Hildegard Knef, daß es in Nr. 11 den Räucherwarenladen von Alfred Riebisch gab, deren Tochter Traude mit Hildegard befreundet war. So kam es, daß die beiden Mädels mit den Eltern Urlaub an der Ostsee verbrachten.

 

Ewald und Ruth Mahr feierten 2018 die Diamantene Hochzeit – sechs Jahrzehnte, das ist schon was. 1973 war der Diplomkaufmann in den Dienst von Telefunken Berlin eingetreten. Es sah nicht günstig aus. Dafür steht auch das 1960 bezogene Telefunken-Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz. Schon 1967 wurde es der Technischen Universität Berlin überlassen. Mit der Umwandlung in AEG-Telefunken Aktiengesellschaft 1979 kam keine Besserung, erst recht nicht 1985 mit der Umbenennung in AEG  AG und der Ausgliederung von Geschäftsbereichen, darunter die Telefunken-Sendertechnik GmbH Berlin. Ewald Mahr wurde noch Personalchef, aber das Ende des von Siemens & Halske und AEG 1903 gegründeten Berliner Traditionsunternehmens konnte auch er nicht aufhalten. Zwei Jahre vor Löschung aus dem Handelsregister ging er 1994 in den Ruhestand.

 

Als es darum ging, das Erbe der Deutschen Weltmarke Telefunken wenigstens mit einem Buch zu bewahren, gehörte Ewald Mahr von Anfang an zu den Initiatoren. Sein Essay Im Kraftfeld von Zeitgeschehen – Zeitgeist – Erfindergeist ist ein überaus kritischer Blick auf ein Unternehmen, daß in den Sog von drei Staatsformen, des Kalten Krieges und schließlich in die Turbulenzen der Auflösung des eigenen Konzerns geriet. Dafür steht in Berlin auch das 1960 bezogene Telefunken-Hochhaus, daß im Verlauf der Fusionsvorgänge 1967 der Technischen Universität überlassen wurde. Erfreulicher zu lesen ist allerdings Mahrs Beitrag zur Geschichte der Telefunkenplatte, in dem er diese vor dem Vergessen bewahrt: Das Aug‘ erkennt sie, das Ohr vergißt sie nicht.

 

Bei seinem letzten großen Kampf ging es um die Rückkehr der Rossebändiger vor das Humboldtforum. Diese zwei Bronzeplastiken des Bildhauers Peter Clodt von Jürgensburg waren Geschenke des russischen Zaren Nikolaus I. an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. 1844 wurden sie vor dem Portal IV des Berliner Schlosses aufgestellt, wo sie mit dem Löwenkämpfer und der Amazone vor dem Alten Museum korrespondierten. 1945 wurden sie im Kleistpark untergebracht. Über die Wiederaufstellung am ursprünglichen Ort wurde lange diskutiert – bis die rot-grüne Zählgemeinschaft von Schöneberg entschied, daß die Rossebändiger im Kleistpark bleiben. Er konnte mit Niederlagen umgehen. Seit 1977 wohnte er mit Ehefrau Ruth in der Dickhardtstraße Nr. 41. Über vier Jahrzehnte lebten sie hier. Als seine Kräfte nachließen, blieb nur das Seniorenheim in der Albestraße. Am Samstag, den 20. Mai, erlebte er noch seinen 88. Geburtstag. Am 22. Mai 2023 ist Ewald Mahr gestorben. Seine letzte Ruhe findet er am 15. Juni auf dem Steglitzer Friedhof an der Bergstraße.

 

 

Auf dem Bebauungsplan von 1874 wird für das Grundstück entlang der damaligen Ringbahnstraße zwischen Kaiser-Platz und Prinzregentenstraße der Name Bernhard Wagner als Eigentümer genannt. 1890 wird das Areal parzelliert. Am 28. September 1901 meldet der Friedenauer Lokal-Anzeiger, dass die von der Ringbahnstraße aus nach dem Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau am Bahngelände entlang und dann wieder nach der Ringbahnstraße zurückführende U-förmige Straße dicht neben dem Eisenbahndamm bis zur Kaiserallee durchgelegt wird. Sie erhält am 24. August 1893 den Namen Bernhardstraße.

 

Ab 1895 entstehen in dem dreiteiligen Quartier viergeschossige Wohnhäuser: Im westlichen Teil der Bernhardstraße die Häuser Nr. 7A -10 (rechts) und Nr. 11-15 (links), zur Bahntrasse hin Nr. 5-7 sowie im östlichen Teil Nr. 1-4 (links) und Nr. 16-18A (rechts).

 

Mit Inbetriebnahme der Ringbahn im November 1877 war eine Station errichtet worden, die 1881 den Doppelnamen Wilmersdorf-Friedenau erhielt. Unter die Ringbahntrasse wurde ein Tunnel gebaut, über den der Personenbahnhof sowohl von der Bernhardstraße als auch von Sieglinde-, Isolde- und Brünnhildestraße (heute Varziner Platz) erreichbar und ein direkter Zugang zwischen Wilmersdorf und Friedenau möglich ist. Während des Zweiten Weltkriegs wurden in diesem Bereich viele Häuser durch Bomben zerstört.

 

Nach dem Mauerbau ergab sich durch die Entwicklung des Kraftfahrzeugverkehrs und das ständige Wachsen der Zahl der zugelassenen Fahrzeuge im öffentlichen Interesse die Notwendigkeit eines autobahnmäßigen Straßenausbaues. 1963/64 kam es zum Bebauungsplan IX-82, der die rechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der für den Straßenbau benötigten Grundstücksflächen schafft. Der zwischen den Grundstücken Bundesplatz 10-12 und der Prinzregentenstraße gelegenen Bauabschnitt des Stadtringes Berlin wird als Hochstraße geführt werden. Die damit im Zusammenhang stehende Anlage eines Wendeplatzes vor dem Grundstück Bernhardstraße 17 legt die erforderlichen Straßenlandflächen fest.

 

Außer den unmittelbar von den Straßenbaumaßnahmen betroffenen Grundstücken Berhardstraße 3-7A und 14-16, Prinzregentenstraße 48-49 und einem schmalen Streifen des Eisenbahngeländes mußten auch die Grundstücke Wexstraße 33, Bernhardstraße 17 und Prinzregentenstraße 47 wegen ihrer Lage zum Stadtring vollständig in den Geltungsbereich des Bebauungsplanes einbezogen werden. Für die zuletzt genannten Grundstücke und die außerhalb des Straßenlandes verbleibenden Restflächen der Grundstücke Bernhardstraße 3-7A, die einzeln nicht mehr bebaubar sind, setzt der Bebauungsplan als Maß der Nutzung höchstens 5 Vollgeschosse fest. Nach Fertigstellung des Stadtrings blieben abgeschnittene Wohnhäuser und zwei Straßenteile der Bernhardstraße übrig, die keine Verbindung haben und nur von der Wexstraße zu erreichen sind.

 

Aus den 2021 veröffentlichten Plänen von Google und OpenStreetMap wird ersichtlich, dass im Bereich von Bernhard- und Wexstraße einige Einzelgrundstücke bereits beräumt sind. Es ist davon auszugehen, dass dort demnächst gebaut wird, obwohl die Lärmbelastung in der Bernhardstraße tagsüber bei 72 Dezibel und nachts bei 66 Dezibel und damit deutlich über dem Zulässigen liegt.

 

Ringbahnstation Wilmersdorf-Friedenau, Zugang von der Bernhardstraße, 1912

Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau

 

Bevor Berlin 1871 Hauptstadt wurde, entschied sich Preußen 1862 zum Bau der Ringbahn. Zwischen Kaiserallee (heute Bundesallee) und Handjerystraße wurde ein Viaduktbau erforderlich. Mit Inbetriebnahme der Ringbahn 1877 bekam die Gegend auch eine Station, die 1881 den Namen Wilmersdorf-Friedenau erhielt. Gebaut wurde ein Tunnel von der Bernhardstraße zur Varziner Straße, der zugleich den Zugang zum hochgelegenen Bahnsteig ermöglichte.

 

Am 28. September 1901 meldete der Friedenauer Lokal-Anzeiger, dass die von der Ringbahnstraße (ab 1911 Wexstraße) aus nach dem Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau, am Bahngelände entlang und dann wieder nach der Ringbahnstraße zurückführende U-förmige Bernhardstraße dicht neben dem Eisenbahndamm bis zur Kaiserallee durchgelegt wird.

 

 

 

 

1912 gab es zwischen der Gemeinde Friedenau und der Eisenbahndirektion Differenzen über den Bau des zweiten Ausgangs zum Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau. Beanstandet wurde, dass der Aufgang von der Bernhardstraße aus angelegt werde und einen Zugang von der Prinzregentenstraße, also von Friedenau aus, hinter der Unterführung erhalte. Die Treppe hätte doch besser in der Unterführung angelegt werden müssen. So habe der Zugang wenig Wert für Friedenau. Wochen später hatte sich die Aufregung gelegt: Die Anlage des 2. Zuganges zum Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau geht ihrer Vollendung entgegen. Der Treppenaufgang ist bereits fertiggestellt; das nach Norden gelegene Gleis wurde unterführt und das kleine Stationsgebäude an der Bernhardstraße ist im Rohbau fertig. In dem Gebäude werden mehrere Schalter für den Fahrkartenverkauf eingerichtet. Am Bahndamm entlang führt dann nach der Prinzregentenstraße ein zweiter Zugang zu dem neuen Stationsgebäude. Man wird also in Zukunft sowohl von der Bernhardstraße wie auch von der Unterführung im Zuge der Handjery- und Prinzregentenstraße aus den Ringbahnhof erreichen können. Das neue Bahnhofsgebäude am Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau an der Bernhardstraße ist am 1. November 1912 in Betrieb genommen worden.

 

1938 wurde die Ringbahnstation in Wilmersdorf umbenannt. Nach dem Mauerbau entstand die U-Bahn-Linie 9 und 1971 der U-Bahnhof Bundesplatz. Mit dem S-Bahn-Streik von 1980 war die Station Wilmersdorf außer Betrieb. Bevor der S-Bahn-Verkehr auf der Ringbahn wieder aufgenommen wurde, verlegte man den Bahnhof Wilmersdorf um rund 100 Meter nach Westen zum Bundesplatz hin. Seit 1993 gibt es die Umsteigestation U+S-Bahnhof Bundesplatz. Der Tunnel unter dem Bahnviadukt blieb erhalten, als Zugang zum Bahnsteig und als Durchgang zwischen Bernhard- und Varziner Straße.

 

Bernhardstraße Nr. 5

Hildegard Knef (1925-2002)

 

Von der Existenz einer Bernhardstraße haben wohl viele erst im Jahr 1970 erfahren, als Hildegard Knef (1925-2002) den Geschenkten Gaul veröffentlichte: Die Bernhardstraße war ein Hufeisen ohne Rundungen, ein Quadrat mit drei Schenkeln, eine Straße, die nach drei Himmelsrichtungen ging: nach Süden, nach Osten, nach Westen. Das unvollständige Quadrat wurde im Norden durch die Wexstraße vervollständigt. Die Wexstraße war eine laute, eine großstädtische Straße und lief vom Kaiserplatz bis zum Innsbrucker Platz. Die Bernhardstraße war Fußballplatz, Radrennbahn, ein Dorf mit achtzehn vierstöckigen Häusern ...

 

Wir wohnten 1933 erst Nr. 5 in zwei Zimmern, einige Jahre später Nr. 6 in vier. Nr. 5 war gemütlicher. Beide lagen auf der Südseite, und an der Ecke der Süd- und Westseite lag unser Geschäft, es hatte zwei große Fenster und ein großes Schild, darauf stand ‚Besohlanstalt‘, mein Stiefvater Wilhelm Wulfestieg hatte etwas gegen das Wort Schuhmacherei. Die Polier- und Schleifmaschinen in unserer Besohlanstalt standen seitlich neben dem Eingang und machten einen Höllenlärm, neben dem Geschäft wohnte eine Klavierlehrerin, und mein Stiefvater hatte sich mit ihr geeinigt, nur nachmittags zu schleifen, sie musste ihr Klavier alle vierzehn Tage stimmen lassen, und sämtliche Porzellanfiguren waren ein Opfer der Schleifmaschinen geworden, sogar die Tassen in der Küche tanzten ihr vom Tisch, wenn er die Maschinen anstellte. Sie war eine gutmütige, einsichtige Frau und gab vormittags Unterricht, so hörte man von 8 bis 1 ‚Gebet einer Jungfrau‘, das ‚Wolgalied‘ und manchmal auch etwas aus dem ‚Vogelhändler‘; dann klopfte Vater vorsichtig an die dünne Wand, sie klopfte zurück, und er übernahm die Nachmittagsgeräusche ...

 

 

 

 

Gegenüber der Südseite lag der S-Bahnhof Wilmersdorf, ein Bahnhofseingang lag gegenüber vom Geschäft, und dadurch bekamen wir viel ‚Laufkundschaft‘, wie mein Stiefvater das nannte, sie wollten in Eile einen Absatz oder gerissene Nähte repariert haben oder kauften bloß Schnürsenkel. Die feste Kundschaft kam aus der Bernhardstraße. Da war der Bäcker Sehmisch und seine Familie, sein Geschäft lag auf der Westseite (Nr. 14), es war groß und sauber, und Herr Sehmisch sah so knusprig aus wie seine Brötchen. Über den Sehmischs wohnten die Neumanns (Bauunternehmer), von ihrem Balkon konnten sie in unser Geschäft sehen und einen Teil vom Bahnhof … Neben den Sehmischs war das Lebensmittelgeschäft und ein Bonbonladen, dann kam das Fischgeschäft von Alfred Riebisch und die Wexstraße, auf der anderen Seite hatten zwei alte blaugefrorene Menschen, die auch im Sommer nach Winter aussahen, einen Milchausschank, dahinter war eine Leihbücherei.

 

Unsere Seite hatte bis auf einen Werkzeug-Ersatzteilladen gar keine Geschäfte, der Besitzer des Werkzeug-Ersatzteilladens lebte mit einer rothaarigen Frau nur zwischen seinen Ersatzteilen, wir sahen ihn fast nie. Mutter erzählte mir mal, er soll ein silbernes Korsett getragen haben, und von da an hatte ich Ehrfurcht vor ihm. Direkt am Bahnhofseingang lag der Zigarrenladen von den Gorczellanceks, sie mussten aber dann nach 1935 den Laden aufgeben, eine Familie Toedt zog ein, sie waren sanfte, stille Leute, und das Ganze mit den Gorczellanceks war ihnen sehr unangenehm. Die Gs wohnten noch einige Jahre in ihrer Wohnung am Cosimaplatz in Friedenau, und die Bernhardstraßenbewohner gingen nachts zu ihnen und brachten Esswaren und Zeitschriften - die Gs waren stolz und ließen sich nicht gern etwas schenken, und so hatten wir langsam einen Teil ihres Geschirrs kaufen müssen und Handtücher und Bestecke, die halbe Straße hatte Sachen von den armen eingesperrten Gorczellanceks ...

 

An der Ecke Wexstraße und Bernhardstraße war noch ein jüdisches Geschäft, ein Kurzwarenladen - sie hießen Kaufmann, und die Frau hatte sich die Haare ganz blond gefärbt und sagte immer zu Mutter, ihr würde man bestimmt nichts tun. Eines Morgens holten sie ihren Mann ab, sie flüchtete aufs Dach und fiel herunter. Um die Kaufmanns tat es allen sehr leid, sie waren seit Ewigkeiten in Berlin und hingen sogar die Hakenkreuzfahne zu Hitlers Geburtstag heraus - die dachten immer, das würde was nützen ...

 

Frau Block war unsere Portiersfrau von Nr. 5, sie hatte keinen Mann, dafür zwei Töchter, Marianne und Lorchen. Frau Block war dickbusig und gemütlich und kochte den ganzen Tag Kaffee, das ganze Haus roch nach heißem, gemütlichem Kaffee. Wir saßen eines Sommersonntagmorgens auf unserem Balkon und sprachen nicht - nicht weil wir verfeindet waren, sondern weil man auf dem Balkon wegen der S-Bahn nicht sprechen konnte; wenn ein Zug stand, konnte man vielleicht noch nach Milch und Zucker schreien, bis der Gegenzug einfuhr und der Stationsvorsteher ‚WillllllImersdorf‘ brüllte, als wären die Passagiere taube Analphabeten, dann kreischte jemand ‚Abfaahhrn, Türen schliiiiießen, zuuuuuurückbleiben‘, dann schnaufte der Zug, quietschte, stöhnte, pfiff und summte und rauschte nach Schmargendorf ab, das Ganze wiederholte sich auf der anderen Seite. Dann war eine Minute Ruhe, manchmal drei, und wir riefen alle gleichzeitig, was wir bis dahin an Gedanken dem städtischen Verkehr geopfert hatten …

 

Frau Block, die wir alle Mutter Blocken nannten, war bei den späteren Bombenangriffen die Tapferste und Einfallsreichste in der Straße, sie kam mit Familie, und jeder hatte einen feuerfesten Kochtopf auf dem Kopf, darüber ein Kissen und das Ganze mit einem Riemen zusammengehalten. Als wir den ersten schweren Angriff auf Wilmersdorf hatten und eine Stunde lang die Bomben sausten, das Licht ausging und die Wände wackelten, da sagte Mutter Blocken immer wieder: ‚Solange man se hört, treffen se nich … Als meine Mutter, Halbbruder auf dem Arm, und ich nach diesem ersten Angriff durch Glassplitter und umgekippte Wassereimer auf die Straße wateten, sahen wir, dass unser Dach brannte und dass das Haus auf der anderen Seite des Bahnhofs, in dem der Friseur Wedel wohnte, einstürzte; da merkte ich, dass Krieg war und dass es so bleiben würde für lange Zeit …

 

Ich blieb in der Wohnung, bis sie ausgebombt wurde. Es war Silvester '43/44, die Zimmer waren eisig kalt, die Fenster seit langem kaputt, Pappe davor, das Haus roch schon seit Jahren nicht mehr nach Mutter Blockens Kaffee, und Werner und Klaus, meine Radfahrfreunde, waren an der Front, und zwei aus der Straße waren in Russland gefallen. In dieser Nacht kam ich nach Hause, auf dem Balkon hätte man sich endlich unterhalten können, stundenlang, die Züge fuhren selten und unregelmäßig, hinten auf dem Güterbahnhof stand eine Flak, die nur manchmal in Notfällen hilflos vor sich hin meckerte - Verdunkelung, der Stationsvorsteher brüllte das erstemal zu Recht sein ‚Willllmersdorf‘. In dieser Nacht tastete ich die Treppen hinauf und sagte zu Stiefvater, dass ich ins Bett gehen würde, es war zu kalt, um zu warten, bis es zwölf war, und anstoßen hätten wir sowieso nicht können, Geschirr und Gläser waren längst kaputt, wir aßen auf Marken in Kantinen und Kneipen, und nach Feiern war keinem zumute. Ich zog meine Luftschutzsachen an, Trainingshose, zwei Pullover, Socken und ging ins Bett, Stiefvater hatte eine Idee, wir hatten noch ein Heizkissen, und wenn der Strom funktionieren sollte, könnte ich es für eine Weile behalten, ich schlief ein und wachte auf, weil mein Bett brannte, gleichzeitig hörte ich das sanfte, stete Surren, das wir alle so gut kannten - eine Bombe und danach noch eine und noch eine, und ich schrie Alarm und schrie und schrie - unsere Sirenen waren beim letzten Angriff kaputtgegangen, und keiner in der Bernhardstraße hatte es gemerkt, und als wir unten am Kellereingang ankamen, traf ein Volltreffer unser Haus, und wir waren verschüttet. Man hat uns ausgegraben, und wir bedankten uns beim Heizkissen ...

 

In Nr. 6 war eine Wohnung frei, wir zogen um, das heißt, wir nahmen unser Handgepäck, einen Tisch und zwei Schüsseln, die wir über die unzerstörte Hintertreppe herausgeholt hatten. Im Wohnzimmer stand unser Klavier auf einem Mauervorsprung, aber da kamen wir nicht ran, wir sahen uns von Nr. 6 unser Klavier im vierten Stock von Nr. 5 an und warteten, dass es herunterfiel, im dritten Stock hing noch ein Bild an der Wand, eine Gebirgslandschaft mit Schnee und Sennhütten ...

 

Es war auch gleich wieder ein neuer Angriff, und unser Klavier segelte endlich mit wütendem Grollen den anderen Klavieren, Buffets, Tischen, Klosettdeckeln und Schlafzimmerschränken nach, die unten als verkohltes Kleinholz lagen ...

 

Wieder Alarm … Nr. 6 steht noch. Am nächsten Abend allerdings nicht mehr, die obersten Stockwerke waren durch eine seitlich über das Bahngelände eintrudelnde Bombe wegrasiert, Mutter und ich hatten unter der Bahnhofsbrücke gestanden, und es hatte uns mit sanfter Hand langsam und beinahe bedächtig auf den Boden gedrückt. Vater war noch im Hausflur, und eine Wand hatte ihn getroffen, wir holten ihn heraus, er hustete und schimpfte und fing dann an zu weinen. Herr Keilbach, unser Zahnarzt in der Wexstraße, hatte unter Lebensgefahr aus der brennenden Wohnung sämtliche gebrauchten und ungebrauchten Rasierklingen gerettet, dabei wollte er eigentlich die goldene Uhr holen, und Mutter Blocken brühte in ihrem Ersatzheim Nr. 3 echten Bohnenkaffee auf und sagte: ‚Na, Hauptsache wir leben noch ...‘

 

Bernhardstraße 11 Ecke Wexstraße, um 1935. Archiv Ewald Mahr

Bernhardstraße Nr. 11

Familie Rudel

 

Auf dem Bebauungsplan von 1874 wird für das Grundstück entlang der damaligen Ringbahnstraße zwischen Kaiser-Platz und Prinzregentenstraße der Name Bernhard Wagner als Eigentümer genannt. 1890 wird das Areal parzelliert. Am 28. September 1901 meldet der Friedenauer Lokal-Anzeiger, dass die von der Ringbahnstraße aus nach dem Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau am Bahngelände entlang und dann wieder nach der Ringbahnstraße zurückführende U-förmige Straße dicht neben dem Eisenbahndamm bis zur Kaiserallee durchgelegt wird. Sie erhält am 24. August 1893 den Namen Bernhardstraße.

 

Mitte der 1890er Jahre entstehen in dem dreiteiligen Quartier viergeschossige Wohnhäuser: Im westlichen Teil der Bernhardstraße die Häuser Nr. 7A -10 (rechts) und Nr. 11-15 (links), zur Bahntrasse hin Nr. 5-7 sowie im östlichen Teil Nr. 1-4 (links) und Nr. 16-18A (rechts).

 

Im Adressbuch von 1895 wird für diverse Grundstücke in der Bernhardstraße als Eigentümer der Friedenauer Bauunternehmer Hermann Pählchen (1861-1895) aufgeführt. Da Pählchen im Alter von 34 Jahren am 27. Juli 1895 verstarb, kam es am 1. Oktober 1895 zu einer Zwangsversteigerung für die Baustelle Bernhardstraße Nr. 11 (Flächenraum 7,87 a, Nutzungswert zur Gebäudesteuer 8800 Mark), aus der die Frau des Fuhrherrn Franke, Albertine geb. Pohlmann, mit dem Gebot von 136.600 Mark als Meistbietende hervorging. 1896 war Kaufmann Johannes Rudel Eigentümer von Nr. 11.

 

1897 war das Eckhaus vollendet. Eingezogen waren Weinhandlung und Gastwirtschaft im Erdgeschoss, Familie Rudel und 10 Parteien. So blieb es bis zu den Bombenangriffen zwischen 1943 und 1945. Während Nr. 11 einigermaßen verschont blieb, wurden die Nachbarhäuser zerstört.

 

 

Nach Kriegsende wurde die Bernhardstraße zum Schwarzmarkt. Später wurden die Ruinen abgetragen und im Wiederaufbauprogramm West-Berlins mit Gebäuden des Sozialen Wohnungsbaus bebaut. Das letzte Gebäude in diesem Teil der Bernhardstraße mit der Nr. 14 vor dem Eingang zum S-Bahnhof Wilmersdorf wurde für den Bau der Stadtautobahn abgerissen, ebenso die übrigen Häuser entlang der Gleisanlagen sowie Nr. 48 und 49 der Prinzregentenstraße. Seitdem gibt es die zwei von der Wexstraße zu erreichenden Stummel-Teile der Bernhardstraße.

 

 

 

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Ewald Mahr, 2018

Ewald Mahr aus der Bernhardstraße

 

Als wir 2015 Friedenau – Geschichte & Geschichten präsentierten, trafen wir den Architekturhistoriker Dr. Peter Lemburg und den Diplomkaufmann Ewald Mahr. Beide Herren gehörten seit 2011 mit zu den Initiatoren der Bürgerinitiative Breslauer Platz. Wir wussten nicht, dass sie sich inzwischen von der Bürgerinitiative distanziert hatten, nachdem bemühte Laien das Zepter in die Hand genommen hatten und die berechtigten Einwände von Fachleuten und Anwohnern abtaten. Als sich die Bürgerinitiative Breslauer Platz dann auch noch aufschwang, für die irrsinnige Bebauung des Güterbahnhofgeländes zu plädieren, wurde es Ewald Mahr zu viel. In einem Schreiben vom 5. November 2015 an Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel erinnerte er diesen an seine frühere Forderung, bewachsene Randbereiche von Bahntrassen als Verbindungsbiotope und Grünverbindungszüge zu nutzen. Mahr plädierte nun vehement dafür, das Bauvorhaben aus klimatologischen Gründen zu verwerfen. Friedenau ist der am dichtesten bewohnte Ortsteil mit einem Defizit von 88 ha Grün-und Freiflächen.

 

 

Als sich die rot-grüne Zählgemeinschaft von Tempelhof-Schöneberg weigerte, die im Kleist-Park zwischengelagerten Rossebändiger für das Humboldt-Forum herauszurücken, wartete Ewald Mahr mit der Historie auf: Die ‚Rossebändiger‘ sind zwei Denkmäler, die sich von 1846 bis 1950 auf der Lustgartenterrasse des Berliner Schlosses befanden. Die vier Meter hohen Bronzefiguren sind ein Werk des Bildhauers Peter Clodt von Jürgensburg und waren ein Geschenk des Zaren Nikolaus I. für Friedrich Wilhelm IV. Nachdem das Schloss gesprengt worden war, wurden die Skulpturen 1950 im Kleistpark untergebracht. Bei den beiden Rossebändiger-Skulpturen handelt es sich nicht um irgendeinen Abguss. Es handelt sich um die Bronzegüsse von 1842, die ursprünglich für die St. Petersburger Anitschkov-Brücke geschaffen wurden. 2007 wurden beide Skulpturen restauriert und vorübergehend in den Gropius-Bau als Mittelpunkt der Ausstellung über die ‚Macht und die Freundschaft‘ zwischen Russland und Preußen gezeigt. St. Petersburg erhielt für seine Anitschkov-Brücke einen Nachguss. Noch einmal: Berlin besaß für das Königliche Schloss die Erstabgüsse, d. h. die beiden Originale, wo sie nach dem abgeschlossenen Wiederaufbau des Schlosses als Humboldtforum auch wieder hingehören. Keine Sorge: Preußen wurde durch Kontrollratsbeschluss abgeschafft. Also: Es ist eine Aufhebung des Beschlusses von Tempelhof-Schöneberg herbeizuführen! SPD und GRÜNE gaben nach.

 

Ewald Mahr kennt sich aus. Der geborene Wilmersdorfer weiß um die connections in Friedenau und Schöneberg. Kein Wunder, sein Großvater Johannes Rudel (1860-1930), seit 1887 mit Theresia geb. Buchold verheiratet, ist der Erbauer des Hauses Bernhardstraße Nr. 11. Dort wird Tochter Charlotte (1895-1948) geboren. Sie heiratet 1934 den Dentisten Hans Mahr (1878-1944). Ein Jahr später kommt am 20. Mai 1935 Sohn Ewald Mahr zur Welt. Der spätere Diplomkaufmann wird 1961 Mitarbeiter der TELEFUNKEN GmbH Berlin – eine schwierige Zeit, da die wesentlichen Geschäftsbereiche bereits Anfang der 1950er Jahre von West-Berlin nach West-Deutschland verlagert wurden. Der Schein wurde gewahrt, das Telefunken-Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz 1961 als Unternehmenssitz gefeiert. 1967 wurde TELEFUNKEN zu AEG-TELEFUNKEN mit Firmensitz Frankfurt am Main. 1977 wurde das Apparatewerk in der Ackerstraße geschlossen. Von da an ging es mit AEG-TELEFUNKEN bergab. Heute sind wir in Berlin ja völlig entindustrialisiert. In unserem Werk in der Sickingenstraße in Moabit ist heute das Arbeitsamt drin, das sagt doch schon alles. 33 Jahre, zuletzt als Personalleiter, hat Ewald Mahr bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand 1994 für TELEFUNKEN gearbeitet. Zum Gründungsjubiläum der Firma erschien 2003 das Buch TELEFUNKEN nach 100 Jahren mit den Beiträgen Im Kraftfeld von Zeitgeschehen – Zeitgeist – Erfindergeist und Entwicklung und Kraft der Marke TELEFUNKEN von Ewald Mahr – nichts von Nostalgie, eine Hommage an eine deutsche Weltmarke, die neben Digital Audio Broadcasting (DAB) und Farbfernsehsystem (PAL) über 20.000 Patente einbrachte.

 

1977 zieht Ewald Mahr mit seiner Ehefrau in die Dickhardtstraße. Früher hieß sie Ringstraße. 1967 wurde sie nach Konrad Dickhardt benannt, der von 1959 bis 1961 Schöneberger Bürgermeister war. Die Wohnung zu bekommen, war ein echter Krimi. Noch 1977 musste man sich in West-Berlin für die bisherige Wohnung vom Wohnungsamt einen Umsetzschein ausstellen lassen. Sonst war nichts mit Umzug. 2000 Mark wurden von einem Wohnungsvermittler auch noch abgeknöpft – und zitiert Günter Eich: Wer wollte leben ohne den Trost der Bäume. 2018 feierten sie Diamantene Hochzeit. Ihre Tochter Nicola wohnt noch immer im Haus Bernhardtstraße Nr. 11.

 

Familie Rudel, 1911. Archiv Ewald Mahr

Das Haus Bernhardstraße Nr. 11 wurde 1896 erbaut, hat den Weltkrieg überlebt und befindet sich bis heute im Besitz der Familie Rudel. Auf dem Foto von links nach rechts:

 

Waldemar Rudel (1898-1974)

Johannes Rudel (1860-1930), Großvater von Ewald Mahr.

Theresia Rudel geb. Buchold (1861-1940), Großmutter von Ewald Mahr.

Charlotte Rudel (1895-1948), verheiratet mit Hans Mahr, Eltern von Ewald Mahr (* 1935f)

Max Rudel (1892-1969)

Hans Rudel (1888-1966).


 

Bernhardstraße Nr. 14

 

Anfang September 2021 erhielten wir eine E-Mail von Herrn Andreas Brückmann zur Bernhardstraße. Er ist im 3. Stock des Hauses Nr. 14 aufgewachsen. Wir sind im Januar 1960 nach Lissabon gezogen, da mein Vater beruflich versetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war ich 10 Jahre alt.

Mehr als sechs Jahrzehnte später - nach einem halben Leben in Lissabon und Studium in Hamburg - erinnert sich der heute 72-jährige Andreas Brückmann an die Bernhardstraße.

 

 

 

Sein Großvater Alfred Riebisch übernahm nach dem Ersten Weltkrieg den Räucherwarenladen von E. & A. Nachuth, der seit 1915 in der Bernhardstraße Nr. 11 existierte. Die Wohnung der Großeltern befand sich gleich gegenüber im Haus Nr. 10 Ecke Wexstraße. Dieses Haus wurde im Zweiten Weltkrieg jedoch ausgebombt und brannte nieder, während meine Großeltern mit meiner Mutter im Keller waren. Kurz danach zogen sie in Nr. 14. 1945 konnte Riebisch sein 25-jähriges Firmenjubiläum feiern, inzwischen nicht nur Fische & Räucherwaren, auch Wild & Geflügel.

 

Nach den Erinnerungen von Andreas Brückmann wohnten im 4. Stock meine Großeltern Riebisch. In der Eckwohnung links daneben Familie Schacht mit Sohn Detlev. Darunter im 3. Stock wohnten wir, die Familie Brückmann mit Tochter und Sohn, und daneben das Ehepaar Jewe mit Sohn Ingo. Unter uns im 2. Stock wohnte die Familie Neumann mit Tochter Edith und Sohn Gerald, mit dem ich befreundet war. An die Bewohner der danebenliegenden Eckwohnung kann ich mich nicht erinnern. Im 1. Stock war ein Büro, so glaube ich. Im Erdgeschoss von Nr. 11 waren Läden, an der Ecke ein Zigarrengeschäft, links daneben gab es Zeitungen mit Lotto-Annahme. Das Geschäft hieß Bücher-Schrank. Ich erinnere mich an den Herrn Schrank mit den schwarzen Händen von der Druckerschwärze. Nach links das Geschäft meiner Großeltern Riebisch, noch weiter links, schon Nr. 12, die Bäckerei Porath (es gab zwei Bäckereien in der Straße Porath und Semisch) und die Fleischerei Hermann Schupeta.

 

 

 

 

Von unserem Balkon im dritten Stock von Nr. 14 gab es den Blick auf den Ringbahnhof Wilmersdorf und das Haus gegenüber, in welchem Hildegard Knef wohnte und ihr Stiefvater Wilhelm Wulfestieg seine Schuhmacherei hatte. Meine Mutter Traude war mit Hildegard Knef befreundet. Da meine Großeltern den Urlaub an der Ostsee verbrachten, nahmen sie meine Mutter und Hildegard mit. Vielleicht ist in der Erinnerung an diese Zeit das Ostseelied entstanden, in dem es heißt: Gib mir noch einmal den Strand meiner Kindheit, Mit Muscheln und Bernstein auf trockenem Weiß. Gib mir den salzigen Wind meiner Ostsee, Das Jammern der Möwe, die hoffnungsvoll kreist. Gib mir die Molen mit moosgrünen Beinen und Wellen, Die singen ihr endloses Lied. Gib mir die Farben, die still sich vereinen, Den Atem der Kindheit, Der lautlos entflieht.

 

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Erlebnisberichte aus der Bernhardstraße von 1943 und 1945

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Bernhardstraße Nr. 16/17

Regina Dienstag (1869-1942)

 

Wenn sich die Stolperstein-Initiative damit hervortut, dass in Charlottenburg-Wilmersdorf aktuell 3484 Stolpersteine verlegt wurden, der tausendste im Jahr 2010, der zweitausendste 2013 und der dreitausendste 2017, dann desavouiert sie mit dieser Erfolgsmeldung ihr ureigenstes Anliegen, die wahrhafte Erinnerung an die von den Nationalsozialisten ermordeten, deportierten und vertriebenen Menschen.

 

Wenn dann auch noch der Stolperstein für Regina Dienstag am 16. Oktober 2012 nicht vor ihrem ehemaligen Wohnhaus in der Bernhardstraße Nr. 16, sondern unmittelbar neben einem gusseisernen Gullideckel vor dem Haus Nr. 17 gesetzt wird, weil Nr. 16 wie auch Nr. 3 bis 7A und Nr. 14 bis 17 für den Bau des Autobahnstadtrings 1964 abgerissen wurden, stellt sich die Frage, ob diese Aktion überhaupt sinnvoll war. Dazu kommt, dass auf dem Stein vor Nr. 17 zu lesen ist: HIER WOHNTE REGINA DIENSTAG. Was nicht stimmt und was vor Ort auch nicht näher erläutert wird.

 

Wer dann doch mehr über das Leben von Regina Dienstag wissen möchte, findet den larmoyanten Text des Stolpersteinspenders und nichts über Regina Dienstag. Die Stolperstein-Initiative ersparte sich die Mühe, eigene Recherchen anzustellen. Zugegeben, die Datenbank von Yad Vashem gibt nicht viel her, und basiert wohl nur auf der Häftlingsliste des Lagers Theresienstadt: Regina Dienstag, 1869 geboren. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte sie in Berlin. Während des Krieges war sie in Berlin und wurde mit Transport I/7 am 16/06/1942 von Berlin nach Theresienstadt Ghetto deportiert.

 

Dem Berliner Adreßbuch von 1898 ist zu entnehmen, dass in dem gerade entstehenden Quartier Bernhardstraße im Haus Nr. 16 & 17 mit der Posamentwarenhandlung A. Dienstag 1898 ein Paradies für die Damenwelt eröffnete, wo es Zierbänder, Borten, Kordeln, Litzen, Quasten, Volants, Spitzen und überzogene Knöpfe gab. In den folgenden Jahren heißt es:

 

1899 Posamentwarenhändlerin S. Dienstag

1900 Kaufmann A. Dienstag

1901 S. Dienstag, Putzwarenhändlerin.

1905 A. Dienstag Kaufmann

1914 A. Dienstag Kaufmann

1921 Dienstag, Geschw.

1925 Dienstag, S., Frl.

1935 Dienstag, S., Privatiere

 

Die Namen Georg und Else Marcuse, die 1920 mit ihrer Tochter Rosemarie bei den Schwestern Dienstag eingezogen sein sollen, ist im Adressbuch bis 1933 nicht verzeichnet. Ab 1938 taucht der Name Dienstag nicht mehr auf. Dass Verwaltung und Akten den Übergang vom NS-Staat zur Bundesrepublik überlebten, zeigt 1963 das Grundbuchamt Wilmersdorf mit dem Bebauungsplan für die Stadtautobahn. Für die Bernhardstraße waren die Eigentümer von Nr. 14 (Wilhelm Herrmann, Vers. Angest. und Miteigentümer), Nr. 15 (Johanna Nahls geb. Schubert), Nr. 16 (Berlin, Bezirksamt Wilmersdorf) und Nr. 17 (Ottomar Wolf, Direktor) bekannt. Die Stolperstein-Initiative von Charlottenburg-Wilmersdorf hätte also durchaus recherchieren können.

 

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Stolperstein für Regina Dienstag

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