Grab Gerald Humel. Foto Hahn & Stich, 2016

Gerald Humel (1931-2005)

 

Bunter hätte die Gruppe Neue Musik Berlin nicht zusammengewürfelt sein können: Ein Berliner, ein Hesse, ein Rheinländer, ein Engländer aus Southampton und ein Amerikaner aus Cleveland als Sohn tschechischer Eltern. Obwohl der Komponist Boris Blacher (1903-1975) an der Hochschule für Musik Komposition lehrte und zur Leitfigur der Neuen Musik wurde, fand Zeitgenössisches in den fünfziger und sechziger Jahren in West-Berlin kaum statt.

 

Um ihre Werke einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen, gründeten Gerald Humel, Roland Pfrengle, Wilhelm Dieter Siebert, Jolyon Brettingham-Smith und Karl Heinz Wahren 1965 die Gruppe Neue Musik Berlin. Als es nach 1970 gelang, gut alimentierte Berliner Kulturinstitute wie die Deutsche Oper oder die Akademie der Künste über die Berliner Festwochen zum allseitigen Nutzen zu „verknüpfen“, profitierte davon auch die finanziell minderbemittelte Gruppe Neue Musik Berlin. Unter diesem Marketingbegriff prägte sie das musikalische Klima der Stadt in den siebziger und achtziger Jahren wesentlich mit – als einzelne Komponisten und als Gruppe. „Wir wollten aus diesem Kunsttempel-Denken raus, die Angst vor neuer Kunst abbauen.“

 

Für den Anfang könnte Gerald Humel stehen, der in Zusammenarbeit mit dem Tänzer Gerhard Bohner (1936-1992) die Ballettkomposition für die blutrünstige Geschichte Die Folterungen der Beatrice Cenci schuf, die bei der Uraufführung in der Akademie der Künste 1971 für Furore sorgte und Bohner als Choreographen über Nacht berühmt machte. Für den nächsten Paukenschlag sorgte Wilhelm Dieter Siebert (1931-2011) mit der Multi-Media-Oper für Sänger, Schauspieler, Kammerorchester, Rockband, Projektionen und Filmen und den Songtexten von Yaak Karsunke Frankenstein, der neue Arbeitnehmer, UA 1974 in der Akademie der Künste. 1976 gelang es Karl Heinz Wahren (geboren 1933), die Deutsche Oper als Produzent für seine Opera buffo Fettklößchen nach der Novelle von Guy de Maupassant zu gewinnen: Libretto Claus H. Henneberg (1936-1998), Regie Winfried Bauernfeind (geboren 1935), Bühnenbild Martin Rupprecht (1937-2018), UA im Theatersaal der Hochschule der Künste in der Fasanenstraße. 1984 folgte mit Roland Pfrengle (geboren 1945) mit „Kometentanz“ nach der astralen Pantomime von Paul Scheerbart (1863-1915). Das Ballett für 12 Tänzer und Live-Elektronik mit Kompositionen von Bernd Alois Zimmermann und Roland Pfrengle in einer Choreographie von Gerhard Bohner wurde 1984 in der Akademie der Künste uraufgeführt. Bleibt noch Jolyon Brettingham-Smith (1949-2008). Er kam 1970 zur Gruppe Neue Musik – als Bratschist, war auch noch Komponist, Dirigent, Darsteller, Autor, Hochschullehrer an der Hochschule der Künste und vor allem mit seinen Musiksendungen Klassikforum (WDR3), Klassik zum Frühstück (SFB) und Musikalisches Quartett (SWR) ein humorvoller und selbstironischer Moderator mit profunder Fachkenntnis – bis zum letzten Atemzug. „So schließt sich der Kreis", waren am 13. Mai 2008 seine letzten Worte im Kulturradio (RBB). Dann legte er La Mer von Claude Debussy auf, lehnte sich im Drehstuhl zurück und fiel zu Boden.

 

Der eine fand den Tod am Mikrofon, der andere, Gerald Humel, am 13. Mai 2005 auf dem Flug von Italien nach Berlin. Er, der am Oberlin Conservatory (USA) und am Royal College of Music London Musik studiert hatte, Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern, Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew bewunderte, war 1961 über das deutsch-amerikanische Fulbright-Stipendium nach Berlin gekommen. An der Hochschule für Musik schrieb er sich für den Unterricht bei Boris Blacher (1903-1975) und Josef Rufer (1893-1985) ein, wohnte ab 1970 in der Charlottenburger Fredericiastraße Nr. 15, ab 1991 in der Claudiusstraße Nr. 12 im Hansaviertel und später auch in Dünsche, dem Alterssitz im Wendland.

 

Gerald Humel hat ein umfangreiches Werk mit Kompositionen für Oper, Orchester, Kammermusik und  Gesang hinterlassen. Ohne dieses kompositorische Schaffen in Abrede stellen zu wollen, in Erinnerung geblieben sind die Tanztheaterproduktionen Die Folterungen der Beatrice Cenci (1971), Lilith (1972) und Zwei Giraffen tanzen Tango (1980), die in Zusammenarbeit mit dem Choreographen Gerhard Bohner entstanden.

 

Humels Liebe gehörte dem Tanz. Für ihn war die Ballettmusik die wichtigste Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeint hat er damit Igor Strawinsky, L’Oiseau de feu (1910), Petruschka (1911), Le sacre du printemps (1913), Pulcinella (1920), vielleicht noch Sergei Prokofjew mit Romeo und Julia (1935) und Cinderella (1940), oder auch Arnold Schönberg, der dem Choreographen Antony Tudor schließlich 1942 die Verwendung seiner Verklärten Nacht für das Ballett Pillar of Fire des American Ballet Theatre autorisierte.

 

Gerald Humel hat insgesamt acht Ballette geschrieben, sieben davon in Berlin: Devil’s Dice – Ballett in einem Akt (1956); Erste Liebe (UA 1965); Herodias (UA 1967, Staatstheater Braunschweig, Choreographie Manfred Taubert); Die Folterungen der Beatrice Cenci (UA 1971, Akademie der Künste, Ch. Gerhard Bohner); Lilith (UA 1972, Akademie der Künste, Ch. Gerhard Bohner); Othello und Desdemona (1974, UA 1982 Theater Aachen); Zwei Giraffen tanzen Tango (UA 1980, Theater Bremen, Ch. Gerhard Bohner); Circe und Odysseus (UA 1993, Komische Oper, Ch. Arila Siegert).

 

Humels Ballett „Othello und Desdemona“ entstand 1974 ursprünglich als Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper nach einem Libretto von John Neumeier. Da die Bühnenrechte beim Theaterverlag Berlin liegen, beeilte sich Verleger Michael Merschmeier mitzuteilen, dass Humel das Werk womöglich den Weg zu einer Weltkarriere hätte eröffnen können. Doch John Neumeier verwarf die brisante Ballettmusik – verhinderte lange Zeit sogar ihre szenische Interpretation und trieb damit den Komponisten selbstherrlich in den Ruin. Man kann auch übertreiben, ganz so schlimm kam es nicht. 1982 wurde das Ballett am Stadttheater Aachen uraufgeführt, 1985 nahm die Komische Oper Berlin das Stück zur DDR-Erstaufführung an.

 

Gerald Humel wurde auf dem Friedhof Stubenrauchstraße bestattet. Die Grabstele gestaltete der Bildhauer Georg Seibert (1939-2017), ein Rostbildwerk, auf das Seibert obendrauf eine Variante „seines Hauses“ gesetzt hat, und mit der er auch hier seinem Thema Haus treu bleibt: Das Haus ist unsere zweite Haut, und erscheint bei Seibert in zahlreichen Formen, die u. a. in der Neuen Nationalgalerie, Berlinischen Galerie, Neuer Berliner Kunstverein und Sammlung Bundesrepublik Deutschland vertreten sind.