Ottomar Anschütz (1846-1907)

Wieder Ehrengrabstätte des Landes Berlin

 

 

Auf Grund der über Jahre anhaltenden vehementen Proteste über den Zustand des Grabes von Ottomar Anschütz sah sich der Senat von Berlin am 6. November 2018 gezwungen, die im Jahr 2009 aufgekündigte und vom Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg dem Verfall preisgegebene Grabstätte wieder zur Ehrengrabstätte zu erheben (Abt. 31/23-24). Der braune Stein mit dem Landeswappen und der Aufschrift Ehrengrab Berlin liegt und der Grabstein wurde gereinigt.

 

 

Ich bin entsetzt...

 

… „über die Vorgänge in Berlin. Wie kann man eine Persönlichkeit wie Ottomar Anschütz aus der Ehrengräberliste streichen? Anschütz war der erste Photograph der Welt, der fliegende Störche photographierte, die ersten Kinovorstellungen in Berlin ermöglichte, die erste Pressekamera erfand, die ersten Flugversuche von Otto Lilienthal auf dem Fliegeberg in Lichterfelde dokumentierte und, und, und …“

 

Es geht um Ottomar Anschütz (1846-1907) und dessen Urenkel Holger Anschütz, der 1997 begonnen hatte, „für seine Enkel die Geschichte der Familie Anschütz“ zu dokumentieren. Während der Recherchen erreichte ihn die Nachricht, dass der Berliner Senat mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen das Grab von Ottomar Anschütz auf dem Friedhof Stubenrauchstraße 2009 aus der Ehrengrabliste gestrichen hat und das zuständige Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg die Grabstätte von 1907 umgehend sich selbst überlassen hat. Die Proteste waren erheblich, aber Senat und Bezirksamt stellten sich taub.

 

Das Umdenken setzte 2016 ein, als die überregionale Presse verkündete, dass die Kunstbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die seit dem Weltkrieg verloren geglaubten „Fuchs-Bilder“ von 1886 wieder aufgetaucht sind. Ein halbes Jahr später erinnerte die Deutsche Post mit der im „Comic-Stil“ gestalteten Sonderbriefmarke „125 Jahre erster Gleitflug Otto Lilienthal“, wo genau jenes Motiv benutzt wurde, das Ottomar Anschütz 1894 am Fliegeberg als Photographie geschaffen hatte.

 

Am 6. November 2018 kam die Mitteilung, „dass der Senat von Berlin in seiner heutigen Sitzung mit Senatsbeschluss Nr. S-1667/2018 die Anerkennung der Grabstätte von Ottomar Anschütz (wieder) als Ehrengrabstätte des Landes Berlin für die Dauer von 20 Jahren beschlossen hat. Die Grabstätte wird in nächster Zeit als Ehrengrabstätte in der üblichen Form (brauner Stein mit Landeswappen und der Aufschrift „Ehrengrab Berlin“) kenntlich gemacht werden. Tempelhof-Schöneberg wird gebeten, am Eingang einen Hinweis auf die Grabstätte aufzunehmen.

 

Das kann es nicht gewesen sein, denn diese Anerkennung bedeutet nur die Kostenübernahme für die Grabpflege, nicht aber die Restaurierung der Grabstätte in den ursprünglichen Zustand von 1907. Bereits am 18.08.2016 hatte das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg die Senatskanzlei wissen lassen, dass „ggf. Herrichtungskosten (Ketten Einfriedung ergänzen + Reinigung) von ca. 2000 Euro“ anfallen. Am 07.06.2018 teilte Bezirksstadträtin Christiane Heiß vorsorglich mit, dass „das Bezirksamt keine Möglichkeit sieht, eigene Instandsetzungsarbeiten durchzuführen. Sollte die Grabstelle den Ehrengrabstatus erhalten, können die erforderlichen Mittel im Rahmen einer Basiskorrektur zur Verfügung gestellt werden“. Wer stellt die Mittel zur Verfügung? Was beinhaltet „Basiskorrektur“?

 

Ein Rückblick: Ottomar Anschütz war 1899 in die Wielandstraße Nr. 33 gezogen. Am 6. Februar 1907 hielt er vor der Friedenauer Ortsgruppe des Deutschen Flottenvereins einen Lichtbildervortrag über „Die deutschen Ordensritter und ihre Burgen". Am 2. Juni 1907 verstarb „Ottomar Anschütz nach nur fünftägiger Krankheit infolge einer Operation im Schöneberger Krankenhause im 63. Lebensjahr“. Am 5. Juni 1907 fand „auf dem hiesigen Friedhof die Beerdigung statt. Die Gedächtnisrede hielt Herr Pfarrer Görnandt. Ottomar Anschütz erhielt ein Ehrengrab der Gemeinde Friedenau Grablage 31/23-24).

 

 

Ottomar Anschütz. Archiv Familie Anschütz

Wer war Ottomar Anschütz?

 

Ottomar Anschütz wurde am 16. Mai 1846 in Lissa (Posen) als Sohn des Portrait- und Dekorationsmalers Christopher Berthold Anschütz geboren. Zwischen 1864 und 1868 absolvierte er eine Lehre bei den Photographen Ferdinand Beyrich in Berlin, bei Franz Hanfstaengl in München und bei Ludwig Angerer in Wien. 1868 übernahm der Junior das Unternehmen. Schon bald kam ein Fotoatelier hinzu. Fortan hieß es: „C. B. Anschütz Atelier für Photographie. Lissa, Storchnester Straße 105“.

 

Da Portraits Zeit in Anspruch nahmen und Geduld der Kunden erforderten, „bastelte“ er an einer schnelleren Lösung – der „Fallbrettverschluss“ vor der Linse, aus dem letztendlich der „Schlitzverschluss“ hervorging. Mit kürzeren Belichtungszeiten konnte Anschütz fortan einzigartige Aufnahmen erstellen. Dazu gehören seine Photographien vom „Kaisermanöver“, „Grundsteinlegung des Reichstagsgebäudes in Berlin (9. Juni 1884)“ sowie „Beisetzung von Kaiser Friedrich III. (16. März 1888)“.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Momentaufnahmen

 

Mit einer Ausstellung von 120 Momentbildern weckte er 1886 das Interesse des Militärs. An der Reitakademie Hannover setzte er für Bewegungsstudien von Pferd und Reiter 24 Kameras ein. Es entstanden Reihenphotographien als Instruktionsmaterial der Militärakademie. Mit der Möglichkeit, Reihenphotographien in kurzer Zeitfolge zu erstellen, schuf Anschütz seine weltberühmten Photoserien: Die „Fuchsbilder“ (1887) und die „Storchenbilder“ (1894). Nachdem Otto Lilienthal (1848-1896) in Lichterfelde einen Hügel für seine Flugversuche hatte aufschütten lassen, eilte Ottomar Anschütz zum „Fliegeberg“. Im Jahr 1894 entstanden – „nach dem Leben aufgenommen“, wie es auf den auf Karton montierten Abzügen von Anschütz hieß – ganze Serien von Flugaufnahmen, mit denen beide, der Luftfahrtpionier und der Photopionier für Aufsehen sorgten. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Momentaufnahme zum historischen Begriff für kurze Belichtungszeiten. Mit der Erfindung des „Schlitzverschlusses“ konnte Anschütz nun eine Vielzahl von individuellen Aufnahmen in einzelnen Bewegungsabläufen in sehr kurzen Abständen herstellen, sie in Phasen zerlegen und sichtbar machen.

 

Elektrischer Schnellseher. Archiv Familie Anschütz

Kinematographie

 

Der erste Schritt zur Kinematographie war getan. Er entwickelte ein Gerät zur Projektion seiner Reihenbilder. Dieses bestand aus einer Scheibe von 1,5 m Durchmesser und 24 Glasplatten im Format 9 x 13 cm. Die von hinten beleuchteten Photoplatten wurden durch einen Kurbelantrieb mit einer Geschwindigkeit von 30 Bildern pro Sekunde rotiert. Siemens & Halske übernahm die kommerzielle Fertigung des „Elektrischen Schnellsehers“, aus dem auch noch ein Groschenautomat wurde – mit exklusiven Vertriebsrechten in den USA. Dem „Schnellseher“ folgte 1894 das „Elektrotachyscop“. Mit diesem Projektionsapparat konnten bewegte Bilder in Lebensgröße auf eine 6 x 8 Meter große Leinwand projiziert werden. Die Geburtsstunde des Kinos.

Anschütz Reflex Camera No. 6.

Jalousieverschluss

Anschütz & Goerz

 

Am 27. November 1888 wurde die Kamera mit dem vor der Bildebene liegenden Jalousieverschluss unter „D.R.P. No. 49919“ als Patent eingetragen. Die Friedenauer Optische Anstalt C.P. Goerz erwirbt daraufhin das Recht auf Alleinfabrikation. Im Laufe der Zeit erfolgen weitere Verbesserungen, mit denen Belichtungszeiten von 1/1000 Sekunden möglich wurden. Dafür stehen die Begriffe Rolltuch-Schlitzverschluss, Rouleau-Verschluss, Jalousieverschluss. Die „Goerz-Anschütz-Moment-Camera“ wurde die erste Schlitzverschlusskamera der Welt und bis 1927/28 produziert – jedes Exemplar signiert mit dem Faksimile-Schriftzug von Anschütz auf dem Verschlusstuch: „Ottomar Anschütz Lissa (Posen) D.R.P. No. 49919“.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ottomar Anschütz in Berlin

 

1888 eröffnete Ottomar Anschütz in der Charlottenstraße Nr. 59 sein erstes Photostudio in Berlin. 1896 erfolgte der Umzug nach Berlin W. 66, Leipziger Straße Nr. 116. Entstanden waren Kaufhaus und Unterrichtsinstitut für Amateurphotographie mit Verkaufsraum für photographische Apparate und Bedarfsartikel, Ausstellungssaal und Photolabor für das Entwickeln von Platten und Filmen. Die Werbung in den Adressbüchern: „Inh. d. Kgl. Preuß. Staatsmedail., von 4 Ehrendiplomen u. 12 ersten Preisen. Spec. Moment- Sport- u. Architect. Aufnahm. Vergrößerung v. Bilder aller Art bis Lebensgröße. Unterr. Anst. f. Amateure u. Ausf. Aller photogr. Arbeiten.“

 

Selbstverständlich waren dort auch jene Publikationen zu erwerben, die er in seinem 1885 gegründeten Verlag publiziert hatte – um die Fülle seiner Momentaufnahmen zu vermarkten: Erschienen sind Eröffnung des Kaiser Wilhelm Kanals (1895), Die Marienburg i. Pr. - Das ehemalige Haupthaus der deutschen Ordensritter, Erinnerung an Alt-Berlin (1896), Die Verheerungen der Eglitz und Lomnitz in Schmiedeberg und Krummhübel (1897), Palästinareise (1898), Augenblicksbilder. Eine Sammlung von Momentphotographien, Die Photographie im Hause. Lehrbuch für Amateure (1902), Cadinen. Sommeraufenthalt der deutschen Kaiserfamilie (1903). Wenige Wochen vor seinem Tod am 30. Mai 1907 hatte der erst 62-Jährige Ottomar Anschütz neue Geschäftsräume mit einem Photoatelier in der Potsdamer Straße Nr. 4 eröffnet.