Ausflug mit dem Friedenauer Gymnasium, 1908. Felix und Karl Kautsky jr. links liegend. Quelle IISG

 

Namhafte Schüler des Gymnasiums

Felix, Karl jr. & Benedikt Kautsky

 

Der Friedenauer Lokal-Anzeiger veröffentlichte am 6. April 1909 den 9. Jahresbericht des Gymnasiums am Maybachplatz. Diesem ist zu entnehmen, daß im Schuljahr 1908 die Schülerzahl bei den 12 Klassen 389 und bei den 6 Klassen der Vorschule 275 betrug. Beim Schulausflug am 2. Juni 1908 besuchten fast alle Klassen die Schiffbauausstellung. Die Primaner besichtigten außerdem unter Leitung des Oberlehrers Winkler das hiesige Elektrizitätswerk, die Bildgießerei von Noack und die Gasanstalt in Schmargendorf. Im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte Amsterdam existiert ein Foto von diesem Ausflug, beschriftet mit On a trip with the Friedenauer Gymnasium, Felix and Karl laying left. Außerdem ließ das Blatt wissen, daß die Oberprimaner Felix Kautsky (gewählter Beruf Elektrotechnik) und Karl Kautsky (gewählter Beruf Medizin) Ostern 1909 die Reifeprüfung bestanden haben.

 

Das war bisher nicht bekannt. Felix, Karl jr. und später auch Benedikt Kautsky müssten bis zur Eröffnung des Gymnasiums 1903 die Höhere Knabenschule in der Albestraße besucht haben. Sie gehörten zu den ersten Schülern des Friedenauer Gymnasiums am Maybachplatz. Bevor sie sich von dort verabschiedeten, gaben sie Rosa Luxemburg 1908 einige Bücher über Afrika, darunter Erwerbung Deutsch-Ostafrikas (Joachim von Pfeil), Reise im Sudan 1875 (Wilhelm Junkers) und Sudanneger (Philipp Paulitschke).

 

Vater Karl Kautsky (1854-1938) und Mutter Luise geb. Ronsperger (1864-1944) waren 1890 von London nach Stuttgart in den III. Stock der Rothebühlstraße Nr. 64 gezogen. Neun Jahre später wurde er Redakteur der Neuen Zeit und mietete 1899 eine Wohnung im II. Stock der Hauffstraße Nr. 11 in Schöneberg. Ein Jahr später lautete die Adresse Schöneberg, Wielandstraße Nr. 24 (II. Stock). Luise Kautsky blieb offensichtlich vorerst in Stuttgart, wo jeweils die Söhne Felix (1891-1953), Karl jr. (1892-1978) und Benedikt (1894-1960) geboren wurden. 1901 wurde in Friedenau eine herrschaftliche Wohnung mit 6 Zimmern, Küche, Bad, Loggia und Mädchenkammer gemietet. Im Adreßbuch eingetragen: Kautsky, Karl, Schriftsteller u. Redacteur d. Neuen Zeit, Friedenau, Saarstraße 19, III.

 

Hier wohnten schließlich das Ehepaar Kautsky mit den Söhnen Felix, Karl jr., Benedikt und die Dienstmagd Crescentia Wetschenbacher (1869-1922) und zwischendurch auch Kautskys Mutter Minna (1837-1912). In dieser Wohnung fanden auch die von Rosa Luxemburg zitierten Sonntagsgesellschaften der Parteiprominenz um August Bebel und Franz Mehring statt.

 

Recherchen über das Privatleben der Kautskys während der Friedenauer Jahre sind mühsam. Das mag auch daran liegen, daß der SPD-Parteivorstand 1933 ins Exil gehen und das Archiv aus finanziellen Gründen an das Institut für Sozialgeschichte Amsterdam verkaufen musste. Nach dem Tod von Karl Kautsky 1938 übergab die Witwe auch den privaten Nachlass. Erhalten ist eine Aufnahme von ca. 1900 mit dem Blick aus der Loggia auf die gegenüberliegenden Mietshäuser der Saarstraße: From left to right: Felix; Karl jr. Next to unknown woman: Benedikt. Bei der Unbekannten dürfte es sich um die Dienstmagd Crescentia Wetschenbacher handeln.

 

Weitere Aufnahmen aus den Friedenauer Jahren entstanden im Atelier Krüger & Skowranel in Berlin, Unter den Linden: From left to right: Felix, Karl jr. and Benedikt (1900?), From left to right: Felix, Karl jr. and Benedikt /1903, Winter) sowie From left to right: Felix, Benedikt an Karl Junior (1906?). Ein weiteres Foto befindet sich im Schweizerischen Sozialarchiv Zürich, wiederum aufgenommen in der Loggia im III. Stock der Saarstraße Nr. 19, beschriftet mit Malerin (Rosa Luxemburg) und Modell (Karl Kautsky jr.), Weihnachten 1907.

 

1908 zogen die Kautskys mit den Söhnen und Crescentia Wetschenbacher in den III. Stock der Niedstraße Nr. 14. Nach wie vor kam Rosa Luxemburg, nun aber mäkelnd über einen richtigen Familienabend mit Zeitungsschmökern bei Tisch und jüdischen Witzen von Bendel (Benedikt) und Fresserei der beiden anderen. Ich war so erdrückt von der bleiernen Öde, daß ich kein Wort hervorwürgen konnte. Felix und Karl jr. sind mir ganz lieb, der Jüngste aber (Benedikt), der allen so gefällt, ist mir am wenigsten sympathisch mit seinem breiten trivialen Gesicht.

 

Felix besucht mich jetzt oft, ganz allein, einmal ist er auch zum Abendbrot geblieben. Er ist so drollig, er weiß selbst nicht, was er reden soll. Rosa Luxemburg erkennt nicht, daß aus dem Schulbuben ein junger Mann mit Bedürfnissen geworden ist. Sie schaut sich mit Felix den Postillion von Lonjumeau an, ein Plädoyer für Bigamie, und wundert sich dann, daß Felix und Karl jr. sie unausgesetzt mit Fragen nach Kostja Zetkin plagen. Wohl nicht grundlos, da nicht nur am Gymnasium gemunkelt wurde, daß es eine Liebesaffäre der 36-Jährigen mit dem 22-Jährigen Sohn ihrer Freundin Clara Zetkin geben soll. Was geheim gehalten werden sollte, war nun öffentlich. Von alldem Geklatsche, das da herumschwirrt bei Kautskys habe ich einen solchen Degout, daß ich mir vorgenommen habe, gar nicht mehr hinzugehen.

 

Das hatte sich bald von selbst erledigt. Es kam zum politischen und persönlichen Zerwürfnis zwischen Rosa Luxemburg und Karl Kautsky. Nachdem die Söhne aus dem Haus waren, zogen Karl und Luise Kautsky mit Crescentia Wetschenbacher 1914 in den 4. Stock der Windscheidtstraße Nr. 31 in Charlottenburg. 1917 wurde der 23-jährige Benedikt zum Militär eingezogen. Mutter Luise versammelte ihre Männer im Wertheim-Atelier zum letzten Berliner Familienfoto: From left to right: Felix, Benedikt (in Uniform), Luise, Karl and Karl Junior. Am 19. Juni 1922 starb Crescentia Wetschenbacher – nach fast drei Jahrzehnten im Dienst der Familie. Karl (70) und Luise (60) zogen 1924 nach Wien, wo sich inzwischen auch die Söhne niedergelassen hatten.

 

Felix Kautsky, 1917. Quelle IISG

Felix Kautsky (1891-1953)

 

Felix Kautsky wurde am 14. Februat 1891 in Stuttgart geboren ging wohl erst einmal dort zur Schule. 1903 kam der Wechsel auf das Friedenauer Gymnasium am Maybachplatz. Sein technisches Interesse könnte dort geweckt worden sein. Es gab Klassen für Naturwissenschaften, Chemie und Physik, mit Apparatenraum, Dunkelkammer, astronomischem Observatorium und die Möglichkeit, vom Lehrertisch aus sämtliche Fenster auf einmal zu verdunkeln. Nach der Reifeprüfung studierte er in Berlin Elektrotechnik. Der Diplomingenieur erarbeitete für den Zentralbildungsausschuss der SPD einen Vortrag mit 75 Lichtbildern über die Dampf-Lokomotive. 1917 kam das Militär – und das letzte gemeinsame Familienfoto aus Berlin. Nach dem Krieg zog er nach Wien. Erhalten sind Passfotos von 1924 für Presseausweis und Führerschein. Unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht und dem Anschluss Österreichs emigrierte Felix Kautsky mit Ehefrau Martha geborene Müller im März 1938 über Großbritannien in die USA. Am 3. Februar 1953 ist er in Los Angeles verstorben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Karl Kaustsky jr., Foto Atelier Wertheim. Quelle IISG

Karl Kautsky jr. (1892-1978)

 

Karl Kautsky jr. wurde am 13. Januar 1892 in Stuttgart geboren und kam um 1901 nach Friedenau. Nach der Reifeprüfung begann er 1909 mit dem Medizinstudium in Berlin, dem weitere Semester in Frankfurt am Main und Wien folgten. Nach seiner Promotion heiratete der Assistenz-Arzt und Doktor der Medizin Karl Johann Kautsky (Dissident), wohnhaft in Prag, am 23. Juni 1918 in Frankfurt am Main Auguste Emma Charlotte Kobelt (Dissident), geboren am 9. Dezember 1892 zu Berlin, wohnhaft in Frankfurt am Main, Cranachstraße 18, Tochter der Privatiere Maria Auguste Luise Kobelt, wohnhaft in Montevideo. Der Militärarzt der österreichisch-ungarischen Armee trat 1918 der SDAP bei. 1919 wurde er Arzt im Amt für Gesundheitswesen und Leiter der Eheberatungsstelle der Gemeinde Wien. 1934 war er als praktischer Arzt tätig. Nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich verlor er seine Praxis und wurde inhaftiert. 1939 erfolgte seine Ausweisung aus Österreich. Er emigrierte über Schweden in die USA. Nach der Ankunft in New York am 6. April 1940 wurden Karl (48), Ehefrau Charlotte (41) und die Töchter Hilde (19) und Ilse (18) als German mit dem letzten Aufenthaltsland Austria registriert. Die Familie zog nach Kalifornien. Karl Kautsky jr. trat dem Jewish Labor Comitee bei und wurde Arzt in einer Gemeinschaftspraxis. Ab 1964 war er als Gynäkologe, Übersetzer und Publizist tätig. Er starb am 15. Juni 1978 in Napa, Kalifornien.

 

 

 

 

 

Benedikt Kautsky nach der Entlassung aus dem KZ Buchenwald, 1945

Benedikt Kautsky (1894-1960)

 

Benedikt Kautsky kam am 1. November 1894 als dritter Sohn von Karl und Luise Kautsky zur Welt und lebte danach mit Eltern, Brüdern und Haushälterin Crescentia Wetschenbacher in Friedenau – zuerst Saarstraße Nr. 19, nach dem Umzug der Familie ab 1908 im III. Stock der Niedstraße Nr. 14. Er studierte an der Universität Berlin Ökonomie und promovierte dort zum Dr. rer. oec. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1917 zeigt ihn in Uniform. Unmittelbar danach kam er an die Front. 1918 desertierte er und flüchtete nach Wien. 1921 heiratete er die Lehrerin Gerda Brunn (1995−1960).

 

Kautsky war Sekretär des stellvertretenden Parteivorsitzenden der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) Otto Bauer. Von 1921 bis 1938 war er als Sekretär der Wiener Arbeiterkammer und seit 1923 als Herausgeber der Zeitschrift Arbeit und Wirtschaft tätig. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland wurde er im März 1938 verhaftet. Er kam in das KZ Dachau, später in das KZ Buchenwald, im Oktober 1942 in das KZ Auschwitz III Monowitz und von dort wieder zurück nach Buchenwald. Dort gehörte er zu den Sozialdemokraten, die mit Kommunisten im Februar 1945 das Volksfrontkomitee Buchenwald bildeten. Kautsky war Mitunterzeichner des Buchenwalder Manifests. Im April 1945 wurde er befreit. Er verbrachte insgesamt sieben Jahre in Konzentrationslagern. Seine Erlebnisse verarbeitete er 1946 in dem Buch Teufel und Verdammte.

 

Nach der Befreiung aus dem Lager lebte Kautsky zunächst von 1945 bis 1950 in Zürich. Danach kehrte er nach Österreich zurück und arbeitete als Privatdozent an der Universität Graz und der Otto-Möbes-Volkswirtschaftsschule in Graz. Kautsky trat der Sozialistischen Partei Österreichs bei. 1958 kehrte er nach Wien zurück, wo er zum stellvertretenden Generaldirektor der Creditanstalt-Bankverein ernannt wurde. Zusammen mit Bruno Kreisky formulierte er das Parteiprogramm der SPÖ. Er war einer der Autoren des Godesberger Programms der SPD. Am 1. April 1960 starb Benedikt Kautsky in Wien. Er wurde in einem Ehrengrab im Urnenhain der Feuerhalle Simmering beigesetzt, in dem auch seine Ehefrau Gerda bestattet wurde.

 

 

Walter Hoffmann-Axthelm. Quelle ZM-Online

Walter Hoffmann-Axthelm (1908- 2001)

 

Walter Hoffmann-Axthelm gehört zu den schillerndsten Schülern des Gymnasiums am Maybachplatz. Dafür sorgte der umtriebige Zahnarzt schon selbst, als er 1993 in den Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins mit seinen Memoiren aufwartete. Diese initiierte den Medizinhistoriker Dr. med. dent Stefan Paprotka 2018 zu einem kritischen Blick. Seine Monographie titelt Walter Hoffmann-Axthelm - Vom NSKK Standartenzahnarzt zum Medizinhistoriker und beleuchtet dessen Rolle vom Dritten Reich über das Ost-Berlin der DDR nach West-Berlin der Bundesrepublik.

 

Walter Hoffmann wurde am 29. April 1908 als österreichischer Staatsbürger Walter Hoffmann in Friedenau geboren. Seine Eltern, der aus dem böhmischen Reichenberg stammende Kaufmann Karl Hoffmann (1870-1933) und die im thüringischen Kölleda geborene Anna geborene Axthelm (1878-1972) hatten 1907 in Berlin geheiratet und waren in das neue Mietshaus Bismarckstraße Nr. 1 (Sarrazinstraße) gezogen. Im Herbst 1914 wurde er in die Vorschule des Friedenauer Gymnasiums eingeschult. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Vater und Sohn 1920 deutsche Staatsangehörige. Nach dem sogenannten Einjährigen wechselte der Junior 1924 zum Helmholtz-Realgymnasium. Von 1927 bis 1930 studierte er Zahnmedizin an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. 1931 promovierte er an der Universitäts-Hautklinik zu Berlin zum Dr. med. dent. 1933 übernahm er eine Zahnarztpraxis in Perleberg und trat dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) bei.

 

Nachdem seine Post bei einem anderen Hoffmann im Ort abgeliefert worden war, fügte er 1939 seinem Namen ein Axthelm hinzu, und nannte sich fortan Walter Hoffmann-Axthelm. Die Genehmigung erreichte er erst 1952 durch den Magistrat von Groß-Berlin. Ende 1939 wurde er zum Wehrdienst bei der motorisierten Artillerie-Ersatz-Abteilung 75 in Eberswalde einberufen. Hier behandelte er Zwangsarbeiter aus Polen – für den Mediziner schlechthin Landarbeiter.

 

Hier setzt Stefan Paprotka mit seiner Recherche an. Mit Hilfe seines Freundes Dr. Wilke aus Perleberg, Kreiswart beim ‚Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund‘, gelang es ihm, von Eberswalde ans Reservelazarett 122 in Berlin versetzt zu werden. Der Kiefernchirurg Karl Schuchardt (1901-1985) machte Hoffmann zu seinem persönlichen Assistenten am katholischen St. Norbert Krankenhaus. Von Tempelhof ging es zum Kriegs- und Reservelazarett für Kiefer- und Gesichtschirurgie in Berlin und Martin Waßmund (1992-1956), der forderte, mehr als das Gesetz verlangte, nämlich grundsätzlich die Zwangssterilisation für Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten-Symptomträger [Waßmund, 1939]. Hoffmann- Axthelm erinnerte sich in seiner Rückschau nicht an die ideologisch-rassistisch geprägten Aussagen und Forderungen Waßmunds.

 

Ab Anfang Mai 1944 arbeitete Hoffmann-Axthelm im Kriegslazarett Görden. Stefan Paprotka konnte bei seinen Recherchen auf die noch vorhandenen Lazarettbücher aus Görden und Berlin-Tempelhof zurückgreifen. Diesen konnte entnommen werden, dass viele verletzte Wehrmachtssoldaten als psychisch traumatisiert galten. Nicht wenige wurden zum Kriegsende aus beiden Lazaretten in die Landesanstalt Görden verlegt. Häufig war ihr letzter Verbleib ungeklärt. Noch zu Beginn des Jahres 1945 verlegte Hoffmann-Axthelm pflichtbewusst verletzte Soldaten aus dem Tempelhofer Lazarett nach Görden und sogar an die Front zurück.

 

Nach der NS-Zeit war Hoffmann-Axthelm war von 1945 bis 1948 Assistenzarzt in der ehemaligen Lazarettabteilung in Hamburg und Lübeck und an der Nordwestdeutschen Kieferklinik Hamburg. 1950 wurde er Oberarzt der chirurgischen Abteilung der Universitätsklinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten der Charité. 1959 wurde er zum Professor mit Lehrauftrag für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde ernannt. Nach dem Bau der Mauer 1961 kehrte er nicht mehr in das System des Zwangs, der Angst und der Lüge zurück. Geplant hatte er offensichtlich alles. 1962/63 nahm er eine Tätigkeit an der Westdeutschen Kieferklinik in Düsseldorf wahr. 1964 wurde er Assistent und Dozent am Institut für Geschichte der Medizin an der Freien Universität Berlin. 1965 erhielt er einen offiziellen Lehrauftrag für Geschichte der Zahnheilkunde. Von 1967 bis 1978 war er Vorsitzender des Vereins für die Geschichte Berlins. 1970 habilitierte er sich im Fach Geschichte der Medizin, 1971 folgte seine Ernennung zum Professor und er wurde geschäftsführender Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin, 1973 folgte seine Emeritierung, wobei er seine Tätigkeit als Direktor bis 1977 fortführte. Walter Hoffmann-Axthelm starb am 3. August 2001 in Berlin.

 

Sohn Dieter Hoffmann Axthelm (geboren 1941) bestätigte auf Nachfragen von Stefan Paprotka, daß sein Vater sehr wohl gewusst habe, was in Görden geschehen war.

 

Friedrich Justus Perels (1910-1945)

Friedrich Justus Perels (1910-1945)

 

Zu den bekannten Schülern des Friedenauer Gymnasiusm gehören der Jurist Friedrich Justus Leopold Perels (1910-1945) und der Theaterkritiker Friedrich Luft (1911-1990). Perels wohnte in der Stubenrauchstraße Nr. 3, Luft in der Kaiserallee Nr. 74. Der eine begann 1922, der andere ein Jahr später. Täglich der Blick auf die Stele mit den Bildnissen und Sprüchen von Luther, Eine feste Burg ist unser Gott, und Bismarck, In Trinitate Robur (In der Dreiheit liegt die Kraft), täglich die Ecke, auf der noch heute Handjerystraße und Maybachplatz eingemeißelt sind, täglich auch das Portal mit dem Cicero-Spruch Wie die Saat, so die Ernte.

 

Nach dem Abitur trennten sich die Wege. Perels studierte Jura und wurde 1936 Justitiar der oppositionellen Bekennenden Kirche. Dort traf er auf den Juristen Friedrich Weißler (1891-1937), der wegen eines Urteils gegen einen SA-Mann – und seiner jüdischen Herkunft – 1933 als Landgerichtsdirektor in Magdeburg entlassen worden und nun als Kirchenkanzleichef tätig war. Weißler war Mitverfasser einer an Adolf Hitler gerichteten Denkschrift der „Bekennenden Kirche“, in welcher die nationalsozialistische Rassenideologie und der Terror gegen Andersdenkende kritisiert wurden. 1936 wurde er verhaftet und gefoltert, bis er am 19. Februar 1937 im KZ Sachsenhausen seinen Verletzungen erlag.

 

 

 

Bischof Wolfgang Huber bekannte jedenfalls erst im Jahr 2005, dass die Evangelische Kirche Friedrich Weißlers in Scham und Dankbarkeit gedenkt. Verlassen war er nicht nur von der nationalsozialistischen Reichskirche, sondern auch von der Bekennenden Kirche, die ihm nicht zur Seite stand. Perels warnte vor der Reichskirche, deren theologische Ausführungen schlechterdings untragbar sind. Wir haben die Aufgabe, auch formell Distanz zu dieser Glaubenslehre zu halten und den neutestamentlichen Angriff seinem Wesen gemäß vorzutragen. Jahre später wurde auch er von seiner Kirche verlassen. Am 5. Oktober 1944 wurde er wegen Nichtanzeige ihm bekannter Umsturzpläne und wegen illegaler Tätigkeit für die Bekennende Kirche verhaftet, am 2. Februar 1945 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und in der Nacht vom 22. zum 23. April am Lehrter Bahnhof von einem SS-Kommando ohne Vollstreckungsbefehl erschossen und verscharrt.

 

Der Platz vor seinem Gymnasiums heißt seit 1. Oktober 1961 Perelsplatz. Am Gebäude wurde eine Gedenktafel angebracht: Friedrich Justus Perels, geb. 13.1.1910, Jurist.Von 1922 bis 1929 Schüler des 1. Friedenauer Gymnasiums (jetzt Friedrich-Bergius-Schule). Mitglied der Bekennenden Kirche. Er half vielen Juden, Verfolgten und Angehörigen von KZ-Gefangenen. Am 23.4.1945 wurde er von der SS erschossen.

 

Jahrelang hat das Schöneberger Bezirksamt den Platz vor der Gedenktafel verwahrlosen lassen - trotz wiederholter Mahnungen auch der Schulleitung. Im Herbst 2019 ist wieder ein würdiger Gedenkort entstanden.

 

Die Stimme der Kritik Friedrich Luft. Quelle RIAS Berlin

Friedrich Luft (1911-1990)

 

Friedrich Luft wuchs in der Friedenauer Kaiserallee 74 (heute: Bundesallee) auf. Der Sohn eines deutschen Studienrates und einer schottischen Mutter besuchte das Gymnasium am Maybachplatz (heute Friedrich-Bergius-Schule). Er studierte Germanistik, Anglistik und Geschichte in Berlin und Königsberg. Mit Vorliebe hörte er beim Theaterwissenschaftler Max Herrmann (1865-1942) an der Berliner Universität die Vorlesungen über Theatergeschichte. 1936 entschied er sich für den freien Autor und schrieb Feuilletons für das Berliner Tageblatt und die Deutsche Allgemeine Zeitung. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er zunächst für den Tagesspiegel. Nachdem die amerikanische Besatzungsbehörde die Neue Zeitung gegründet hatte, eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung, wurde er Leiter der Feuilleton-Redaktion. Es konnte nicht ausbleiben, dass sich der von den Amerikanern initiierte RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) in der Kufsteiner Straße die Mitarbeit von Friedrich Luft sicherte. Dort war er von der Erstsendung am 9. Februar 1946 bis zum 28. Oktober 1990 kurz vor seinem Tod jeden Sonntagmittag die Stimme der Kritik.

 

 

 

So ist er in Erinnerung geblieben, seine rhetorischen Eigenheiten, sein schnelles, atemloses, abgehacktes Sprechen, seine mitunter drastische Ausdrucksweise und am Schluß immer wieder der Abschied: Wir sprechen uns wieder, in einer Woche. Wie immer – gleiche Zeit, gleiche Stelle, gleiche Welle. Ihr Friedrich Luft. Begonnen hat Friedrich Luft mit einem PROLOG, gesprochen am 7. Februar 1946: Wir werden an den Sonntagen der kommenden Wochen um diese Stunde wieder zusammentreffen. Wir werden öfter miteinander reden. Wir werden uns aneinander gewöhnen müssen. Vielleicht ist es gut, dass ich mich Ihnen da vorstelle:

 

Luft ist mein Name. Friedrich Luft. Ich bin 1,86 groß, dunkelblond, wiege 122 Pfund, habe Deutsch, Englisch, Geschichte und Kunst studiert, bin geboren im Jahre 1911, bin theaterbesessen und kinofreudig und beziehe die Lebensmittel der Stufe II. Zu allem trage ich neben dem letzten Anzug, den ich aus dem Krieg gerettet habe, eine Hornbrille auf der Nase. Wozu bin ich da? - Ich soll mich für Sie plagen. Diese Stadt Berlin ist von einer ununterdrückbaren Regsamkeit. Was die Theater, die Kinos zudem betrifft, so kann ein einzelner schon jetzt nicht mehr übersehen, was sich auf den Brettern und den Projektionsflächen unserer Stadt tut. Wer hätte Zeit, die vielen Kunstausstellungen zu besuchen? Wer könnte entscheiden, welcher Opernabend einen Besuch wert ist?

Sehen Sie - da komme ich nun in den Lautsprecher, etwas atemlos vielleicht von dem letzten künstlerischen Erlebnis, etwas ausgekühlt vielleicht in dieser Jahreszeit. Aber das ist meine Aufgabe: für Sie sozusagen der Vorreiter und Kundschafter zu sein. Ich stürze mich von Beruf und Leidenschaft in den Strudel der Künste und Vergnügungen und gebe Ihnen Rapport und Bericht. Jede Woche. Um diese Zeit.

Ich erzähle Ihnen, was ich gesehen habe. Und da Kunst erregbar machen soll und mitteilsam: nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich es auf meine Art tue. Wenn ich mit meinen Augen sehe. - Kein akademischer Vortrag. Das kann ich nicht. Der Himmel behüte! - Kein leidenschaftsloser Bericht - damit wäre niemand geholfen. Sondern: ich komme aus dem Theater, dem Kino, der Ausstellung, der Oper. Und ich berichte meinen Eindruck. Es gibt keine absolut treffsichere Kritik. Aber es gibt auch hier ein sauberes Handwerk und einen Willen zur Redlichkeit und zum Wahren. Das wollen wir treffen.

Gestern hatte ich Gelegenheit, einmal im Wagen durch die ganze Breite dieser Stadt zu fahren. Es war gespenstisch. Man ist an die Trümmer seiner Umwelt, seines Weges zur Arbeit, seines Bezirkes gewöhnt. Aber da wurde mir einmal bewusst, wie wenig von Berlin noch da ist. Ich fragte mich, ob wir uns nicht eigentlich nur etwas vormachen. Ich fuhr an einer Litfaßsäule vorbei, die beklebt war mit unzähligen Ankündigungen von Theatern, Opern, Konzerten. Ich sah nachher im Inseratenteil der Zeitung: an fast 200 Stellen wird Theater gespielt. Tatsächlich. Überall. In allen Bezirken. Täglich finden mindestens ein halbes Dutzend Konzerte statt. In allen Bezirken. Zwei Opernhäuser spielen ständig - welche Stadt der Welt hat das noch? Ob da nicht eine ungesunde Hausse in Kunst ausgebrochen ist - ob es nicht nötiger ist, Handfestes zu tun -, ob der Drang vor die Bühnen und in die Lichtspielhäuser nicht etwas Leichtfertiges und Frivoles an sich hat? Ich habe es mich gefragt. Und ich habe geantwortet: Nein! Wir sind tatsächlich durch ein Tal von Schweiß und Tränen gegangen, und zu Übermut, weiß Gott, ist auch heute kein Anlass.

Die Nöte stehen dicht an unserer Schulter. Die Arbeit bleibt zu tun. Aber gesegnet die Stunden, die uns über uns hinausführen. Die Stunden, die wieder Musik in unser Leben bringen und die Töne der großen Meister. Gesegnet die Stunden, die uns nachdenken lassen, die uns Ideen zeigen, die uns die Welt öffnen und uns über unseren kleinen, staubigen Alltag hinausführen in die Welt. Die Dichter - lasst jetzt endlich hören, was sie uns zu sagen haben! Der Krieg hat uns geschlagen zurückgelassen, in einer geistigen Dürre, voll Hungers nach guten und füllenden Gedanken und voller Neugier in die Welt hinaus, voll Aufhorchens nach dem neuen Ton der Güte, der unerbittlichen Liebe zum Nächsten, nach dem neuen Ton einer Menschlichkeit, die nun endlich laut werden muß, nachdem die Luft verzerrt war von Hassgesängen - zwölf lange Jahre hindurch.

Nein, Kunst ist nicht Sonntagsspaß und Schnörkel am Alltag, kein Nippes auf dem Vertiko. Kunst ist notwendig, gerade jetzt in der Not. Erst der Geist füllt das Leben, und ich will in keiner Welt leben, die ohne Musik ist. Was nutzt es, wenn wir uns nun das neue Haus bauen, und siehe: wir haben den Inhalt vergessen, den Geist, der in ihm wohnen soll. Nein, Kunst ist notwendig. Und kein Gedanke an sie, kein wirkliches Bemühen um sie ist zuviel.

 

Jeden Sonntagmittag, von der Erstsendung am 7. Februar 1946 bis zur letzten am 28. Oktober 1990, fast 45 Jahre lang, kam die Stimme der Kritik aus dem RIAS-Funkhaus in der Kufsteiner Straße. Friedrich Luft starb am 24. Dezember 1990. Er wurde auf dem Waldfriedhof Dahlem beigesetzt. Sein Grab in der Abt. 8U-43 ist als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Nachfolgend als PDF zwei Originaltexte von Friedrich Luft:

 

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Günter Weisenborn „Die Illegalen“, Hebbel- Theater
Friedrich Luft: Die Stimme der Kritik. RIAS Berlin, 23. März 1946


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Es liegt in der Luft
Auftritt Margo Lion und Mischa Spoliansky
Friedrich Luft: Die Stimme der Kritik, 11. September 1977

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Günther Smend

Günther Smend (1912-1944)

 

Günther Smend wurde am 29. November 1912 in Trier geboren, wo sein Vater Julius Smend als Hauptmann im Infanterie-Regiment 69 diente. Nach einer Kriegsverletzung - einem schweren Halsschuss - wurde der Vater aus dem Felddienst entlassen und ins Kriegsministerium nach Berlin versetzt. Hier kamen Günthers jüngere Geschwister zur Welt: 1917 sein Bruder Rolf, 1920 seine Schwester Hella. Von 1921 bis 1924 besuchte er das Gymnasium am Maybachplatz in Friedenau.

 

1924 zog die Familie nach Mülheim an der Ruhr. Am Staatlichen Gymnasium verbrachte Günther Smend seine restliche Schulzeit. Er war ein außerordentlich guter Sportler, nahm für seine Schule erfolgreich an Ruderwettkämpfen teil und wechselte in den letzten Jahren vor dem Abitur zur Leichtathletik. Auch hier erzielte er beachtliche Erfolge, wurde 1930 Stadtmeister im 5000-Meter-Lauf sowie im Waldlauf. Der früh gefasste Entschluss, nach dem Abitur die Laufbahn eines Berufsoffiziers einzuschlagen, spornte ihn auch in den akademischen Fächern an. Es galt, ein gutes Abitur abzulegen und zudem die Zulassungsprüfung der Reichswehr zu bestehen. Beides gelang ihm glänzend. Als Vertrauensmann seiner Klasse fiel Smend die Aufgabe zu, die Festrede auf der Abiturientenfeier im Februar 1932 zu halten.

 

Am 31. März 1932 trat Günther Smend als Offiziersanwärter in das Infanterie-Regiment 18 zu Detmold ein. Auf einem Hofball des lippischen Fürsten, zu dem er als Tänzer abkommandiert war, lernte er Renate von Cossel, seine spätere Ehefrau kennen. Sie heirateten im März 1939, woraufhin Renate Smend von Düsseldorf nach Detmold umzog. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs führte zu einer längeren Trennung des Ehepaares. Günther Smend nahm mit seiner Einheit erst am Frankreichfeldzug teil, später am Russlandfeldzug, besuchte anschließend die Kriegsakademie in Berlin und wurde am 1. April 1943 zum Generalstab versetzt.

 

Am 15. Juli 1943 folgte dann ein weiterer Karrieresprung: Smend wurde zum Adjutanten von Generaloberst Zeitzler, dem Generalstabschef des Heeres, ernannt. Durch sein neues Amt kam er in Kontakt mit Widerstandskreisen innerhalb des Generalstabs, erfuhr von den Attentatsplänen auf Hitler und wurde gedrängt, seinen Vorgesetzten Zeitzler zur Teilnahme an der Verschwörung zu bewegen. Dieser Versuch scheiterte: der Generaloberst erwies sich als dem Führer ergeben.

 

Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli sollte diese missglückte Anwerbeaktion Günther Smend zum Verhängnis werden. Am 1. August wurde er auf dem Lehrter Bahnhof in Berlin verhaftet, kam ins Gefängnis des Reichssicherheitshauptamtes, wurde Mitte August aus der Wehrmacht ausgestoßen und unterstand nun dem Volksgerichtshof und dessen Präsidenten Roland Freisler. Als Mitwisser des Attentats wurde Günther Smend am 30. August zum Tode durch Erhängen verurteilt. Die Hinrichtung erfolgte am 8. September 1944 im Gefängnis Plötzensee. Er hinterließ eine Ehefrau und drei Kinder.

 

Karl-Eduard von Schnitzler, 1988

Karl-Eduard von Schnitzler (1918-2001)

 

Karl-Eduard von Schnitzler wurde am 28. April 1918 geboren war nach Eduard (1905) und Hans (1908) der dritte Sohn des Diplomaten Eduard Schnitzler (1863-1934) und seiner Ehefrau Margarethe geb. Gillet, der 1913 – wohl für die Bearbeitung der Entschädigungsansprüche von Reichsdeutschen wegen Verlusten durch die chinesischen Wirren – von Kaiser Wilhelm II. in den Adelsstand erhoben wurde, sich „von Schnitzler“ nennen durfte und 1914 in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde. Während der Weimarer Republik wurde der Legationsrat von 1919 bis 1924 noch einmal vom Auswärtigen Amt für die Abteilungen West-, Süd- und Südosteuropa aktiviert.

 

Karl-Eduard von Schnitzler wuchs im Elternhaus Hohe Ähren Nr. 7 in Dahlem auf, ging auf das Friedenauer Gymnasium am Maybachplatz und trat noch vor dem Abitur in die Sozialistische Arbeiter-Jugend ein. Nach zwei Semestern brach er das Medizinstudium ab und absolvierte eine kaufmännische Lehre. Es kam der Zweite Weltkrieg und im Juni 1944 die britische Kriegsgefangenschaft. Er wurde Mitarbeiter der BBC. Im Oktober 1945 war er in der britischen Besatzungszone beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) in Hamburg. Ende 1947 ging Schnitzler in die Sowjetische Besatzungszone. Er trat 1948 in die SED ein, wurde Kommentator beim Berliner Rundfunk, beim Deutschlandsender und schließlich Chefkommentator des DDR-Fernsehens. Ab 21. März 1960 moderierte er den Schwarzen Kanal. Nach 1519 Folgen stellte das Fernsehen der DDR die Propagandasendung am 30. Oktober 1989 ein. Im Januar 1990 leitete die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands – Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS) gegen Schnitzler ein Parteiausschlussverfahren ein, dem er mit seinem eigenen Austritt zuvor kam.

 

Karl-Eduard von Schnitzler war vier Mal verheiratet, darunter von 1952 bis 1956 mit der in der  Goßlerstraße in Friedenau geborenen Schauspielerin Inge Keller (1923-2017). Er starb im Alter von 83 Jahren in Zeuthen und wurde in einem Urnengrab auf dem Friedhof von Eichwalde bestattet.

 

Egon Bahr. Quelle Bundesarchiv

Egon Bahr (1922-2015)

 

Egon Bahr wird am 18. März 1922 als Sohn des aus Schlesien stammenden Studienrates Karl Bahr und seiner Ehefrau Hedwig im thüringischen Treffurt geboren. 1928 zieht die Familie nach Torgau. Als die Nationalsozialisten von seinem Vater verlangen, sich von seiner Frau, deren Mutter Jüdin war, zu trennen, gibt er den Schuldienst auf und zieht 1938 mit Familie nach Friedenau. Egon Bahr geht auf das Gymnasium am Maybachplatz, dessen Leitung Studienrat Martin Iskraut (1886-1958) übernommen und Anfang Mai 1933 den Nationalpolitischen Unterricht in den Unterklassen eingeführt hatte. Als das nicht fruchtete, legte Iskraut nach. 1938, als Bahr in die Obersekunda eintrat, publizierte Iskraut die Grundgedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung mit ausgewählten Schriften und Reden des Führers Adolf Hitler und seiner Mitkämpfer Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels. Ihm ging es im Geschichtsunterricht um den deutschen Kampf um Selbstbehauptung.

 

An diese Zeit mag sich 2013 der inzwischen über 90-jährige Egon Bahr erinnert haben, als er Schülern einen Rat gab: In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.

 

In Friedenau absolviert Bahr die Tanzschule am Südwestkorso, lernt Foxtrott, spielt Klavier und lernt den späteren Althistoriker und Publizist Peter Bender (1923-2008) kennen, mit dem ihn eine lebenslange ungebrochene Freundschaft verband. Wir waren bis zum Abitur in derselben Klasse. Aus welchen Gründen Bahr und Bender den Wechsel in das Schöneberger Helmholtz-Gymnasium vollzogen haben, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. Jedenfalls: Weder Peter noch ich waren in der Hitlerjugend, und deshalb mussten wir am Sonnabend nachsitzen, während die anderen beim Wehrdienst waren.

 

 

Egon Bahr will Musik machen. Das Studium wird ihm wegen seiner jüdischen Großmutter verweigert. Stattdessen macht er eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei Borsig. 1942 wird er Soldat. Nach dem Krieg arbeitet er in West-Berlin als Journalist bei der Berliner Zeitung, der Allgemeinen Zeitung und dem Tagesspiegel. Von 1950 bis 1960 ist er Chefkommentator und Leiter des Bonner Büros des RIAS. 1956 tritt er in die SPD ein, ein Jahr darauf wird Willy Brandt Regierender Bürgermeister von Berlin und Egon Bahr sein Sprecher. Brandt wird Außenminister und schließlich 1969 Bundeskanzler. Das Gespann Brandt & Bahr verabschieden sich von der Hallstein-Doktrin und leiten mit einer neuen Ostpolitik die Abkehr vom Kalten Krieg ein. Mit ihrer Politik der kleinen Schritte leiten sie nach dem Motto Wandel durch Annäherung einen Kurs der Entspannung und des Ausgleichs mit der Sowjetunion, der DDR, Polen und den übrigen Ostblockstaaten ein. Egon Bahr wird Unterhändler in Moskau und Ost-Berlin. Die Verträge von Moskau und Warschau, das Transitabkommen sowie der Grundlagenvertrag werden maßgeblich von ihm geprägt. Selbstkritisch kommentiert er: Die Nicht-Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten werden nun durch schlechte Beziehungen abgelöst.

 

Bahr, bisweilen als Architekt der Ostverträge bezeichnet, wird einer der wichtigsten und einflussreichsten Berater Brandts, einer der entscheidenden Vordenker und führender Mitgestalter der Ost- und Deutschlandpolitik. Darum ist es derzeit nicht gut bestellt. Für Egon Bahr gibt es keine Stabilität in Europa ohne die Beteiligung und Einbindung Russlands. Ich warne davor, ein großes stolzes Volk zu demütigen (1999). Und 2014 ergänzte er: Für Deutschland ist Amerika unverzichtbar, aber Russland ist unverrückbar. Egon Bahr, Ehrenbürger der Stadt Berlin, starb am 19. August 2015 im Alter von 93 Jahren. Sein Grab befindet sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof.

 

Peter Lorenz, Gefangener der Bewegung 2. Juni

Peter Lorenz (1922-1987)

 

Am 27. Februar 1975, drei Tage vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, zwangen Terroristen der Bewegung 2. Juni, den Dienstwagen des Spitzenkandidaten der Berliner CDU Peter Lorenz an der Ecke Quermatenweg und Ithweg in Zehlendorf zum Halten. Der Chauffeur Werner Sowa wurde niedergeschlagen, Lorenz entführt und in einem Volksgefängnis in der Schenkendorfstraße Nr. 7 in Kreuzberg festgehalten. Am nächsten Tag erhielt die Deutsche Presse-Agentur ein Polaroid-Foto, das Lorenz mit einem Plakat zeigt: Gefangener der Bewegung 2. Juni. Die Entführer verlangten die Freilassung und Ausreise von sechs inhaftierten Terroristen der Roten Armee Fraktion und der Bewegung 2. Juni in ein Land ihrer Wahl: Horst Mahler, Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann, Rolf Heißler und Rolf Pohle.

 

Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt entschloss sich schließlich, auf die Forderung einzugehen. Am 3. März besteigen fünf der Inhaftierten (ohne Horst Mahler, der sich weigerte) in Begleitung des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Pfarrer Heinrich Albertz, eine Lufthansa-Maschine. Sie landet nach über zehnstündigem Irrflug in Aden, dem damals sozialistischen Südjemen. Albertz kehrt am nächsten Tag nach Berlin zurück und verliest im Fernsehen eine Botschaft der Freigelassenen, in der die Worte So ein Tag, so wunderschön wie heute enthalten sind - das Signal für die Freilassung von Peter Lorenz. Kurz vor Mitternacht meldet sich Lorenz aus einer Telefonzelle bei seiner Frau.

 

Die Entführung von Peter Lorenz war der einzige erfolgreiche Versuch der Bewegung 2. Juni, Strafgefangene für eine Geisel auszutauschen. Als Täter verurteilt wurden Ralf Reinders, Ronald Fritzsch, Gerald Klöpper, Andreas Vogel und Till Meyer. Die Tatsache, dass einige der freigelassenen Gefangenen später wieder terroristisch aktiv waren und Menschen ermordeten, bestärkte die Bundesregierungen, nicht noch einmal den Forderungen von Entführern bedingungslos nachzugeben.

 

 

Peter Lorenz war Schüler des Gymnasiums am Maybachplatz. Nach dem Abitur 1941 leistete er Reichsarbeitsdienst und Kriegsdienst. Als Soldat überlebte er die Schlacht von Stalingrad. Nach Kriegsende arbeitete er zunächst als Sachbearbeiter beim Magistrat von Berlin und dann ab 1947 als freier Journalist. Er absolvierte schließlich ein Studium der Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität und der Freien Universität Berlin, das er 1952 mit dem ersten und 1956 mit dem zweiten juristischen Staatsexamen beendete. Ab 1945 war er Mitglied der CDU. Von 1954 bis 1980 gehörte er dem Abgeordnetenhaus von Berlin an. Von 1976 bis 1977 sowie von 1980 bis zu seinem Tod war er als Berliner Abgeordneter Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1969 bis 1981 war er Landesvorsitzender der Berliner CDU und von 1982 bis 1987 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundeskanzler und Bevollmächtigter der Bundesregierung in Berlin. Peter Lorenz starb 1987. Sein Grab befindet sich auf dem Evangelischen Friedhof Nikolassee (Abt. PI-1/2). Das Grab ist seit 1997 als Berliner Ehrengrab gewidmet.

 

Peter Bender

Peter Bender (1923-2008)

 

Peter Bender gehört zu den unbekannten Schülern des Gymnasiums am Maybachplatz in Friedenau, obwohl er später einer der interessantesten Kommentatoren der deutschen Zeitgeschichte wurde. Hier hatte er 1938 in der Obersekunda Egor Bahr kennengelernt. Sie waren bis zum Abitur in derselben Klasse. Weder Peter noch ich waren in der Hitlerjugend, und deshalb mussten wir am Sonnabend nachsitzen, während die anderen beim Wehrdienst waren. Beide verband eine jahrzehntelange ungebrochene Freundschaft. Der Althistoriker gilt laut Spiegel als publizistischer Wegbereiter der Ostpolitik von Willy Brandt.

 

Nach dem Studium der Alten Geschichte arbeitete Peter Bender seit 1954 als Journalist, beim SFB, beim WDR und als ARD-Korrespondent in Warschau. Seit 1963 war er zudem Autor der Zeit, seit 1966 ebenfalls des Merkur sowie der Zeitschrift Der Monat. In den scharfen publizistischen Auseinandersetzungen dieser Zeit unterstützte er die „Neue Ostpolitik“ der sozialliberalen Koalition, und in den späteren außenpolitischen Debatten avancierte er zu einer von allen Seiten respektierten Stimme der Vernunft und der Verständigung. Politisch eher linksliberal, war er ein deutscher Patriot auch dann, wenn diese Haltung dem Zeitgeist zuwiderlief.

 

Während der Schulfreund Egon Bahr an der Seite Willy Brandts aktiv in die Politik eingriff und mit den Schlagworten Wandel durch Annäherung und Politik der kleinen Schritte sein Programm umriss, flankierte Peter Bender diese Politik bereits 1968 ein Buch mit dem provokanten Titel: Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR. Wie sein Freund Bahr stritt Bender zeitlebens für die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, beide sahen als Voraussetzung dafür aber zunächst einmal die Anerkennung des Status quo. Am Ende sollten sie Recht behalten.

 

Nach der Wiedervereinigung blieb die Deutsche Frage für den Publizisten Peter Bender beherrschendes Thema. In seinem letzten Werk aus dem Jahr 2007 Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945–1990 wagte er die These, dass es trotz aller Unterschiede und Eigenstaatlichkeit seit 1945 dennoch eine gemeinsame deutsche Geschichte gegeben habe. In diesem Grundgedanken ist sich Peter Bender bis zum Schluss treu geblieben.

 

Heinz-Dieter Koch, 1942. Archiv Koch

Heinz-Dieter Koch (1923-2023)

 

Drei Tage vor Einberufung des 18-jährigen Heinz-Dieter Koch zur Wehrmacht gab die Schüler-Combo der Klasse U III des Gymnasiums am Maybachplatz am 23. Januar 1942 ein Abschiedskonzert im Friedenauer Ratskeller. Unter den Zuhörern im vollbesetzten Saal Lehrer, Eltern, Schüler und auch Schulkameraden in Wehrmachtsuniform. Auf dem Foto von links Heinz-Dieter Koch als Band-Leader, Akkordeonist und Sänger, Hans-Ernst Benckendorff (Klarinette), Rolf Rabald (Saxophon), Johann-Georg Kleist (Klavier), Wolfgang Mäder (Trompete), Wilfried Schultze (Bass), Wolfgang Arendt (Gitarre), Karl-Theodor Menzel (Gitarre) und Hans-Wilhelm Schröder (Schlagzeug).

 

Swing war ihr Leben, ein Stil, der im nationalsozialistischen Deutschland nicht in die Landschaft passte, auch nicht ins Friedenauer Gymnasium, wo der Oberlehrer Martin Iskraut (1886-1958) nach der Machtergreifung zum Oberstudienrat und Direktor gemacht wurde. Damit würdigte die NSDAP seine Verdienste als Mitherausgeber der Schriften des Führers Adolf Hitler und seiner Mitkämpfer, die ab 1933 unter dem Titel Die Grundgedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung auf die einzelnen Lebensgebiete erschienen. Mit seinem Missfallen gegenüber den swing-begeisterten Gymnasiasten konnte sich Schuldirektor Iskraut nicht wirklich durchsetzen. Vielleicht kommt daher heute Kochs vages Mitgefühl für den strammen Nazi: Iskraut hatte dafür schwer büßen müssen: 1946 Hilfsarbeiter in einer Holzfabrik in Schwäbisch-Hall, 1947 Arbeiter in einer Mostfabrik in Walsrode, 1949 Lehrer an einer Walddorfschule, bis ein Schlaganfall seinem Berufsleben ein Ende machte.

 

Heinz-Dieter Koch war beim Swing ganz wesentlich auf das Hören angewiesen. Einige original-amerikanische Noten konnte man seinerzeit noch in der Berliner Filiale von Francis Day & Hunter kaufen, zum Beispiel den St. Louis Blues. Die übrigen Titel musste ich nach Gehör aufzeichnen, von amerikanischen Schalplatten, die gewitzte Händler über Schweden bezogen. Das arrangierte er dann für seine mühsam zusammengestoppelte Combo-Besetzung. Immer wieder betont Koch, dass er ein reiner Autodidakt war und keine Musikausbildung vorzuweisen hatte. Jener Studienrat, der ihm im Abiturzeugnis für das Fach Musik ein Befriedigend gegeben hat, im Jahr zuvor sogar nur eine Vier, hatte weder einen Draht zu Heinz-Dieter Koch noch zum amerikanischen Swing. Der Musiklehrer wollte mich wegen meiner nicht zu verheimlichenden Vorliebe für Jazz und Swing abstrafen, obwohl ich nach meinem Klassenkameraden Hans-Ernst Benckendorff wohl der Beste in Musik war (auch in der Klassik!).

 

Drei Tage später war er beim Flak-Lehr-Regiment im Seefliegerhorst Stralsund. Von dort ging es zur Rekrutenausbildung ins norwegische Eidsvoll und weiter zum Einsatz in Nordfinnland. Koch wurde krank und kam in ein Wehrmachtslazarett in Finnland. Dort erfuhr er, dass sein Gitarrist Karl-Theodor Menzel bei einem Übungsflug über Fürstenwalde abgestürzt und am 8. April 1942 im Feldlazarett Fürstenwalde verstorben ist. Was von  dem 18-jährigen noch übriggeblieben ist, kam nicht in ein Grab in Wilmersdorf, wo seine Eltern lebten, sondern auf den Neuen Friedhof in Fürstenwalde. Ob Menzel wie Koch sein am 24. März 1942 vom Bezirksamt Schöneberg ausgestelltes Zeugnis der Reife noch vor seinem Tod in den Händen halten konnte, ist nicht bekannt.

 

Die Schüler-Combo des Gymnasiums am Maybachplatz am 23. Januar 1942 im Ratskeller zu Friedenau bein Abschiedskonzert. Es wirkten mit:

Hans-Ernst Benckendorff (Klarinette) * 07.09.1923; † 29,12.2016

Rolf Rabald (Saxophon) * ?; † ?

Johann-Georg Kleist (Klavier) * 05.10.1923; † ?

Wolfgang Mäder (Trompete) * 10.01.1924; † 28.09.2018

Wilfried Schulte (Bass) * ?; † ?

Wolfgang Arendt (Gitarre) * 13.04.1924; † ?

Karl-Theodor Menzel (Gitarre) * 26.09.1923; † 08.04.1942 (Beim Übungsflug abgestürzt, im Feldlazarett verstorben und in Fürstenwalde beigesetzt.)

Hans-Wilhelm Schröder (Schlagzeug) * 09.07.1924; † ?

 

Nun ist mit dem Band-Leader Heinz-Dieter Koch das letzte Mitglied der Band im Alter von 99 Jahren am 21. Januar 2023 gestorben.