Bebauungsplan Terraingesellschaft Berlin-Südwesten

Das Rheingau Viertel

 

Es ging Schlag auf Schlag: 1900 Bayerisches Viertel, 1904 Wagner Viertel, 1907 Südwestkorso, 1910 Rheingau Viertel: In 14 Jahren hatten Salomon und Georg Haberland mit ihrer Berlinischen Boden-Gesellschaft Schöneberg, Friedenau und Wilmersdorf zugebaut. Das alles wurde immer wieder geschickt eingefädelt.

 

Für das Bayerische Viertel sollten finanzstarke Leute gewonnen werden, um mehr Steuereinnahmen für die Stadt Schöneberg zu erzielen. Es entstanden elegante Fassaden mit bis zu 250 m² großen Wohnungen, in die dann ebenso große Namen einzogen, Albert Einstein, Alfred Kerr, Arno Holz, Eduard Bernstein, Erich Fromm, Gottfried Benn, Erwin Piscator, Ferruccio Busoni, Billy Wilder.

 

Die Gemeinde Friedenau suchte nach der Pleite mit dem Sportpark einen Käufer für das unbebaute Gelände. Nachdem Georg Haberland dafür gesorgt hatte, dass die Berliner Traufhöhe von 22 Metern in den Bebauungsplan übernommen wurde, parzellierte er das Areal und veräußerte die Flächen an Interessenten, die im Wagner Viertel vierstöckige Mietshäuser mit bis zu 6-Zimmer-Wohungen für den gehobenen Standard errichten ließen.

 

Dann kam die Gegend um den Südwestkorso als vornehme Promenadenstraße an die Reihe. Mit einer Stimme Mehrheit änderte die Friedenauer Gemeindevertretung den bereits bestehenden Bebauungsplan, und ließ sich einreden, dass die Bestrebungen des modernen Städtebaues allgemein dahingehen, solche Straßenzüge mit zahlreichen Nebenstraßen, Vorgärten und Alleebäumen zu errichten. Zur Beruhigung der Gemüter: Die Straßen werden breiter, aber sonst wie die von Friedenau ausgestattet sein.

 

Nachdem die Stadt Schöneberg die kommunale Wertzuwachssteuer eingeführt hatte, gründete die Berlinische Boden-Gesellschaft die Terraingesellschaft Berlin-Südwesten und verlegte ihre Aktivitäten nach Wilmersdorf. Mit dem nach Dahlem führenden Südwestkorso als Hauptachse entstand das Rheingau Viertel. Es sollte ein bevorzugtes Wohngebiet für höhere Beamte, Angestellte, Rentiers und Freiberufler sein – mit einheitlichen Geschoss-, Trauf- und Firsthöhen sowie Dachneigungen und einer planmäßig abgestimmten Fassadengestaltung.

 

Georg Haberland holte sich Paul Jatzow (1875-1940) als Hausarchitekten. Er war bisher von der Berlinischen Boden-Gesellschaft als Architekt nicht mit Aufträgen bedacht worden. Paul Jatzow taucht im Adressbuch von 1901 erstmals als Architekt in W 30, Habsburger Straße Nr. 2 auf. 1905 eröffnet er ein Atelier für Architektur in W 30, Neue Winterfeldtstraße Nr. 47. Er wird Stadtverordneter von Schöneberg und setzt die Einsetzung einer gemischten Deputation für Förderung der künstlerischen Ausschmückung der öffentlichen Plätze und Gebäude durch. Beim Bau ihrer U-Bahn kam die Stadt 1909 nicht umhin, den Schöneberger Stadtverordneten und Architekten Ernst Denecke (Viktoria-Luise-Platz), Paul Jatzow (Hauptstraße) und Johannes Kraaz (Bayerischer Platz) die Entwürfe für die architektonische Ausgestaltung der Bahnhöfe zu übertragen.

 

Als Hausarchitekt der Terrain-Gesellschaft Südwesten verlegte er sein Atelier für Architektur und Bauausführung in die Haberlandstraße Nr. 4. Jatzow hatte die auf Rendite bedachten Vorstellungen von Haberland in ein ansprechendes Gesamtbild zu übersetzen. Gelegen kam, dass die neue Baupolizeiordnung für die Berliner Vororte auf Betreiben der Terrain-Gesellschaft Südwesten und der Stadt Wilmersdorf auf den bisherigen 10 m breiten Bauchwich zwischen den Häusern verzichtete und damit erst eine Reihenhausblockbebauung ermöglichte. Paul Jatzow hatte sein Thema gefunden. bezeichnete sie als Zahnlücken. Der Bauwich, der guten Absicht entsprungen, den Hintergebäuden und dem ganzen Baublock Licht und Luft zuzuführen, ist eine Missgeburt gewesen. Es erübrigt sich wohl, hierfür noch besondere Gründe anzuführen; alle Städtebauer sind sich darüber einig, dass der Bauwich bekämpft werden muß bis aufs Messer, weil der Bauwich für die Häuser das Unpraktischste ist, was man sich nur denken kann. Er verschwieg, dass es dabei um eine Verdichtung im Interesse des Geschäfts ging. Die Bauwiche verschwanden und wurden bebaut.

 

Damit die so entstandene Reihenhausblockbebauung nicht abschreckte, musste Wert auf eine abwechslungsreiche Gestaltung der Fassaden gelegt werden. Jatzow unternahm eine Studienreise durch Englands Fluren, insbesondere den Cottage-Typus von Letchworth und Hampstedt, brachte diese Eindrücke nach Berlin mit und dekorierte die Fassaden der Reihenhäuser: Dachsilhouetten mit schwarzem Schiefer und roten Biberschwänzen, mannigfache Giebel, Fachwerk, Erker, Balkonen, Loggien, Stuck, Sprossenfenster, Holztüren, Säulen, hell- bis dunkelgelben Außenputz.

 

Den großen Rest besorgte höchstwahrscheinlich die Terrain-Gesellschaft Südwesten. Das Landesdenkmalamt Berlin hält sich mit detaillierten Angaben erstaunlich zurück. Hat das Amt keine Kenntnis oder wurde bisher nur mangelhaft recherchiert? Es ist davon auszugehen, dass Georg Haberland die Architekten Martin Friedeberg, Adolf Goldstrom, Franz Helding, Carl Horst, Ernst Horstmann, Heinrich Keufen, Willibald Kübler, Willy Noddack-Kelling, Heinrich Langer, Alfred Lehmann, Wilhelm Lück, Karl Mittelstädt, Waldemar Peschko, Carl Stock, Max Schüler, Julius Schüler, Bruno Schneidereit, Leberecht Thon, Paul Trache, Bernhard Wilhelm, Theodor Wilhelm und Victor Wolf direkt mit dem Bau der rund 500 Häuser beauftragt hat.

 

Nur in Einzelfällen findet sich der Hinweis, dass dieser oder jener Architekt für den Grundriss zuständig war – wobei daraus nicht hervorgeht, ob für den Grundriss des Hauses oder die Grundrisse der Wohnungen. Nur unzureichend wird auch die Frage der Bauherren beantwortet. Mal ist es Kommerzienrat Georg Haberland, dann die Hausbau GmbH, mal sind es die Architekten oder Maurermeister selbst oder auch private Käufer. Die Ausführung der Bauten übernahmen in der Regel Baugeschäfte, die wohl auch von Haberland direkt beauftragt wurden.

 

Bleibt noch die gärtnerische Gestaltung des Rheingau Viertels. Jatzow stieg für Haberland in die Bütt und wetterte gegen die üblichen Vorgärten mit ihren widerlichen, konventionellen, übermannshohen Erbbegräbnisgittern und klobigen Steinpfosten. Gegründet wurde die Gartenvereinigung Berlin-Südwesten GmbH. Leider hält sich auch hier das Landesdenkmalamt bedeckt. Welcher Gartenarchitekt auf die Idee kam, die Vorgärten durch 13 m breite Rasenflächen zu ersetzen, die in sanften Steigungen ihre Fortsetzung in den blütenreichen Kletterrosenspalieren der Häuser bis hinauf zum ersten Geschoss finden, bleibt unbekannt. Selbst beim Gartendenkmal Rüdesheimer Platz bleibt die Landesdenkmalbank vage. Ob der Bauherr, die Terraingesellschaft Berlin-Südwesten, den Gartenarchitekten Richard Thieme (1876-1948) mit dem Entwurf beauftragte, der von 1903 bis 1945 die Gartenverwaltung von Wilmersdorf leitete, wird mit einem Fragezeichen relativiert – ergänzt mit diversen Literaturhinweisen aus den Jahren 1911 bis 1912.

 

Diese und andere Fragen sind vom Landesdenkmalamt zu beantworten, zumal aktuell für inzwischen weiterverkaufte Häuser in der Deidesheimer Straße, deren Bewohner beispielsweise vor dem geplanten Umbau wissen möchten, ob die Grundrisse ihrer Wohnungen unter Denkmalschutz fallen. Die Landesdenkmalbank Berlin ist wenig nutzerfreundlich und bleibt viele Informationen schuldig.

 

 

Rüdesheimer Platz Nr. 10

 

Es war 1977 nicht so ganz einfach, Margo Lion (in Paris) und Mischa Spoliansky (in London) für die Berliner Festwochen zusammenzubringen. Da ging es wochenlag um die Auswahl der Titel. Die Lion wollte das, Spoliansky jenes. Nachdem auch die Hotelfrage geklärt war, die Lion im Kempinski, Spoliansky im Savoy, der Empfang in Tegel mit Blumen und Presse. Am Vormittag des 7. September Treffen im Renaissance-Theater. Steinway hatte den besten Konzertflügel herbeigeschafft, stimmen lassen und poliert. Und Spoliansky: Ich bitte um einen Bösendorfer. Der Klang ist tragender, weicher, singender. Er swingt. Stunden später hatte Steinway einen Bösendorfer aus der Musikhochschule herbeigeschafft. Am Abend dann das: Mischa Spoliansky, der Meister der leichten Musik, muß, als er die Bühne betritt, das Klavier erst mühsam zusammensetzen. Das Notenpult fehlt. Es findet sich (erst auf Publikumszuruf in einer Bühnenecke. Der reizende Herr Spoliansky montiert es auf. Dann kann es losgehen. So Friedrich Luft am 11. September in Die Stimme der Kritik.

 

Plötzlich singt und rührt sich der beste, alte Kurfürstendamm. Das gab es ja auch. Hier schwelgten die Genießer der leichten Pointe. Spoliansky und Schiffer raunzten nie weltanschaulich. Sie gaben auch Saures, sicher. Aber sie wurden darüber selber nie bitter oder garstig. Sie feuerten Pointen ab. Doch sie bedienten sich dazu des lockeren Handgelenks. Sie hielten der Schickeria jener Jahre den Spiegel vor, aber feste! Doch sie waren listig und klug genug, ihr Publikum nie zu verschrecken. Schmeicheln taten sie ihm deswegen keineswegs.

 

Und was geschieht heute? Man windet sich vor Vergnügen, nun diesen späten Nachgeschmack jener zauberhaften Witzigkeit neu zu spüren. Spoliansky läßt die alten Melodien perlen. Ja, er singt zuweilen selber - und Jahrzehnte (und was für welche!) scheinen plötzlich übersprungen und nach rückwärts vergessen. Das perlt wie einst, es ist spaßig, ist auf listige Weise sentimental. Und immer wieder retardiert er, versetzt er seine Melodie raffiniert und skeptisch: Und schon klingt der alte Kurfürstendamm, ist sein einstiger Schick, seine frühe, großstädtische Skepsis, ist seine ganz morbide Selbstironie neuerdings deutlich zu genießen.

 

Dann: Auftritt der Margo Lion. Alterslos steht sie da, einst so lang und dünn wie ein Faber-Bleistift, ist sie heute körperlich kompakter- und gleich macht sie selber souverän ihre Späße darüber. Sie legt los, schwarzgewandet wie einst. Ein roter Schal liegt ihr wie eine leuchtende Schlange um die Schultern, Schmuck und gleichzeitig Requisit dieser unverdrossenen Chansoneuse. Und nun singt sie. Sie plärrt, krächzt. Sie trompetet intelligent wie einst. Die familiären Texte (Frau Lion war mit Marcellus Schiffer verheiratet) treffen selig ins Schwarze. Immer noch der zauberisch welsche Sprachklang dieser Berlinerin aus Paris. Sie ulkt, sie parodiert, sie schwingt den Text hin und wieder mühelos ins Absurde. Sie gibt eine Lektion, wie man einst ganz Leichtes ohne Leichtsinn, aber doch zärtlich, frech, ernsthaft und mit verhaltenem Jubel intonieren kann. Die Lion wird wehleidig keinen Augenblick. Keine falsche Träne gerät ihr nach schier fünfzig Jahren in die alten Texte oder Melodien.

 

„Bravo, Mischa“, schrie, als die fröhliche Neuverwertung seiner alten Lieder noch im Gange war, ein Zuhörer dazwischen, der sein Wohlgefallen wohl überhaupt nicht mehr zügeln konnte. Der Mann rief für uns alle. Wir hatten den besten Geist, die flotte Gangart, die kesse Ironie, hatten die traurige Lustigkeit und die hohe Intelligenz jener Jahre plötzlich wieder vernommen. Authentisch. Es lag alles plötzlich wieder in der Luft. Brova Mischa! Bravo, Margo!

Der Chansontexter Marcellus Schiffer (1892-1932), eigentlich Dr. Otto Schiffer; hatte in den frühen 1920er Jahren in Berlin die Französin Margo Lion (1899-1989) kennen, eigentlich Marguerite Hélène Constantine Barbe Elisabeth Lion. 1923 gab die Diseuse ihr Debüt mit dem von Schiffer verfassten Chanson Die Linie der Mode. Am 15. Mai 1928 dann die Premiere von Marcellus Schiffers und Mischa Spolianskys Kabarettrevue Es liegt in der Luft mit dem Chanson Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin, das Margo Lion, eng anliegendes, langes schwarzes Seidenkleid, streng zurückgekämmte Haare, bleich geschminkt, schwarz umrundete Augen und schwarz geschminkter Mund, gemeinsam mit Marlene Dietrich und Oskar Karlweis als Ménage à trois zum besten gab. Schiffer und Lion heirateten und zogen 1929 nach Wilmersdorf an den Rüdesheimer Platz Nr. 10. Am 24. August 1932 setzte Schiffer, „der stets über seine ewige und tödliche Langeweile geklagt hatte“, seinem Leben mit einer Überdosis Schlaftabletten selbst ein Ende. Begraben wurde er auf dem Friedhof Heerstraße (Grablage: 4a-62/33). Nach dem Selbstmord ihres Ehemanns zog die Lion wieder nach Paris in die Rue de l'Étoile im 17. Arrondissement, sang Lieder von Brecht und Weill, spielte in französischen Filmen und telefonierte regelmäßig mit ihrer besten Freundin in der Avenue Montaigne. Margo Lion verstarb am 25. Februar 1989 in Annecy-le-Vieux.