Die Varziner Straße parallel zur Ringbahn. Aufnahme aus dem Zeppelin, 2002 Hahn & Stich

 

 

Berlin hatte seit 1838 auf Kopfbahnhöfe gesetzt: Potsdamer-, Anhalter-, Stettiner-, Hamburger-, Görlitzer-, Lehrter- und Dresdener Bahnhof. 1867 wurde mit dem Bau einer Verbindung zwischen diesen Bahnhöfen begonnen. So entstand entlang der Gemarkungsgrenze zwischen Schöneberg, Friedenau und Wilmersdorf ein sieben Meter über dem Straßenniveau liegender Bahndamm. Um die bereits bestehenden Straßenverbindungen zwischen Schöneberg, Friedenau und Wilmersdorf zu erhalten, wurde die Trasse zwischen Innsbrucker Platz und Kaiserallee als Viaduktbau angelegt.

 

Mit Inbetriebnahme der Ringbahn im November 1877 bekam die Gegend auch eine Haltestelle, die 1881 den Doppelnamen Wilmersdorf-Friedenau erhielt. Der Eingang zum Personenbahnhof mit befand sich zwischen Kaiserallee und Handjerystraße in der Varziner Straße. Entstanden war ein Tunnel zur Wilmersdorfer Bernhardstraße. Im Tunnelinneren führten Treppen zum hochgelegenen Bahnsteig, so dass die Station für Friedenauer und Wilmersdorfer genutzt werden konnte.

 

Nach dem Bau eines weiteren Gleispaares für den Güterverkehr entstand zwischen Handjerystraße und Innsbrucker Platz der Güterbahnhof Wilmersdorf- Friedenau mit 38 Abstellgleisen von 50 bis 575 Meter Länge, Güterschuppen, Ladestraßen und Zufahrten von der Handjery- und Hauptstraße. 1892 wurde ein neues Stationsgebäude eröffnet. Ab 1901 steuerten drei Stellwerke den Betriebsablauf: das Befehlsstellwerk Wl (Wilmersdorf) an der Handjerystraße, das Wärterstellwerk WOT (Wilmersdorf Ostturm) an der Hauptstraße und das Befehlsstellwerk WLB (Wilmersdorf Bahnsteig) auf dem Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau für den Personenverkehr der Ringbahn. Zum Fahrplanwechsel 1938 wurde aus dem Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau der S-Bahnhof Wilmersdorf“.

 

Es kamen Mauerbau (1961), Streik der West-Berliner Reichsbahner (1980) und die Einstelllung der westlichen Ringbahn. Erst 1993 wurde der Ringbahnverkehr wieder aufgenommen. Der S-Bahnhof von 1892 wurde abgerissen und um 110 Meter nach Westen zum Bundesplatz hin verlegt. Die neue S-Bahn-Station erhielt den Namen Bundesplatz. Dort gab es seit 1971 den U-Bahnhof der Linie U9, mit dem ein Umsteigen zwischen S- und U-Bahn möglich wurde.

 

Der Güterbahnhof Wilmersdorf-Friedenau machte 1996 noch einmal Furore als Freigelände für die Fachmesse InnoTrans. 2010 wurde das 58.000 m² große Gelände von der Deutschen Bahn an den Immobilienentwickler BÖAG verkauft. Gleisanlagen und Lagerhallen wurden abgebaut. Das markante unter Denkmalschutz stehende Turmstellwerk des Architekten Rainer G. Rümmler von 1971 wurde 2014 abgerissen. Erhalten blieb lediglich der 1927 vom Architekten Richard Brademann geschaffene Sichtziegelbau des Kleingleichrichterwerks. 2015 erfolgte die Freistellung des Geländes von Bahnbetriebszwecken durch das Eisenbahn-Bundesamt. Kurz danach erfolgte der Wiederaufbau der zweigleisigen Güterzugtrasse zwischen Halensee und Tempelhof. Die von der Bahn beabsichtigte Elektrifizierung der Strecke wird derzeit nicht realisiert – vorläufig. Obwohl bekannt ist, dass Friedenau der am dichtesten bewohnte Ortsteil von ganz Berlin mit einem erheblichen Grünflächendefizit ist, setzte die rot-grüne Mehrheit im Rathaus Schöneberg gegen die massiven Einwände eine Bebauung des Areals mit 1500 Wohnungen durch – in unmittelbarer Nachbarschaft von sechsspuriger Autobahn, Güterzugtrasse und S-Bahn-Ring. Die Werbung für die sogenannte Friedenauer Höhe läuft auf vollen Touren: Das idyllische Friedenau, seit jeher Inspirationsort für Kunst- und Kulturschaffende, wird neu interpretiert: Aus Friedenau wird FriedenNOW. Schlimmer geht's nimmer. Die Bauten sprechen für sich.

 

Loeser & Wolff Varziner Straße 4. Quelle Deutsche Bauzeitung

Varziner Straße Nr. 4

 

Am 4. Oktober 1906 gab Friedenaus Bürgermeister Schnackenburg bekannt, dass die Nummerierung der Grundstücke des ehemaligen Sportparkgeländes, jetzigen Wagner-Viertels, erfolgt ist – darunter auch das Haus Sieglindestraße Nr. 1 an der Ecke Varziner Straße Nr. 4. Bauherr und Eigentümer war der Architekt Theodor Jaretzki aus der Charlottenburger Mommsenstraße, spezialisiert auf Mietshäuser mit Ladengeschäften. 1908 zogen die ersten Mieter ein, an der Ecke gegenüber dem Eingang zum Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau die Zigarrenhandlung Thomas. Nach und nach wurden weitere Läden verpachtet, Friseur, Delikatessen, Kneipe, Papierwaren, Schuhe, Herrenausstatter, am längsten von 1910 bis 1943 hielt sich der Blumenladen Brachmann. Jaretzki verkaufte das Anwesen 1923. Es folgten diverse Eigentümer: Mölder (Reval), Weiß (Ausland), Rosenblatt (Lodz).

 

 

Den Eckladen übernimmt Loeser & Wolff, eine Berliner Zigarrenfabrik, die 1865 von Bernhard Loeser (1835-1901) und Carl Wolff (1825-1902) gegründet worden war, und 1901 in Berlin 66 Tabakläden betrieb. Nach dem Tod der Firmengründer führte die Familie Wolff das Unternehmen fort. 1937 erfolgte die Arisierung. 1983 wurde die Firma Loeser & Wolff endgültig aufgelöst.

 

Loeser & Wolff bekam literarische Weihen, zuerst 1929 durch Alfred Döblins Geschichte vom Franz Biberkopf und sein Wiedersehen mit dem Alex: Loeser und Wolff mit dem Mosaikschild haben sie abgerissen, 20 Meter weiter steht er schon wieder auf, und drüben vor dem Bahnhof steht er nochmal. Loeser und Wolff, Berlin-Elbing, erstklassige Qualitäten in allen Geschmacksrichtungen, Brasil, Havanna, Mexiko, Kleine Trösterin, Liliput, Zigarre Nr. 8, das Stück 25 Pfennig, Zigarillos Nr. 10, unsortiert, Sumatradecke, eine Spezialleistung in dieser Preislage, in Kisten zu hundert Stück, 10 Pfennig. Ich schlage alles, du schlägst alles, er schlägt alles mit Kisten zu 50 Stück und Kartonverpackung zu 10 Stück, Versand nach allen Ländern der Erde, Boyero 25 Pfennig, diese Neuigkeit brachte uns viele Freunde, ich schlage alles, du schlägst lang hin.

 

1970 erscheint Der Geschenkte Gaul von Hildegard Knef. Sie verbrachte ihre Jugend in der Bernhardstraße. Von ihr erfahren wir, dass es direkt am Eingang zum Ringbahnhof an der Bernhardstraße einen weiteren Zigarrenladen gab, den der Gorczellanceks, sie mußten aber dann nach 1935 den Laden aufgeben, eine Familie Toedt zog ein, sie waren sanfte, stille Leute, und das Ganze mit den Gorczellanceks war ihnen sehr unangenehm. Die Gs wohnten noch einige Jahre in ihrer Wohnung am Cosimaplatz in Friedenau, und die Bernhardstraßenbewohner gingen nachts zu ihnen und brachten Esswaren und Zeitschriften - die Gs waren stolz und ließen sich nicht gern etwas schenken, und so hatten wir langsam einen Teil ihres Geschirrs kaufen müssen und Handtücher und Bestecke, die halbe Straße hatte Sachen von den armen eingesperrten Gorczellanceks. Eines Abends gingen meine Mutter und ich wieder zum Cosimaplatz, aber an der Ecke warnte uns eine Frau, nicht hinaufzugehen, sie waren abgeholt worden, oder sie sollten abgeholt werden, denn als die Gestapo morgens um 4 oder 5 klingelte, hatten sie sich mit ihren zwei Kindern vergiftet.

 

Nicht zu vergessen Walter Kempowski, der den Titel seines Roman Tadellöser & Wolff (1971) vom Firmennamen ableitete, weil er sich daran erinnerte, dass sein Vater Karl Zigarren von Loeser & Wolf liebte, was ihn bei Lobeshymnen immer zu dem Spruch veranlasste: Tadellos, tadellöser, Tadellöser und Wolff.

Varziner Straße 7 Ecke Südwestkorso 1, 1950. Sammlung Staudt, Museum Schöneberg

Varziner Straße Nr. 7

Ecke Südwestkorso Nr. 1

 

Im Januar 1909 hatte Gemeindebaurat Hans Altmann die Erteilung einer Ausnahme vom Bauverbot ersucht, um dem Bauunternehmer B. Danziger aus Charlottenburg die Bauerlaubnis zur Errichtung eines Gebäudes Südwestkorso Nr. 1 Ecke Varziner Straße Nr.7 zu erteilen. Die Bauerlaubniserteilung wird notwendig, da die Varziner Straße noch nicht reguliert ist. Bürgermeister Bernhard Schnackenburg schlägt vor, sich gleich mit der Bauerlaubniserteilung für die ganze Varzinerstraße einverstanden zu erklären.

 

Die Gemeindeverordneten wünschen allerdings eine vollständige Regulierung der Straße, und merken an, dass in der Varziner Straße nur ein kleiner Streifen vom Bürgersteig zu Friedenau gehöre. Der Bürgermeister erklärt, dass man bei der Verhandlung betr. Einverleibung der Varziner Straße nach Friedenau immerfort auf neue Schwierigkeiten stoße; er hoffe ja, dass in nicht zu ferner Zeit die Sache endlich erledigt wird. Die Bauerlaubnis wurde nur für das Grundstück Varziner Straße Ecke Südwestkorso erteilt. Im November 1909 erwarb die Charlottenburger Grundstücksgesellschaft Neue Kaiserallee das Grundstück.

 

 

 

 

Zu den ersten Mietern gehörte 1911 der Instrumentenmacher Friedrich Schwechten (1880-1954), dessen Onkel Georg (1827-1902) einst eine Werkstatt für Tafelklaviere gegründet hatte. Nach dem Tod von Georg Schwechten übernahm seine Tochter Anna Maria Clara Fiebelkorn geb. Schwechten (1853-1921) die Firma. Ihre Cousins Wilhelm und Friedrich Schwechten stiegen aus und gründeten 1911 die Pianofabrik Schwechten & Boes mit Sitz Friedenau, Südwestkorso 1, III, Stock. 1918 lösten die Brüder Wilhelm und Friedrich ihren eigenen Betrieb auf und übernahmen wieder das Stammhaus G. Schwechten Hof-Pianofabrikant. 1921 eröffneten sie in der Lützowstraße für Konzerte den Schwechtensaal mit 800 Sitzplätzen.

 

Für das Haus Varziner Straße Nr. 7 Ecke Südwestkorso Nr. 1 sind zwischen den beiden Weltkriegen einige Eigentümer verzeichnet: 1919 H. Sachs (Wilmersdorf), 1928 Frau Cohn (Grunewald), 1939 Dr. M. Cohn (Verwalter, Dahlem, Friedbergstraße 23), 1943 Baugeschäft K. Scheler (Charlottenburg, Leibnizstraße 55). Mit dem Zweiten Weltkrieg war das Haus eine Ruine. Erhalten sind Aufnahmen von Herwarth Staudt, die der Fotograf im Auftrag des Baulenkungsamtes Schöneberg am 1. April 1950 und am 24. Mai 1955 erstellte.

 

Anfang der 1960er Jahre müsste die Schweizerische Versicherungsgesellschaft AG Helvetia das Ruinengrundstück Varziner Straße Nr. 7 Ecke Südwestkorso Nr. 1 erworben haben, da beim Bezirksamt Schöneberg ein erster Bebauungsplan vom 16.3.1964 unter XI-106 dokumentiert ist. Nach dem Mauerbau wurde dieses Projekt zurückgestellt. Die Helvetia teilte uns dazu mit, dass die Gesellschaft nach der Wende in Berlin ein Bürogebäude für ihre Filialdirektion suchte. Der Verkauf des Grundstücks an Helvetia erfolgte 1992. Projektentwickler war die Invest Consult GmbH. Am 16.4.1991 wurde der Bebauungsplan XI-106-1 vom Stadtplanungsamt Schöneberg aufgestellt, öffentlich ausgelegt, von der BVV bestätigt und am 21. Januar 1992 von der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen festgesetzt.

 

Der Bebauungsplan enthielt 3 Nebenzeichnungen: 1. Festsetzung für die zulässige Tiefgarage, 2a Baulinie und Baugrenzen für das zulässige V. und VI. Vollgeschoss, 2b und 2c Flächen zum Anpflanzen oberhalb des IV. Vollgeschosses, 3. Baulinie und Baugrenzen für das zulässige VII. Vollgeschoss. 1994 wurde das Haus der Helvetia-Versicherungen fertiggestellt – ein markanter Bau mit einem das Eckgrundstück prägenden Rundturm – Architekt Hasso v. Werder & Partner. Die Fertigstellung bzw. der Bezug des Gebäudes als Filialdirektion der Helvetia in Deutschland als Hauptmieter erfolgte Ende 1994. Aktuell ist Helvetia weiterhin mit zwei Etagen Mieter in dem Gebäude, das heute als Regionaldirektion definiert ist.

 

ePaper
Bebauungsplan XI-106-1. Bezirksamt Schöneberg, 1992

Teilen:
Otto Mueller, Selbstporträt 1921

Varziner Straße Nr. 9

Otto Mueller (1874-1930)

 

Otto Mueller zog 1908 nach Berlin. Er wurde Mitglied des Künstlerkreises Die Brücke und lebte unter anderem auch in der Varziner Straße Nr. 9. Charakteristisch für den Maler sind Darstellungen herber, kantiger Figuren, vor allem schlanke Mädchengestalten, hineingestellt in eine ziemlich flächig dargestellte Natur, und mit Leimfarben auf Leinwand gebracht.

 

Sieben Jahre nach dem Tod von Otto Mueller (1874-1930) beschlagnahmten die Nationalsozialisten 357 seiner Werke aus deutschen Museen. 13 von ihnen wurden in der Münchener Ausstellung Entartete Kunst am 19. Juli 1937 diffamiert. In Raum 3 im oberen Stockwerk wurden u. a. Zwei Mädchenakte unter der Überschrift Verhöhnung der deutschen Frau gezeigt. Da die Säuberung der deutschen Kunstsammlungen wie alles im Dritten Reich auch total erfolgen sollte, gaben die nationalsozialistischen Kunstexperten dem Schweizer Kunsthändler und Auktionator Theodor Fischer schon vor der Ausstellungeröffnung Gelegenheit, die beschlagnahmten und im Schloss Niederschönhausen gelagerten Kunstwerke zu besichtigen. Am 30. Juni 1939 war es dann so weit. Im Grand Hotel National in Luzern brachte Fischer das Geschäft mit den Nationalsozialisten auf den Weg. Im Rahmen dieser Auktion wechselten auch jene Bilder von Otto Mueller ihre Besitzer, die in München als Entartete Kunst gezeigt worden waren.

 

 

 

 

 

Zwei Mädchenakte, um 1919 entstanden, hatte die Nationalgalerie Berlin erworben. 1936 verschwand das Bild im Depot, 1937 wurde es vom Staat konfisziert und ab 19. Juli in München unter der Nummer 15995 als Entartete Kunst präsentiert. Zwei Jahre später bekam das Temperagemälde mit einem Schätzpreis von 850 Schweizer Franken auf der Luzerner Fischer-Auktion die Los-Nummer 101. Es fand keinen Interessenten. Verkauft wurde es schließlich für 50 Dollar an den Hamburger Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, der für die Verwertungsaktion von beschlagnahmter Entarteter Kunst bestimmt worden war. 1942 erwarb der Kölner Kunstsammler Dr. Josef Haubrich das Bild. Seine Sammlung expressionistischer Kunst hat die Jahre des Nationalsozialismus überlebt. Seit 1946 heißt es im Wallraf-Richartz-Museum Köln: Otto Mueller Zwei Mädchenakte, Schenkung Dr. Haubrich.

 

Ein zweites Bild von Otto Mueller, Drei Frauen, um 1922 entstanden, wurde 1926 neben Arbeiten von  Klee, G. H. Wolff; Feininger, Heckel, Kokoschka, Nolde und Munch in der Sommerausstellung Moderne Abteilung der Galerie Goldschmidt & Wallerstein am Schöneberger Ufer 36 a gezeigt. Wenig später gehören die Drei Frauen zur Sammlung des Kaiser-Wilhelm-Museums in Krefeld. 1937 wurde es vom Staat konfisziert und ab 19. Juli in München unter der Nummer 15972 als Entartete Kunst präsentiert. 1939 befindet es sich auf der Auktion in Luzern zum Schätzwert von 600 Schweizer Franken unter der Los-Nummer 100. Für 310 Schweizer Franken hat es der Kunsthändler Pierre Matisse für den Verleger Joseph Pulitzer in Saint Louis gekauft. 1958 gehört das Bild zur Sammlung des The Saint Louis Art Museum. Am 30. April 1989 kann das Brücke-Museum Berlin das Gemälde auf der Auktion von Christie's London erwerben.

 

Das dritte Bild, Damenbildnis, Öl auf Leinwand, gehörte zur Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums in Köln. 1937 wurde es konfisziert. 1939 befindet es sich auf der Auktion in Luzern zum Schätzwert von 600 Schweizer Franken unter der Los-Nummer 99. Es wurde nicht verkauft. Angenommen wird, dass das Bild schließlich auch beim Kunsthändler Hildebrand Gurlitt in Hamburg landete. Der Verbleib war (zumindest bis 1992) unbekannt

 

Bilder von Otto Mueller
Quadriga und Belegschaft 1958. Archiv Noack

Varziner Straße Nr. 16

Bildgießerei Hermann Noack

 

Am 3. August 1958 um sechs Uhr morgens klingelte Werkmeister Schenk seinen Chef aus dem Bett: Die Quadriga ist weg! Der 26-jährige hatte gerade erst die Leitung der Bildgießerei Hermann Noack von seinem Vater übernommen. Nun war er verantwortlich für die Fertigstellung der Schadowschen Figurengruppe auf dem Brandenburger Tor. Am Vortag hatte er die in seiner Werkstatt rekonstruierte – immerhin fünf Meter hohe und in Kupfer getriebene – Skulptur auf dem Pariser Platz abgestellt. Und nun sollte sie verschwunden sein? Ich hab mich sofort angezogen und bin dann mit dem Auto dahin gefahren. Und die Quadriga war wirklich weg! In der Nacht hatte die DDR die Einzelteile zusammengepackt und heimlich in den Neuen Marstall verfrachtet.

 

Als die Quadriga nach Monaten wieder auftauchte und auf dem Brandenburger Tor installiert wurde, fehlten der wagenlenkenden Siegesgöttin Viktoria das Eiserne Kreuz und der Preußenadler. Man hätte es sich denken können, dass Ost-Berlin die originalgetreue Rekonstruktion nicht so ohne weiteres hinnehmen würde. Als der Ost-Berliner Magistrat am 21. September 1956 beschlossen hatte, das im Zweiten Weltkrieg beschädigte Brandenburger Tor zu erneuern, musste auch die Quadriga vollständig neugeschaffen werden – allerdings ohne die Embleme des preußisch-deutschen Militarismus.

 

 

 

 

 

Den Auftrag erhielt die West-Berliner Bildgießerei Hermann Noack. Die Firma hatte im Osten einen guten Ruf. Bereits 1945 hatte sie die von Bildhauer Lew E. Kerbel (1971-2003) geschaffene überlebensgroße Bronzefigur des Sowjetsoldaten für das Sowjetische Ehrenmal im Tiergarten gegossen. 1949 wurde Noack wieder gerufen, als es galt, den Entwurf des Schöpferkollektives unter der Leitung des Architekten Jakow S. Belopolski, des Bildhauers Jewgeni W. Wutschetitsch, des Malers Alexander A. Gorpenko und der Ingenieurin Sarra S. Walerius für das Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park in Bronze umzusetzen.

 

Das Familienunternehmen wurde 1897 gegründet. Zwei Jahre später entstand in der Fehlerstraße Nr. 8 die Werkstatt der Bildgießerei Hermann Noack, inzwischen die bedeutendste Bronzegießerei in Deutschland. Zur Geschichte des Hauses gehört, dass über mittlerweile vier Generationen der jeweilige Chef des Hauses den gleichen Vornamen trägt: Von Hermann I. (1867–1941) ging es zu Hermann II. (1895–1958). Gegenwärtig leitet Hermann III. (geboren 1931) zusammen mit seinem Sohn Hermann IV. (geboren 1966) die Firma.

 

Zur Tradition gehört aber wohl auch, dass gute Handwerker von je her ein gutes Verhältnis zu Künstlern, Kunsthändlern, Architekten, Galerien und Museen haben. Das begann mit dem  Tierbildhauer August Gaul (1869-1921), von dem 1899 (nicht nur) die Bronze der Stehenden Löwin gegossen wurde (heute im Museum Hanau-Großauheim), sondern nahezu sein gesamtes Lebenswerk – bis hin zur Skulptur Löwe im Kolonnadenhof der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel. Oder Wilhelm Lehmbruck (1881-1919), dessen Kniende sich heute im Museum of Modern Art in New York befindet. Wer ging in der Fehlerstraße nicht alles ein und aus: Reinhold Begas, Ernst Barlach, Georg Kolbe, Käthe Kollwitz, Bernhard Heiliger, Henry Moore, Anselm Kiefer, Joseph Beuys, Georg Baselitz und viele andere.

 

Noack hat mit seiner Handwerkskunst das Berlin-Bild geprägt: Die Goldelse auf der Siegessäule, der Große Kurfürst am Charlottenburger Schloss, Henry Moores Big Butterfly vor dem Haus der Kulturen der Welt, die Plastik Pieta von Käthe Kollwitz, 1937 erstmals in Bronze gegossen, dann 1993 als vergrößerte Kopie aufgestellt in der Neuen Wache, Rainer Fettings Willy Brandt im SPD-Haus an der Wilhelmstraße. Nicht zu vergessen Renée Sintenis. Aus ihrer bereits 1932 geschaffenen Bronze Junger Bär wurde der Goldene Bär der Berliner Filmfestspiele. Hunderte Berlinale-Bären hat die Bildgießerei Hermann Noack in der Fehlerstraße Nr. 8 bisher gegossen. Weitere werden folgen, allerdings nicht mehr aus Friedenau, sondern vom neuen Standort Skulpturenzentrum am Spreebord in Charlottenburg.

 

Ehemalige Bildgießerei Hermann Noack, Varziner Straße 16 & 17

Varziner Straße Nr. 16 & 17

 

Nachdem die Bildgießerei Noack 2010 ihre Werkstatt von der Varziner Straße Nr. 16 & 17 an das Spreeufer verlegt hatte, konnten Baupläne für das Grundstück entwickelt werden. Zum Zuge kam PROJECT Immobilien Wohnen AG Nürnberg, die parallel zum Stadtring an der Wexstraße bereits die einfallslosen Bauten ParkCarré und Studio Living Mikro-Apartments in die Höhe gezogen hat.Nun offeriert diese Firma in der Varziner Straße Nr. 16 & 17 ein Mehrfamilienhaus mit 39 Eigentumswohnungen in klassisch-zeitloser Architektur mit eleganter Fassade und harmonischer Bepflanzung in lila und weiß, dazu Personenaufzüge und Tiefgaragenstellplätze. Innen wird es auch schön, mit Echtholzparkett, Fußbodenheizung und stilvollen Ausstattungsdetails mit edlen Armaturen und hochwertiger Sanitärkeramik von Grohe, Keramag und Villeroy & Boch. Ein wahres Schnäppchen: Im EG 3 Zimmer mit Terrasse 88 m² zu 462.000 €, in den Obergeschossen 2 Zimmer mit Balkon auf 59 m² zu 351.000 € bis 4 Zimmer mit Balkon auf 104 m² zu 566.000 €. Selbstverständlich gibt es auch eine 4-Zimmer Dachterrassenwohnung auf 102 m² zu 696.000 €.

 

 

Vermarktet wird das alles unter dem Begriff Maison VIKTORIA, und gemeint ist damit die Goldelse auf der Siegessäule, die der Bildhauer Friedrich Drake (1805-1882) im Jahr 1873 geschaffen hatte und mittlerweile von der Firma Noack mehrmals vergoldet werden musste. Gewiss kein gutes Omen. Geworben wird mit bunten Bilderchen, Grass-Haus, Marlene-Grab, liebevoll geführte Nikolaische Buchhandlung, kleine, inhabergeführte und innovationsfreudige Lokale und Fachgeschäfte wie Tante Behrens Torten, Lula am Markt, dem nur wenige Hausnummern entfernten Ladengeschäft Süßkramdealer, in dem schon Hildegard Knef als Kind einkehrte, um für ihren Vater Tabak zu kaufen. Die Leute wissen jedenfalls schon vorab Bescheid.

 

Eckkneipe Strassenbahn, 1983. Foto Jürgen Henschel

Varziner Straße Nr. 23

Ecke Laubacher Straße Nr. 29

 

Das Eckhaus wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg errichtet. Im Erdgeschoss eröffnete Schankwirt Fehlauer eine Eckkneipe, die 1929 von den Wirtsleuten G. & H. Sengebusch übernommen wurde und schon 1930 an den Gastwirt Otto Rosenau abgegeben wurde. Alfred Bürkner berichtet in seinem Friedenau-Buch von 1996, dass sich hier unter dem Namen ‚Zur Rosenau‘ vor dem Zweiten Weltkrieg ein ‚Verkehrslokal‘ einer der fünf Schöneberg-Friedenauer Abteilungen der SPD befand. Dieses Lokal war – wie auch andere Versammlungsorte politisch missliebiger Parteien – häufiges Ziel von Überfällen durch die SA; allein im Januar und Februar 1933 erfolgten fünf Überfälle, wobei die SA auch vor Schießereien nicht zurückschreckte.

 

Das hier veröffentlichte Foto von der Eckkneipe Strassenbahn machte der Fotograf Jürgen Henschel 1983. In der Bildunterschrift heißt es: Bis 1933 SPD-Lokal ‚Zur Rosenau‘ in der Varziner- Ecke Laubacher Straße.