Jürgen Stich und Wiepersdorf
Es war der 21. September 1991. Der Historiker Gerd Heinrich (1931-2012), Professor für Historische Landeskunde an der Freien Universität Berlin, hatte Studenten zum Thema Adelskultur und Adelsherrschaft in der Mark Brandenburg zu einer Exkursion gebeten: Baruth, Blankensee, Kleinmachnow, Kloster Zinna und Wiepersdorf. Mit dabei Peter Hahn, der nach dem Mauerfall für die Frankfurter Allgemeine über den Osten Deutschlands berichtete. Monate später wurde er von der Stiftung Kulturfonds zum Gründungsdirektor von Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf berufen. Ein Haus für Stipendiaten sollte entstehen, Museum, Bibliothek und Archiv sollten aufgebaut und tagtäglich sollten Besucherscharen informiert werden. Jürgen Stich, der damals gerade mit seiner Magisterarbeit Die Herrschaft Wiepersdorf im 20. Jahrhundert beschäftigt war, wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter des Künstlerhauses.
Die Herrschaft Wiepersdorf im 20. Jahrhundert
Brandenburg war bis 1945 ein Teil Preußens. Die sowjetische Besatzungsmacht schuf 1945 die Provinz Mark Brandenburg. Die Gebiete östlich von Oder und Lausitzer Neiße gehörten nicht mehr dazu. Die Provinz erhielt 1947 den Status eines Landes und war bis 1949 Teil der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ), ab 1949 ein Land der DDR. Am 23. Juli 1952 wurde es aufgelöst. An seine Stelle traten die Bezirke Potsdam, Frankfurt/Oder und Cottbus. Erst mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde Brandenburg aus dem Wartesaal der Geschichte wieder ans Licht geholt. Das Bundesland Brandenburg, entstanden durch das Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990, ist Teil der Bundesrepublik Deutschland.
Die Herrschaft Wiepersdorf ist ein Ort, an dem sich geschichtliche Entwicklung sichtbar niedergeschlagen hat. Das gilt im Besonderen für das 20. Jahrhundert und namentlich für die Jahre von 1945 bis 1952, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen. Die Arbeit versteht sich mithin als ein Beitrag zur neueren Geschichte Brandenburgs.
Die Entwicklung bis 1800 wird nur abrisshaft geschildert. Ausführlicher werden Bettina und Ludwig Achim von Arnim gewürdigt, die Wiepersdorf im 19. Jahrhundert zu einem Ort der schönen Künste machten. Ein Blick auf das Wirken des Malers Achim von Arnim schließt den Teil der Arbeit ab, der die Vorgeschichte des 20. Jahrhunderts behandelt. In den Jahren 1900 bis 1945 war Gut Wiepersdorf ein landwirtschaftlicher Betrieb. Bei der Betrachtung dieser Jahrzehnte steht die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Herrschaft im Vordergrund. Mit Blick auf die Jahre nach 1945 schien es notwendig, auf die Beziehung einzelner Mitglieder der Familie von Arnim zum Ort Wiepersdorf einzugehen.
Der Hauptteil der Untersuchung beschäftigt sich mit den Jahren 1945 bis 1952. Drei Themen werden behandelt. Zum einen geht es um die Frage, in welcher Form Wiepersdorf nach 1945 als Herrschaft weiterexistierte, und wie sich Herrschaftskontinuität konkret ausdrückte. Zum anderen werden die Veränderungen in der Struktur von Dorf und Gut beschrieben, deren Tragweite bisher mit dem Begriff Bodenreform nur unzureichend erfasst wurde. Abschließend befasst sich die Arbeit mit der Deutschen Dichterstiftung Wiepersdorf, die den Ort weit über die lokale Bedeutung hinausführte und in den Mittelpunkt der kulturpolitischen Diskussion in der SBZ/DDR stellte.
Während für die Zeit bis 1945 auf Literatur zurückgegriffen werden konnte, die teils auf Archivstudien, teils auf persönlichen Erinnerungen derjenigen fußt, die am historischen Prozess beteiligt waren, basiert der Hauptteil der Arbeit auf Quellenmaterial, das bisher noch nicht ausgewertet wurde. Als ergiebig erwiesen sich die Bestände des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam, und dort vor allem die Dokumente des Ministeriums für Landwirtschaft und Forsten, des Ministeriums für Volksbildung und der Kreisverwaltung Jüterbog-Luckenwalde aus den Jahren 1945 bis 1952.
Über die Deutsche Dichterstiftung Wiepersdorf liegt bisher keine Untersuchung vor. Hier wurde Neuland betreten. Ergänzend zu den oben genannten Quellen waren für diesen Teil der Arbeit Bestände des Bundesarchivs, Außenstelle Berlin, und der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv hilfreich. Ausgewertet wurden Akten des Ministeriums für Volksbildung der DDR, der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) und des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands.
Ein Ziel der Untersuchung ist es, den Einfluss der Besatzungsmacht auf die Herrschaft Wiepersdorf in den ersten Nachkriegsjahren sichtbar zu machen. Darüber hinaus lassen die lokalen Ereignisse Rückschlüsse auf die deutschen Behörden des Landes Brandenburg und des Kreises Jüterbog-Luckenwalde zu. Die Arbeit bezieht sich auf einen begrenzten Raum. Diese Tatsache bringt es mit sich, dass immer wieder einzelne Menschen in den Mittelpunkt der Darstellung rücken. An ihrem Schicksal sollen die Brüche und Kontinuitäten verdeutlicht werden, die der Herrschaft Wiepersdorf, wie auch der übrigen Mark Brandenburg im Laufe des 20. Jahrhunderts einen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt haben.
Jürgen Stich, 1997
Eröffnung der neuen Bibliothek
Eine Bibliothek, die diesen Namen verdient hätte, gab es im Frühjahr 1992 in der ehemaligen „Arbeits- und Erholungsstätte“ nicht. Vorhanden waren einige Werke von Autoren, die in der Vergangenheit hier häufig preiswerten Urlaub machen konnten. Auf Bitten des Künstlerhauses spendeten Verlage Bücher, mit denen der Grundstock für eine Bibliothek gelegt werden konnte.
Am 3. Januar 1993 konnte Jürgen Stich in die neue Bibliothek im Obergeschoss des ehemaligen Inspektorhauses einladen. Zur Eröffnung sprach Hans Joachim Schädlich. Wenige Tage zuvor hatte er am 18. Dezember 1992 in Köln den Heinrich-Böll-Preis erhalten.
Hans Joachim Schädlich kehrte den „den Slogan vom ‚Schriftsteller und Bürger‘ um: „Ich rede einfach als Bürger, der den Schriftstellerberuf ausübt. Der Schriftstellerberuf verschafft mir die Gelegenheit, als Bürger Gehör zu finden ... Ein überwiegender Teil der ostdeutschen oder DDR-Intellektuellen war allzusehr geneigt, die wirkliche Unwirklichkeit zu lieben. Wolf Lepenies, dem ich wörtlich folge, hat es so gesagt: ‚Die Intellektuellen in der DDR haben, mit Ausnahmen, das staatssozialistische Regime nicht bekämpft: sie haben es geflohen oder, in beflissener Kollaboration oder mürrischer Anpassung, seine Subventionen erduldet. Und wenn sie in den Jahrzehnten, die die DDR existierte, etwas lernten, so war es die Kunst, beherrscht zu werden … Nein, diese Intellektuellen - von Stephan Hermlin bis Heiner Müller - waren keine Dissidenten, und wir Westdeutschen, die wir nicht in Versuchung geführt wurden, sollten ihnen Feigheit nicht vorwerfen. Aber wenn sich, bis hin zu den Funktionären …, Gruppierungen der Intelligenz, die sich gestern noch ihrer Nähe zur Nomenklatura rühmten; auf einmal geschlossen als innere Emigranten und als Mitglieder der DDR-Resistance zu erkennen geben, muss ihnen kühl entgegnet werden: ,Mit euch war Staat zu machen!‘
Die ‚Nähe zur Nomenklatura‘ reichte weit — bis in die Germanistik. Vertreter der DDR-Germanistik liehen dem Staatssicherheitsdienst als ‚Sachverständigen-IM‘ ihre Dienste. In den Akten, die der Staatssicherheitsdienst über mich geführt hat, fand ich ein sogenanntes literarisches Gutachten aus dem Sommer 1977 - damals lebte ich noch in der DDR -, das von der Hand eines solchen Komplizen-Wissenschaftlers und Schreibtischtäters stammt. Das Fazit dieses Gutachtens bestand einfach darin, mich der Untersuchungsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit und der politischen Strafjustiz der DDR knapp zu empfehlen. Ich verdanke es auch der Solidarität von Schriftstellern aus der Bundesrepublik, vor allem Günter Grass, dass es nicht zu einem politischen Strafprozess gegen mich kam und dass ich die DDR drei Monate nach der Handreichung des germanistischen Sachverständigen-IM verlassen konnte.
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1997 veröffentlichte Hans Joachim Schädlich im Wallstein-Verlag den Text „Schloßspuk“:
Weil es den Mauer-Staat nicht mehr gab und nicht seine Herren und seine Partei, war das Schloss frei geworden. Es sollte aber den Künsten dienen. Den Künsten dient es ehestens, wenn es freien Künstlern dient, die Wohn- und Arbeitsräume vorfinden und ein Geld für die Zeit des Aufenthaltes. Wer, da nicht mehr eine einzige Partei, sollte die Künstler auswählen, die aus allen Himmelsrichtungen herbeizuholen waren? Das sollte ein Kollegium von Preisrichtern aus zwei Himmelsrichtungen tun, und diesem Kollegium gehörte ich anfangs an. Die Preisrichter trafen sich im Schloss, redeten lange, aßen, tranken, redeten lange und legten sich für eine Nacht nieder nach der Wahl von Künstlern, die sich für einige Zeit sorgenfrei im Schloss aufhalten können sollten.
In der Nacht träumte mir, es sitze ein Fürsprech des verblichenen Mauer-Staates, seiner Herren und seiner Partei auf der nächtlichen Terrasse. Es war mir, als trinke der Mann eine Flasche Wein und stoße von Zeit zu Zeit Verwünschungen aus. Er verfluchte den neuen Chef des Schlosses und drohte, dieser möge nur herauskommen, dann werde er dem schon die Fresse polieren. Im Traum erblickte ich am nächsten Morgen auf der Terrasse aber wirklich den Mann, der mir des Nachts erschienen war. Er hing im Stuhl und schlief. Alsbald erhob er sich, legte sich bäuchlings auf die Parkwiese und schnarchte. Ich meinte, er träume von den Tagen, da er im Schloss Umgang mit anderen Nutznießern des hingeschwundenen Staates gepflegt und sodann in einem Schlossbett genächtigt hatte. Als der Mann von der Anstrengung seiner Flüche genesen war, wanderte er im Schlosspark umher. Ich wollte meiner Traumfigur leibhaftig begegnen und ging zu ihm hin. Er sagte mir: „Das ist unser Schloss!“ und zählte die Leute her, die seine Genossen und Träger herrscherlich geschätzter Namen gewesen waren. Er aber hatte sich aus dem westlichen Landesteil auf den Weg zum Schloss gemacht, damals und diesmal.
In Wirklichkeit hatte ich diesen Spuk nicht in der Nacht nach einer Zusammenkunft des Preisrichterkollegiums geträumt. Ich hatte ihn erlebt in der Nacht nach dem Fest, das gefeiert wurde, weil das Schloss frei geworden war.