Es war schon ungewöhnlich, dass die Straße Am Friedhof noch zu Lebzeiten von Adolf Fehler im Jahr 1897 in Fehlerstraße umbenannt wurde. 1886 war der Eichmeister a. D. Adolf Fehler (1828-1903) von Magdeburg nach Friedenau gezogen. Schon bald saß der pensionierte Beamte im Verschönerungsverein. 1889 war er im Gemeindekirchenrat. Als Major a. D. Albert Roenneberg (1842-1906) im Jahr 1892 von seinem Bruder Georg (1834-1895) das Amt des Gemeindevorstehers übernahm, machte er Fehler zum Gemeindeschöffen und stellvertretenden Amts- und Gemeindevorsteher. Da beide Herren davon überzeugt waren, dass Friedenau nur über eine Vereinigung mit der Stadtgemeinde Schöneberg eine Zukunft haben würde, bastelten sie bis 1899 an einem dann doch nicht wirksam gewordenen Vereinigungsvertrag von Schöneberg und Friedenau. Ein Jahr zuvor war Fehler für die nächste sechsjährige Amtsperiode von 1898 bis 1904 als Schöffe wiedergewählt worden: Seine Verdienste um unseren Ort sind in allen Kreisen der Bürgerschaft bekannt. Ungeteilte Anerkennung findet besonders seine rege Tätigkeit, die er für das äußere Aussehen Friedenaus stets entfaltet hat und auch zurzeit entwickelt. Die Schmuckanlagen und Plätze unseres Ortes sind denn auch unter dieser Pflege vortrefflich gediehen und das grüne stille Friedenau verdankt seine Berühmtheit nicht zum wenigsten seinem verdienstvollen Schöffen. Auch für die Verschönerung unseres Friedhofs hat er alles Erdenkliche getan.
Aufgeschreckt wurden die Gemeindevertreter durch eine Meldung im Friedenauer Lokal-Anzeiger vom 17. März 1899: Der Bau zweier großen Bildhauer-Ateliers ist in Friedenau projektiert. Herr Noack (Deutsch-Wilmersdorf) errichtet zwischen Fehler-und Varzinerstraße ein Atelier, dessen Rohbau bereits stark gefördert ist, während Herr Bildhauer Casal in der Wilhelmstraße an der Ecke der Kaiserallee ein größeres Atelier erbauen wird, zu welchem die Bauzeichnungen bereits eingereicht sind. So ganz korrekt war die Sache mit den Baugenehmigungen wohl nicht gelaufen. Gemeindevertreter Kunow erlaubte sich während der Gemeindevertretersitzung am 17. März 1899 die Bemerkung, es handelt sich hier um eine Straße, welche noch nicht definitiv gepflastert und kanalisiert ist, weshalb ortsstatutarisch bei Bauten die Gemeindevertretung ihre Genehmigung zu erteilen hat. Nun aber sei das Haus schon halb heraus. Roenneberg erwiderte, die Sache datiere weiter zurück. Er ersuche jetzt um die Genehmigung für diesen Bau. Schöffe Adolf Fehler sprang zur Seite: Der Gemeindevorstand habe geglaubt, die im Villenterrain liegende Straße sei bebauungsfähig, da sie doch gepflastert sei. Der Gemeindevorstand werde sorgen, dass nicht wieder ohne Genehmigung gebaut werde. Gemeindevertreter Wille betonte die Notwendigkeit, dass nach gleichen Grundsätzen verfahren werden müsse. Bei Neubauten sei an den 30 M. pro laufenden Meter Straßenfront für die Kanalisation festzuhalten und die Pflasterkosten für definitives Pflaster seien zu bezahlen oder zu hinterlegen. Andere Herren erklärten, dass die Fehlerstraße ihres provisorischen Pflasters wegen als eine ,Fehler-Straße‘ zu bezeichnen sei und dass dies Pflaster nicht als definitives zu betrachten sei..
Als Albert Roenneberg den Posten aufgab, übernahm Fehler 1902 das Amt als Gemeindevorsteher. Da den Gemeindevertretern längst klar geworden war, dass die Geschicke des Ortes nicht länger im „Vereinsstil“ zu bewältigen waren, Verwaltung und Infrastruktur nicht im gleichen Maß wie die Siedlung mitgewachsen waren, holten sie zum 1. April 1903 den Verwaltungsfachmann Bernhard Schnackenburg (1867-1924) als Bürgermeister nach Friedenau. Wenige Tage zuvor war Adolf Fehler am 27. März 1903 an den Folgen einer Blinddarmentzündung verstorben und auf dem Friedhof Stubenrauchstraße beigesetzt worden.
Mit den Bauplänen für den Westen von Friedenau erfolgte 1906 eine Änderung des Bebauungsplanes: Der Südwestkorso, der an der Ringbahnbrücke Kaiserallee beginnt, über den Hamburger Platz schräg nach Taunus- Ecke Rheingaustraße bis Wiesbadener- Ecke Laubacher Straße unsere Gemarkung durchschneidet, geht dann auf Wilmersdorfer Gebiet bis Dahlem. Gemeindebaurat Altmann erläuterte, dass die Straße am Friedhof weiter nach Süden verlegt wird, die Rheingaustraße wird von dieser Straße bis zur Fehlerstraße, die verlängert wird, unterbrochen und der Block bis zur Laubacher Straße dem Kirchhof zugefügt. Der Kirchhof bildet danach ein zusammenhängendes Stück. Die Änderung des Bebauungsplans hatte eine neue Nummerierung der Grundstücke zur Folge. Aus der Anschrift für Bildgießerei Noack Fehlerstraße Nr. 2 wurde nun Fehlerstraße Nr. 8. Hinter diesem Anwesen erwarb Hermann Noack später das Areal Varzinerstraße Nr. 16 für Formerei, Gießerei, Ziselierwerkstatt und Wohnhaus.
Adolf Fehler (1828-1903)
Adolf Fehler war Königlicher Eichmeister in Magdeburg. Mit 58 hatte er sich 1886 pensionieren lassen. Sein Sohn Max (1861-1926) hatte Magdeburg bereits 1880 verlassen und eine Anstellung im Berliner Polizeipräsidium gefunden. 1885 war er in den I. Stock der Schmargendorfer Straße Nr. 11 gezogen, in das Haus von Rechnungsrat Otto Bauer (1845-1897), der seit 1874 mit seiner Schwester Emma verheiratet war.
Vater Adolf Fehler hatte sein Magdeburger Haus Thränsberg Nr. 37 verkauft und war 1887 mit Ehefrau Doris geb. Irmschläger (1823-1899) nach Friedenau auch in die 1. Etage der Villa Schmargendorfer Straße Nr. 11 seines Schwiegersohnes Otto Bauer und dessen Ehefrau Emma, seiner Tochter, gezogen. Der 59-jährige Eichmeister a. D. konnte sich mit dem Ruhestand nicht abfinden, sah wohl auch, dass die aufstrebende Gemeinde mit der Amtsverwaltung Schwierigkeiten hatte. So ließ er sich erst einmal zum Vorstand des Verschönerungsvereins und 1889 in die Kirchenvertretung wählen. Als Major a. D. Albert Roenneberg (1842-1906) von seinem Bruder Georg Roenneberg (1834-1895) das Amt des Gemeindevorstehers übernahm, holte der sich Adolf Fehler am 25. Mai 1892 als Gemeindeschöffen und stellvertretenden Amts- und Gemeindevorsteher – zuständig für Park- und Friedhofsverwaltung.
Sohn Max machte inzwischen Karriere als Beamter. Nachdem er zum Geheimen Registrator im Auswärtigen Amt erhoben worden war, heiratete er 1891 Clara Löbner (1867-1949). Das Ehepaar zog in die Ringstraße Nr. 19. Dort kam Tochter Hildegard Fehler zur Welt (1894-1988). Als die Löbnerschen Wohnhäuser Niedstraße errichtet waren, zog die Familie 1901 als Mieter in eine 7-Zimmerwohnung in Nr. 4. Der leidenschaftliche Turner Max Fehler wurde schließlich Geheimer Hofrat und kümmerte sich als Mitbegründer vor allem um den Männer-Turnverein von Friedenau. Nach dem Ende des Kaiserreichs zog der 57-Jährige den Gang in den Ruhestand vor. Sein Ende ist tragisch. Am 4. Dezember 1926 wurde er auf dem Lauterplatz von der Elektrischen überfahren. Seine Frau Clara überlebte ihn um 20 Jahre. Sie starb am 5. Februar 1949.
Zurück zum Vater Adolf Fehler: 1898 wurde er für eine weitere sechsjährige Amtsperiode als Schöffe einstimmig wiedergewählt: Seine Verdienste um unseren Ort sind in allen Kreisen der Bürgerschaft bekannt. Ungeteilte Anerkennung findet besonders seine rege Tätigkeit, die er für das äußere Aussehen Friedenaus stets entfaltet und entwickelt hat. Die Schmuckanlagen und Plätze unseres Ortes sind denn auch unter dieser Pflege vortrefflich gediehen und das grüne stille Friedenau verdankt seine Berühmtheit nicht zum wenigsten seinem verdienstvollen Schöffen. Auch für die Verschönerung unseres Friedhofs hat Herr Fehler alles Erdenkliche getan. Zu seinen Ehren wurde 1897 die am Friedhof entlang führende Straße Fehlerstraße getauft.
Roenneberg und Fehler betrieben Verhandlungen mit Schöneberg und unterzeichneten 1899 den nicht wirksam gewordenen Vereinigungsvertrag von Schöneberg und Friedenau. Als Albert Roenneberg aus gesundheitlichen Gründen den Posten aufgab, übernahm Fehler im Juli 1902 vorübergehend das Amt als Gemeindevorsteher. Da den Gemeindevertretern längst klar geworden war, dass die Geschicke des Ortes nicht länger im „Vereinsstil“ zu bewältigen waren, Verwaltung und Infrastruktur nicht im gleichen Maß wie die Siedlung mitgewachsen waren, holten sie zum 1. April 1903 den erfahrenen Verwaltungsfachmann Bernhard Schnackenburg (1867-1924) als Bürgermeister nach Friedenau. Diese Amtsübernahme hat Adolf Fehler nicht mehr erlebt. Wenige Tage zuvor war er am 27. März 1903 an den Folgen einer Blinddarmentzündung verstorben und auf dem Friedhof Stubenrauchstraße beigesetzt worden. Die Grabstätte (Abt. 18/1-1) ist erhalten – neuerdings mit einem Schild der Friedhofsverwaltung versehen: Nutzungsrecht abgelaufen – Bitte in der Friedhofsverwaltung vorsprechen.
Zu befürchten ist, dass das Bezirksamt Schöneberg die Gräber von Adolf Fehler (1823-1903), seiner Frau Doris geb. Irmschläger (1823-1899), seines Sohnes Max (1861-1926), dessen Frau Clara geb. Löbner (1867-1949) sowie die Urne von Hildegard Fehler (1894-1988) demnächst einebnet und damit wiederum ein weiteres Stück Friedenauer Familiengeschichte entsorgt - weil Schöneberg (einzig aus Kostengründen) keinen Schutz für regionalgeschichtlich bedeutsame Grabstätten für nötig befindet.
Fehlerstraße Nr. 1
Wilhelm Lehmbruck (1881-1919)
Von Paris nach Berlin
Es begann am 28. Juli 1914 mit einem Lokalkrieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien. Mit den Kriegserklärungen des Deutschen Reiches an Russland und Frankreich in den ersten Augusttagen wurde daraus ein Kontinentalkrieg. Wilhelm Lehmbruck, der seit 1910 mit Ehefrau Anita und den Söhnen Gustav Wilhelm und Manfred in Paris lebte, organisierte einen schnellen Umzug der Familie nach Deutschland, manches ist zurückgeblieben, und eine Reihe von Bronzen liegen auf der Strecke Paris-Berlin, die hier nicht mehr angekommen. Im Oktober 1914 machte er sich in Berlin auf die Suche nach einer neuen Bleibe. Behilflich könnte ihm dabei sein Freund und Schriftsteller Dr. phil. Hans Bethge (1876-1946) gewesen sein, der seit 1913 in der Landauer Straße Nr. 5 in Wilmersdorf wohnte.
Am 7. November fand Lehmbruck im Haus von Klempnermeister R. Kautz in der Wilhelmshöher Straße Nr. 5 ein Domizil, zog aber am 20. November in ein hübsches Atelier mit einer netten Wohnung in die Rubensstraße Nr. 26. Zum 9. Dezember 1914 hatte er eine eigene Parterre in der Fehlerstraße Nr. 1 – unmittelbar am Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau und unweit der Bildgießerei von Hermann Noack. Eigentümer und Baumeister des Hauses war Töpfermeister Georg Karmann, der 1903 auf der Jubiläumsausstellung des Vereins für deutsches Kunstgewerbe in Berlin mit einem außergewöhnlichen Kaminofen glänzte. Das Haus gibt es noch immer. Es steht sogar unter Denkmalschutz, obwohl ein ungewöhnlich mächtiger Dachausbau das Aussehen entscheidend verändert hat. Eine Aufnahme vom ursprünglichen Zustand ist im Archiv des Schöneberger Museums nicht vorhanden. Die Topographie Friedenau veröffentlichte 2000 ein Foto von 1999:
Weithin wirkt die mächtige, von einem hohen Rundgiebel beherrschte Fassade des Doppel-Mietswohnhauses Südwestkorso 4 Ecke Fehlerstraße 1 in das Straßenbild. Das Doppelhaus hat Aufgänge am Südwestkorso und an der Fehlerstraße. Der Kopfbau zum Korso hin mit dem Rundgiebel ist zehnachsig, der Flügelbau in der Fehlerstraße fünfachsig. Die beiden Fassaden sind jeweils symmetrisch aufgebaut: Der Kopfbau wird durch je einen Standerker beiderseits der Mittelachse gegliedert, zwischen denen in jedem Geschoss durchlaufende Balkons angeordnet sind. Der große Rundgiebel darüber ist durch schmale Ziegellisenen in der verputzten Fassade gegliedert, desgleichen die Erker und das gesamte zweite und dritte Obergeschoss. Der Haupteingang seitlich der Mittelachse wird durch ein großes Portal mit Marmorsäulen und Dreiecksgiebel (im Tympanon ein Frauenkopf) betont. Der Flügelbau Fehlerstraße 1 wird durch einen Mittelerker, unter dem sich der zweite Eingang befindet, und flankierende Balkons gegliedert. Das Erdgeschoss ist durch Putznutung als Sockelzone ausgewiesen, die Obergeschosse sind glatt verputzt. Das Haus wirkt – trotz des Dachausbaus – durch seinen ungewöhnlichen Rundgiebel als herausragender Orientierungspunkt am Südwestkorso.
Nach dem Adressbuch von 1914 gab es beim Einzug von Lehmbruck in dem Doppelhaus Fehlerstraße Nr. 1 Ecke und Südwestkorso Nr. 4 eine bunte Mischung von Mietern, darunter Sattler, Schneider, Töpfer, Gastwirt und Obsthandlung sowie Kunstmaler E. Frey, Architekt G. Friese, Bildhauer P. Henning und die Buchhändler G. Hildebrandt und M. Pfeil. Am 6. Mai 1915 schreibt Lehmbruck an Max Sauerlandt: Hier macht man wieder Kunstausstelungen – auch ein Beweis von Deutschlands Kraft; zurzeit hat die Neue Münchener Sezession eine Ausstellung am Pariser Platz; ich sende Ihnen in den nächsten Tagen etwas davon. In letzter Zeit kauften, außer Private, mehrere Galerien wie Mannheim, Essen und Danzig meine Arbeiten. Die freien Stunden, die mir als Sanitäter bleiben, verwende ich dazu, in künstlerischen Dingen zu arbeiten.
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Freiwillige Sanitätskolonne von Friedenau
Nach seiner Rückkehr wurde Lehmbruck bei der polizeilichen Anmeldung in seiner Heimatstadt Duisburg am 1. August 1914, dem Tag der Kriegserklärung des Deutschen Reiches gegen Russland, wegen Schwerhörigkeit vom Militärdienst freigestellt und als Reservist (Landsturm ohne Waffe) eingeteilt.
In Berlin war ihm nicht entgangen, dass aus dem gerade vollendeten Bau der III. Gemeindeschule an der Ecke Offenbacher-, Laubacher- und Fehlerstraße am 8. Dezember 1914 ein Reservelazarett wurde: Das Lazarett, das unsere Gemeinde in der dritten Gemeindeschule einrichtet, wird 600 Betten erhalten. Die Verwaltung des Lazaretts wird, wenn nicht von der Militärverwaltung andere Wünsche geäußert werden, unsere Gemeinde selbst übernehmen. Am 19. Dezember wurden die ersten Verwundeten aufgenommen.
Im April 1915 erscheint im Friedenauer Lokal-Anzeiger ein Aufruf an die Einwohner von Friedenau: Die Freiwillige Sanitätskolonne vom ‚Roten Kreuz‘ Friedenau bedarf neuer Kameraden, um den immer mehr gesteigerten Anforderungen gerecht zu werden. Am 7. April 1915 beginnt die Ausbildung neuer Sanitäre. Zeigt, dass die deutsche Bruderliebe kein leeres Wort ist.
In Friedenau soll er im März 1915 in Vorbereitung auf den Sanitätsdienst Fahrstunden absolviert haben. Es kann davon ausgegangen werden, dass er von Mai 1915 bis November 1916 bei der Freiwilligen Sanitätskolonne Friedenau tätig war. Dort traf er den Maler Arthur Degner (1888-1972), der inzwischen in der Lefèvrestraße Nr. 19 wohnte. Was die Sanitäter Lehmbruck und Degner nun erlebten, lässt sich am ehesten aus einigen ausgewählten Berichten des Friedenauer Lokal-Anzeiger erahnen.
Die Sanitätskolonne wurde am 4. Januar 1915 abends 8 Uhr zu einem Lazarettzug gerufen, der mit 270 Schwerverwundeten auf dem Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau eingetroffen war. Am Morgen um 3 Uhr fand das Ausladen der Verwundeten und Überführen in das Reservelazarett statt. Am 5. Januar um 12 ½ Uhr war die Aktion beendet. Über 600 verwundete Krieger beherbergt jetzt unser Reservelazarett. Leider hat auch der Tod schon manches Opfer gefordert. Fast täglich erliegt einer der Schwerverletzten seinen Wunden.
Am 13. Januar 1915 war auf dem Bahnhof Westend ein Lazarettzug mit 180 Schwerverletzten aus dem Osten eingetroffen. Am Dienstag früh ½ 7 Uhr traf die Kolonne auf dem .Bahnhof Westend ein. Sie hatte dort bis ½ 2 Uhr nachmittags zu tun.
Im März 1915 wurde die Sanitätskolonne in fünf Tagen achtmal alarmiert, um auf den Bahnhöfen Westend, Schlesischer und Anhalter Bahnhof, Wilmersdorf-Friedenau und Tempelhof tätig zu werden. Die Kolonne war in diesen Tagen oft von 7 Uhr früh bis nach Mitternacht unterwegs.
Der 139. Alarm führte die Sanitätskolonne am 23. September 1915 gegen 6 Uhr zum Ostbahnhof, wo ein Lazarettzug mit 350 Verwundeten eingetroffen war.
Am 25. Februar 1916 wurde die Sanitätskolonne mit dem 163. Alarm nach dem Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau gerufen, wo ein Verwundetenzug aus dem Osten eingetroffen war. Zum ersten Male wurde hierbei das eigene Krankenautomobil unserer Kolonne benützt.
Der 165. Alarm führte unsere Sanitätskolonne am 27. Februar 1916 nach dem Güterbahnhof Neukölln. Nachdem dort einige Verwundeten aus dem dort eingetroffenen Lazarettzug nach Lazaretten gebracht waren, fuhr die Kolonne mit dem Lazarettzug zum Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau, wo gegen 1 Uhr nachts die weitere Ausladung für das Reservelazarett in der Offenbacher Straße erfolgte.
Da sich das Lehmbrucksche Atelier nur wenige Schritte vom Reservelazarett befand, Degners Wohnung in der Lefèvrestraße aber am anderen Ende von Friedenau, ist davon auszugehen, dass er nach diesen Einsätzen häufiger in der Fehlerstraße nächtigte. Dies ist einem Brief von Arthur Degner vom 7. März 1967 zu entnehmen: Wir wohnten beide in Friedenau, und da auch er ein fleißiger Spaziergänger war, trafen wir uns öfter zunächst zufällig, später mit Verabredung und absolvierten unsere Wanderungen auf dem damals noch unbebauten Dahlemer Gelände bis in den Grunewald. Wir hatten dabei oft gemeinsame Gedankengänge, auch konforme Anschauungen. Wir wurden uns sehr sympathisch, zumal unser Naturell sich in manchem berührte. Zwar war ich fröhlicher und weltaufgeschlossener als der wortkarge und vertiefte Westfale, was ihm offenbar wohltat. Da ihm meine langen Glieder gefielen, bat er mich, ihm für einige Figuren Modell zu stehen. Er zeichnete und modellierte Verschiedenes, am eifrigsten an der ‚sitzenden Jünglingsfigur‘. Später bat er mich auch um mein Einverständnis, die lebensgroße Figur des sitzenden Jünglings, zu der ich ihm etwa 10-12 mal Modell stand, ‚Der Freund‘ nennen zu dürfen.
Über das, was Wilhelm Lehmbruck 1915/16 im Atelier Fehlerstraße Nr. 1 im Zusammenhang mit den Skulpturen Sterbender Krieger (Der Gestürzte) und Sitzender Jüngling skizziert hat, streiten sich die Kunsthistoriker bis heute, weil hierfür keine über die stilistischen und inhaltlichen Bezüge hinausgehenden Belege vorliegen und weil sie außerdem nicht gesichert datiert sind.
Halten wir uns an die Monographie Wilhelm Lehmbruck des Kunstkritikers Paul Westheim (1886-1963), der in seinem Vorwort mitteilt, dass der Plan dieses Buches schon im Jahre 1917 mit Lehmbruck verabredet war. Wenige Tage vor seinem Ende, das letztemal, dass wir zusammen waren, brachte er noch einmal das Gespräch auf das beabsichtigte Buch. Im Sommer 1919 erschien im Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam die erste Auflage, im Januar 1922 die zweite. Darin als Abbildungen drei Skizzen zum Sterbenden Krieger, die Zeichnung Stürzender Fechter (Berlin), ein Foto (offensichtlich aufgenommen in der Sezessions-Ausstellung) vom Sterbenden Krieger (Berlin 1915/16) als Gipsmodell und der Sitzende Jüngling (Gips) mit der Anmerkung Berlin und Zürich 1916/17, Frankfurt, Städt. Galerie.
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Ausstellung der Freien Sezession Berlin 1916
Am 4. Februar 1916 wurde am Kurfürstendamm die Ausstellung der Freien Sezession Berlin eröffnet, darunter von Wilhelm Lehmbruck laut Katalog eine Kollektion von Zeichnungen und Radierungen, Emporsteigender Jüngling (Kunststein), Torso (Kunststein), Statuette (Steinmasse) sowie unter dem Titel Sterbender Krieger eine auf den Boden gestürzte feingliedrige Gestalt mit dem nach unten gebeugten Kopf, die während seines Lazarettdienstes im Atelier in der Fehlerstraße Nr. 1 entstanden ist.
Verständnislos stand die Mehrzahl der Kritiker dem Sterbenden Krieger (Der Gestürzte) gegenüber. Sie kritisierten die Behandlung der Proportionen und übersahen gänzlich, dass Lehmbruck seine Skulptur als Sinnbild für den moralischen Zusammenbruch der Gesellschaft im Krieg und als Plädoyer für den Frieden geschaffen hatte.
Für Franz Servaes (Berliner Lokal-Anzeiger) zeigt Lehmbruck die überlebensgroße Figur eines nackten Jünglings als zusammengebrochenen sterbenden Krieger. Für Karl Scheffler (Vossische Zeitung) hat sich Lehmbruck auch jetzt noch nicht zurechtgefunden. Das Ungewöhnliche, worum er sich bemüht, gleitet unerfreulich zum Sensationellen hinüber. Das führt dann zum Absonderlichen, zum Gewaltsamen, zu einer Originalität, die keine ist. Lehmbruck will mehr sein, als er ist, darum ist er weniger, als er sein könnte. Fritz Stahl schreibt im Berliner Tageblatt vom 6. Februar 1916: Als ich gestern früh das Haus der Sezession betrat, fand ich mehrere Herren des Vorstandes sehr ernsthaft damit beschäftigt, in der Mitte des großen Saals den besten Platz und die beste Stellung für eine riesige Skulptur zu bestimmen. Das Bildwerk stellt einen Mann dar – aber nein! Es ist kein Mann, sondern etwas wie eine zerquetschte und ausgerenkte Atelierpuppe, und dieses Wesen liegt lang auf der Erde, stützt sich auf die Hände und versucht den Wirbel seines Kopfes auf den Boden zu bringen. Es schien mir gewiß, dass nicht alle Beteiligten dieses Monstrum ernst nehmen können. Andere schreiben von Lehmbrucks plastischem Unglück und wünschen, dass dieser Mikrokephale mit den unerhört langen Beinen, dem unerhört langen Hals in irgendeiner Jahrmarktsbude sein verdientes Ende finden wird.
Für Paul Westheim (1886-1963), Kunstkritiker, Kunstsammler, Publizist und von 1917 bis 1933 Herausgeber der tonangebenden Zeitschrift Das Kunstblatt, war der strenge Aufbau dieses ‚sterbenden Kriegers‘ gewiß die sprödeste und schwerst zugängliche von allen Arbeiten Lehmbrucks. Sie ist auf den ersten Blick eher abstoßend als gefällig, sie will auch vom Beschauer aus errungen werden. Die Unnahbarkeit aller größeren Schöpfungen ist ihr eigen; aber wenn sie sich erschließt in der ganzen Gedrungenheit ihrer Formenwucht, dann ist sie erschütternd. Für mich war dieser ‚Sterbende Krieger‘ ein unvergessliches Erlebnis.
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Suizid in Berlin
24. Januar 1919 Die Preußische Akademie der Künste wählt neue Mitglieder, darunter Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, Georg Kolbe, Lovis Corinth, Willy Jaeckel, Hans Purrmann und als erste Frau Käthe Kollwitz.
31. Januar 1919 Tagebuch Käthe Kollwitz Secessionsversammlung. Höre von Klimsch und Gaul, daß ich in die Akademie der Künste gewählt bin. Große Ehre, aber ein bißchen peinlich für mich. Die Akademie gehört doch zu den etwas verzopften Instituten, die beiseite gebracht werden sollten.
24. März 1919 Lehmbruck trifft sich mit dem Schriftsteller Fritz von Unruh (1885-1970), der als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg gezogen war und zum Pazifisten wurde. Vom Romanischen Café an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wandern sie durch den Tiergarten, unterhalten sich angeregt. Unruh begleitet Lehmbruck noch zu seinem Hotelzimmer, wo die beiden die Nacht hindurch reden, bevor er ihn alleine lässt.
31. März 1919 Tagebuch Käthe Kollwitz Soeben lese ich, daß Lehmbruck sich getötet hat, und zwar wegen Zerwürfnissen mit seiner Frau. Das ist mir kaum glaubhaft. Wie kann ein Mensch, der so an sein Werk glaubte, so ein kolossales Selbstgefühl hatte, sich wegen Zerwürfnissen mit der Frau töten? Es muß denn sein, daß er als Künstler gebrochen war. Wer kann das wissen?
3. April 1919 Berliner Tageblatt Tiefbetrübt zeige ich an, dass mein lieber Mann, der Bildhauer Wilhelm Lehmbruck, Mitglied der Akademie der Künste und des Vereins der Freien Sezession zu Berlin im Alter von 38 Jahren am 26. März plötzlich verstorben ist. Anita Lehmbruck. Die Beerdigung findet am Freitag, den 4. April, nachm. 3 ¾ Uhr, auf dem Neuen Zwölfapostelkirchhof zu Schöneberg, Tempelhoferstraße, statt.
4. April 1919 Tagebuch Käthe Kollwitz Lehmbrucks Begräbnis. Ein Freund (Hans Bethge) und E. R. Weiß sprechen an seinem Grabe. Als Freunde und Kameraden. Die Frau, jung, in hohen Stöckelschuhen, mit ratlos verweintem Gesicht, steht für sich allein. Die Trauerfeier leitet Pfarrer Rudolf Kleine von der Friedenauer Kirchengemeinde Zum Guten Hirten, der für den Seelsorgebezirk II (Fehlerstraße) zuständig ist.
Hans Bethge, Worte am Grab
Lieber Freund! Der Tod ist über Dich gekommen, so frühe wie das Schicksal es wollte, doch viel zu frühe für Deine Freunde und viel zu frühe für Deine Kunst. Deine Hände haben uns Unvergeßliches geschenkt, aber Du gehörtest nicht zu jenen, die ihre Entwicklung schnell vollenden, sondern Dein ganz verinnerlichtes Wesen war von langsamem Wuchs, und die winkenden Höhen Deiner künstlerischen Reife lagen noch vor Dir, — Du hast diese schönen Gebiete nicht mehr betreten dürfen, zu Deiner Freunde tiefstem Schmerz. Wir sind ärmer geworden durch Deinen Tod, — Träume und Visionen, die dazu geschaffen waren, uns das Leben reicher und beglückender emp* finden zu lassen, sind ausgelöscht für immer. Du warst ein einsamer Mensch, immer kämpfend und nach dem Höchsten strebend. Du hast mit Deinen Gesichten gerungen, wie nur ein Künstler es tut, dem die Gestaltung der Oberfläche nicht genügt, sondern der den Dingen bis zu ihren letzten, geheimnisvollen, im Göttlichen verankerten Wurzeln nachgeht. Du gehörst zu denen, die das Land der Griechen mit der Seele suchten und die auf dem dornenvollen Wege nach diesen holden Regionen erlahmten ... Du warst vom Schicksal nicht allzu fest in dieses Sein gestellt, und das Tempo Deiner Tage lief schnell. Die Sohlen Deiner Füße berührten die Erde gleich sam nur tastend, und Dein Haupt war immer in den Wolken. Du schrittest nicht über die Erde, sondern Du schwebtest über sie hin, und die vielen lauten Geräusche des Daseins ließest Du lächelnd an Dir vorübergleiten, es war Dir nicht von Wert, Dich unter sie zu mischen. Die Welt, die Du in Dir selber trugst, war viel zu reich und beschäftigte Dich viel zu sehr, als daß Dir die Welt der Außendinge hätte von Bedeutung sein können ... In Deinem Schaffen war alles Intuition und Instinkt und wenig Wille. Du warst ein Dahintreibender, keinen Prinzipien und keinem System verbunden, ein lässiger Wanderer, geleitet von inneren Kräften, von Offenbarungen heimgesucht, nicht selten von paradiesischen, aber zuweilen auch von quälerischen. Nicht der Wille war das Starke in Dir, sondern das Müssen, der unergründliche Wille von etwas Höherem, als Du selber warst, der Trieb des Schicksals.
Vermutlich hatte Hans Bethge die in Zürich zurückgebliebene Ehefrau Anita Lehmbruck geb. Kaufmann (1879-1961) über den Tod informiert. Er wohnte seit 1913 unweit der Fehlerstraße in der Landauer Straße Nr. 5 in Wilmersdorf und kannte sich mit den Friedenauer Gegebenheiten aus. Dafür sprechen die Todesanzeige im Berliner Tageblatt, die Wahl von Pfarrer Kleine und die Beisetzung nicht auf dem nahen kommunalen Friedhof Stubenrauchstraße, sondern auf dem evangelischen Neuen Zwölf-Apostel Kirchhof in Schöneberg im Grab Abt. 4 - Rh. 10 - Nr. 007.
Hans Bethge (1876-1946) war ein Bewunderer und Freund von Wilhelm Lehmbruck, der den Dichter mehrfach porträtiert hatte. Nun stand er der Witwe und Mutter der minderjährigen Söhne Gustav Wilhelm (1909-1978), Manfred (1913-1992) und Guido (1917-1985) zur Seite. Schon 1920 publizierte Bethge im Verlag von Alfred Richard Meyer in Wilmersdorf als Privatdruck in einer einmaligen Auflage von 600 Exemplaren Wilhelm Lehmbruck zum Gedächtnis, darin seine Gedichte An Wilhelm Lehmbruck und Auf einen Mädchenkopf (Skulptur von Lehmbruck) und seine Worte am Grabe.
Und da war auch noch Paul Westheim (1886-1963), Leiter des Berliner Feuilletons der Frankfurter Zeitung und Herausgeber der Monatszeitschrift Das Kunstblatt. Er wurde nach dem Selbstmord von Lehmbruck nicht müde, an den Künstler und Freund zu erinnern. Schon 1917 war der Plan eines Buches mit Lehmbruck verabredet. Wenige Tage vor seinem Ende, das letztemal, daß wir zusammen waren, brachte er noch einmal das Gespräch auf das beabsichtigte Buch; vielleicht hat er damals schon gewußt, daß es ihm und seiner Arbeit nicht mehr werde dienen können.
Im Sommer 1919 schreibt Westheim in seiner Steglitzer Wohnung Albrechtstraße 73A das Vorwort für die Monographie Wilhelm Lehmbruck, illustriert mit 86 Abbildungen und vom Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam publiziert: So mag es denn jetzt erscheinen als Gedenkbuch, das die Erinnerung wach hält an ein Schaffen, das eigenartig groß und von wenigen erst begriffen in der Zeit steht, und daß die künstlerische Entwicklung noch kaum auszuschöpfen begonnen hat. Ein Epitaph zugleich auf einen teueren Freund.
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Duisburg und Lehmbruck
Im Januar 1922 erscheint die Monographie von Paul Westheim in einer 2. Auflage – mit einem bemerkenswerten Vorwort und den in der Fehlerstraße entstandenen Skizzen zum Sterbenden Krieger (Der Gestürzte): Wenn gesprochen werden mußte von den Widerständen, die beim Tod des Künstlers sich immer noch diesem Schaffen entgegenstellten, so will es mir jetzt scheinen, als ob inzwischen der Kreis ernsthafter Kunstfreunde, der in dem Werk Lehmbrucks eine der schöpferisch künstlerischen Leistungen unserer Zeit und unseres Volkes erblickt, merklich gewachsen wäre.
Nicht zuletzt mag das verdankt sein dem unermüdlichen Eifer, mit dem die Witwe des Künstlers es sich angelegen sein läßt, das Werk zu erhalten und sichtbar zu machen; haben doch die Gedächtnis-Ausstellungen, die sie in zahlreichen Städten Deutschlands gezeigt hat, eigentlich zum ersten Mal auch einer breiteren Öffentlichkeit einen Begriff gegeben von dem, was dieser Bildhauer war.
Die Witwe mit drei minderjährigen Söhnen musste handeln. Lehmbrucks wichtigster Mäzen Salomon Falk war pleite. Eine Auftraggeberin verweigerte die Bezahlung der von Lehmbruck gefertigten Porträtbüste, da diese ihr nicht ähnlich genug sehe. Noch 1919 wurde das Atelier in der Fehlerstraße aufgegeben. Anita Lehmbruck verkaufte Zeichnungen. Skulpturen wurden vermehrt – posthum entstandene Bronze- und Steingüsse des Sterbenden Kriegers (Der Gestürzte) erwarben die Nationalgalerie Berlin, die Pinakothek München und die Staatsgalerie Stutgart.
In der Weimarer Republik erinnerte sich Duisburg an den großen Sohn der Stadt, wollte vergessen machen, dass sie sich 1915 für den Entwurf Standbild eines jungen Kriegers von Hubert Netzer – und faktisch gegen Lehmbrucks Mitwirkung ausgesprochen hatte. Der angedachte Heldenfriedhof aber war eine Stätte für die Opfer des Ersten Weltkriegs. Der Siegfried auf dem Kaiserberg war nicht mehr zeitgemäß.
In Absprache mit Anita Lehmbruck erwarb die Stadt 1922 den posthum gefertigten Bronzeguss des Sitzenden Jünglings und stellte dieses Krieg und Opfer doch ziemlich relativierende Gegenmodell als zweites Denkmal auf – ein Kompromiss wohl, denn an diesen öffentlichen Gedenkort hätte zweifellos Lehmbrucks weitaus beeindruckender und nachdenklich machender Sterbender Krieger mit dem angebrochenen Schwertstumpf gehört.
Gut ging es damit nicht. 1937 wurde der Sitzende Jüngling in der Austellung Entartete Kunst in München präsentiert. Nun ging die Witwe in die Offensive: Ich erhalte Nachricht von der Direktion der bayerischen Staatsgemäldesammlung, dass 14 Plastiken meines Mannes, die sich dort zur Aufbewahrung für mich im Keller der Galerie befanden, von einer Kommission beschlagnahmt wurden. Ferner wurde mir mitgeteilt, dass gleichzeitig in der Städtischen Kunstsammlung in Duisburg 6 Plastiken und 8 Ölbilder beschlagnahmt wurden. Ich erkläre hiermit, dass diese vorgenannten Kunstwerke mein Privateigentum sind. Da das Privateigentum in Deutschland geschützt und erhalten bleibt, muß ich Protest gegen diese Beschlagnahmung erheben und bitte Sie höflichst, dafür Sorge tragen zu wollen, dass die Beschlagnahme aufgehoben wird. Wenn der heutige Staat diese Kunstwerke meines Mannes ablehnt, also darauf besteht, dass sie der Öffentlichkeit nicht gezeigt werden, so liegt es mir durchaus fern, mich gegen eine entsprechende Maßnahme zu wehren.
Am 16. Oktober 1938 legte Anita Lehmbruck nach: Es ist nun fast ein Jahr vergangen, dass der Deutsche Staat Werke meines Mannes sichergestellt hat. Nach einem Jahr kann ich wohl erwarten, dass Sie sich über die von Ihnen selbst erwähnte Entschädigung und Ihre Stellungnahme klar sind. Ich frage Sie nun heute: Betrachtet die Reichskammer der bildenden Künste – d. h. der Deutsche Staat – Werke Lehmbrucks als entartet? Diese Frage interessiert nicht nur mich als Frau des Künstlers, sondern auch die Kulturwelt. Eine Klarstellung in dieser Richtung dürfte auch im Interesse des Deutsche Staates liegen. Am 6. Februar 1939 wurden die beschlagnahmten Werke zurückgegeben. Nach der NS-Zeit konnte die Erbin den Museen endlich Leihgaben überlassen, so der Staatsgalerie Stuttgart, die später ein Konvolut von drei Skulpturen, 20 Zeichnungen und 49 Druckgrafiken erwerben konnte.
1957 hatte ihr Sohn, der Architekt Manfred Lehmbruck (1913-1992) von der Stadt Duisburg den Auftrag für den Bau eines Museums erhalten, in dem das einzige zu Lebzeiten Lehmbrucks angekaufte Bildnis der Duisburgerin (Große Stehende, 1912) und die seit 1925 im Depot gelagerten Werke als Leihgaben gezeigt werden sollten.
Die Eröffnung des Lehmbruck Museums 1964 hat Anita Lehmbruck nicht mehr erlebt. Sie starb 1961 in Stuttgart. 1962 kamen die Erben mit der Stadt Duisburg überein, auf dem Waldfriedhof in Duisburg-Wanheimerort eine Lehmbrucksche Ruhestätte einzurichten, was eine Umbettung von Stuttgart und Berlin zur Folge hatte. Das Grab von Wilhelm Lehmbruck, das 1919 auf dem Neuen Zwölf-Apostel-Kirchhof (Grab Nr. Abt. 4, Rh. 10, Nr. 007) angelegt worden war, ist 1939 nur durch ein Wunder erhalten geblieben. Albert Speer hatte für die Umgestaltung Berlins zur Welthauptstadt Germania ein Drittel der Graber des Alten Matthäus-Kirchhofs und zwei Drittel des Neuen Zwölf-Apostel-Kirchhofs entwidmen und auf die Stahnsdorfer Friedhöfe umbetten lassen. Der Zweite Weltkrieg stoppte die Aktion. Lehmbrucks Grab blieb erhalten. Die sterblichen Überreste kamen 1962 von Berlin in die gemeinsame Grabstätte von Wilhelm und Anita Lehmbruck. Korrespondierend zum Sitzenden Jüngling auf dem Ehrenfeld wurde das Ehrengrab der Stadt Duisburg mit dem posthum gefertigten Bleiguss Kopf eines Denkers (1918) bedacht.
Im Jahr 2000 wurde die Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum gegründet. Erst neun Jahre später gelang es im Zusammenwirken von Familie Lehmbruck, dem Museum, der Stadt Duisburg, dem Land Nordrhein-Westfalen, der Wirtschaft, mehreren Kunststiftungen und öffentlichen Förderern.den 1.141 Werke umfassenden Nachlass von Wilhelm Lehmbruck zu erwerben. Nun zeigt das Lehmbruck Museum Duisburg, was es hat, 33 Skulpturen, 18 Gemälden, 11 Pastellen, 819 Zeichnungen und 260 Druckgrafiken – darunter der erhaltene Lebenszeitgips des Sterbender Kriegers von 1916 als museale Attraktion.
Groß, ernst und feierlich, als beträte man die Schweigsamkeit eines gotisch aufstrebenden Gewölbes, ist Lehmbrucks Kunst. Mehr Bach als Mozart, eher Fuge denn melodisches Tonspiel, strecken diese Leiber sich in eine keusche Unnahbarkeit. Alles, was Lehmbruck in sich trug an Kraft und Zartheit, an Jubel und Sehnsucht, hat er in sie hineingepflanzt, und dann ist er gegangen, klaglos, zerbrochen am Leben. In den letzten Tagen des März 1919 fand man den kaum 38 jährigen, der 14 Tage vorher zum Mitglied der Berliner Akademie gewählt worden war und dem äußere Erfolge mehr denn je winkten, in seinem Berliner Atelier; er hatte den Gashahn aufgedreht und ein Ende gemacht. Gelähmt in seinem Schaffen, seelisch und körperlich krank, entsagte er. Stumm, wie ein waidwundes Tier das Dunkel sucht, wendet er sich ab, wie es geschrieben steht im Buche des Herrn der gelben Erde: ‚Einsam geht er, einsam kommt er, einsam äußert er sich, einsam zieht er sich in sich zurück. Wer kann ihn hindern?‘ Paul Westheim, 1922
Fehlerstraße Nr. 7
Ecke Stubenrauchstraße Nr. 42
Baudenkmal Mietshaus
Ausführung & Bauherr Zimmermeister Hans Hoebke
1900-1901
Das freistehende dreigeschossige, villenartige Mietswohnhaus wurde auf winkelförmigem Grundriss errichtet. Der Flügel an der Stubenrauchstraße wird von einem breiten Risalit mit hohem Giebel beherrscht, dem ein zweigeschossiger Standerker vorgestellt ist. Im Hochparterre ist seitlich eine Holzveranda angebaut mit Treppe in den Vorgarten. Der Flügel an der Fehlerstraße enthält im Souterrain ein Eingangsportal mit ionischen Pilastern und einem Giebelaufbau, der das Rundfenster des Vestibüls einfasst. Beide Flügel zeigen jeweils einen Quergiebelabschluss. Das Souterrain weist eine feine Putznutung auf, die Hauptgeschosse sind glatt verputzt, die Fensterlaibungen in Formen der Neogotik und der Neorenaissance ausgeführt. Topographie Friedenau, 2000
Fehlerstraße Nr. 8
Bildgießerei Hermann Noack
Am 3. August 1958 um sechs Uhr morgens klingelte Werkmeister Schenk seinen Chef aus dem Bett: Die Quadriga ist weg! Der 26-jährige hatte gerade erst die Leitung der Bildgießerei Hermann Noack von seinem Vater übernommen. Nun war er verantwortlich für die Fertigstellung der Schadowschen Figurengruppe auf dem Brandenburger Tor. Am Vortag hatte er die in seiner Werkstatt rekonstruierte – immerhin fünf Meter hohe und in Kupfer getriebene – Skulptur auf dem Pariser Platz abgestellt. Und nun sollte sie verschwunden sein? Ich hab mich sofort angezogen und bin dann mit dem Auto dahin gefahren. Und die Quadriga war wirklich weg! In der Nacht hatte die DDR die Einzelteile zusammengepackt und heimlich in den Neuen Marstall verfrachtet.
Als die Quadriga nach Monaten wieder auftauchte und auf dem Brandenburger Tor installiert wurde, fehlten der wagenlenkenden Siegesgöttin Viktoria das Eiserne Kreuz und der Preußenadler. Man hätte es sich denken können, dass Ost-Berlin die originalgetreue Rekonstruktion nicht so ohne weiteres hinnehmen würde. Als der Ost-Berliner Magistrat am 21. September 1956 beschlossen hatte, das im Zweiten Weltkrieg beschädigte Brandenburger Tor zu erneuern, musste auch die Quadriga vollständig neugeschaffen werden – allerdings ohne die Embleme des preußisch-deutschen Militarismus.
Den Auftrag erhielt die West-Berliner Bildgießerei Hermann Noack. Die Firma hatte im Osten einen guten Ruf. Bereits 1945 hatte sie die von Bildhauer Lew E. Kerbel (1971-2003) geschaffene überlebensgroße Bronzefigur des Sowjetsoldaten für das Sowjetische Ehrenmal im Tiergarten gegossen. 1949 wurde Noack wieder gerufen, als es galt, den Entwurf des Schöpferkollektives unter der Leitung des Architekten Jakow S. Belopolski, des Bildhauers Jewgeni W. Wutschetitsch, des Malers Alexander A. Gorpenko und der Ingenieurin Sarra S. Walerius für das Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park in Bronze umzusetzen.
Das Familienunternehmen wurde 1897 gegründet. Zwei Jahre später entstand in der Fehlerstraße Nr. 8 die Werkstatt der Bildgießerei Hermann Noack, inzwischen die bedeutendste Bronzegießerei in Deutschland. Zur Geschichte des Hauses gehört, dass über mittlerweile vier Generationen der jeweilige Chef des Hauses den gleichen Vornamen trägt: Von Hermann I. (1867–1941) ging es zu Hermann II. (1895–1958). Gegenwärtig leitet Hermann III. (geboren 1931) zusammen mit seinem Sohn Hermann IV. (geboren 1966) die Firma.
Zur Tradition gehört aber wohl auch, dass gute Handwerker von je her ein gutes Verhältnis zu Künstlern, Kunsthändlern, Architekten, Galerien und Museen haben. Das begann mit dem Tierbildhauer August Gaul (1869-1921), von dem 1899 (nicht nur) die Bronze der Stehenden Löwin gegossen wurde (heute im Museum Hanau-Großauheim), sondern nahezu sein gesamtes Lebenswerk – bis hin zur Skulptur Löwe im Kolonnadenhof der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel. Oder Wilhelm Lehmbruck (1881-1919), dessen Kniende sich heute im Museum of Modern Art in New York befindet. Wer ging in der Fehlerstraße nicht alles ein und aus: Reinhold Begas, Ernst Barlach, Georg Kolbe, Käthe Kollwitz, Bernhard Heiliger, Henry Moore, Anselm Kiefer, Joseph Beuys, Georg Baselitz und viele andere.
Noack hat mit seiner Handwerkskunst das Berlin-Bild geprägt: Die Goldelse auf der Siegessäule, der Große Kurfürst am Charlottenburger Schloss, Henry Moores Big Butterfly vor dem Haus der Kulturen der Welt, die Plastik Pieta von Käthe Kollwitz, 1937 erstmals in Bronze gegossen, dann 1993 als vergrößerte Kopie aufgestellt in der Neuen Wache, Rainer Fettings Willy Brandt im SPD-Haus an der Wilhelmstraße.
Nicht zu vergessen Renée Sintenis. Aus ihrer bereits 1932 geschaffenen Bronze Junger Bär wurde der Goldene Bär der Berliner Filmfestspiele. Hunderte Berlinale-Bären hat die Bildgießerei Hermann Noack in der Fehlerstraße Nr. 8 bisher gegossen. Weitere werden folgen, allerdings nicht mehr aus Friedenau, sondern vom neuen Standort Skulpturenzentrum am Spreebord in Charlottenburg.
Fehlerstraße Nr. 13
Die Fotografin Emmy Klimsch (1885-1974)
Es hat uns schon erstaunt, dass unsere Website auch außerhalb Deutschlands Freunde gefunden hat. Am 20. Oktober 2017 bekamen wir eine E-Mail aus Spanien, angehängt Fotos aus den Jahren 1917 und 1919, darunter eine Sicht auf den Schulhof der III. Friedenauer Gemeindeschule und ein Blick auf den Eingang des Hauses Fehlerstraße Nr. 13. Über dem Portal ein Medaillon mit den Initialen P.L. – ein Hinweis auf den Eigentümer Malermeister P. Lüdtke aus Wilmersdorf, der das Mietswohnhaus an der Ecke Fehlerstraße und Kreisauer Straße 1910/11 errichten ließ.
Die Fotos stammen von Emmy Klimsch (1885-1974). Sie war die Tochter von Richard Klimsch (1857-1921), einem deutschen Bankier, der in jungen Jahren nach Madrid gekommen war und schließlich Direktor der Bank von Kastilien wurde. Entdeckt wurde es von Karim Taylhardat. Sie hat 2011 das Buch El Madrid de Emmy Klimsch, 1919-1940 veröffentlicht. Die bisher unveröffentlichten Aufnahmen fand sie in der Sammlung des Historikers Juan Zozaya Stabel-Hansen (1939-2017), dessen Familie einst 16 Kisten mit 900 Glasplattenphotographien von Emmy Klimsch erworben hatte.
Emmy Klimsch wurde in Madrid geboren. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs übersiedelte sie nach Berlin. Dort lernte sie den Bankprokuristen Franz Hause kennen. 1914 wurde geheiratet und wenig später die Wohnung im II. Stock der Fehlerstraße Nr. 13 in Friedenau bezogen. In diesen Jahren entstanden die Fotos. Im Jahre 1922 zog das Ehepaar von Friedenau nach Madrid. Franz Hause wurde Manager der Bank von Bilbao, und Emmy, aufs Neue von Madrid fasziniert, zog durch die Stadt und fotografierte zwischen den 1920er und 1940er Jahren Straßen, Plätze, Landschaften und Figuren. Sie war keine professionelle Fotografin, sie war eine Frau aus einer wohlhabenden Familie, die viel reiste und die Fotografie zu ihrem Hobby machte. Sie hat wohl nie daran gedacht, dass ihre Aufnahmen einmal historisch wertvoll werden könnten.
Das Haus Fehlerstraße Nr. 13 existiert noch immer, allerdings ist der Fassadenbauschmuck, wie an so vielen Friedenauer Gründerzeitbauten, entfernt worden. Geblieben ist lediglich die Plastik an der Ecke zur Kreisauer Straße, genau gegenüber von Columbarium und Schule.
Das Foto vom Schulhof mit Blick auf die Rückseite des Columbariums vom Friedhof Stubenrauchstraße, die Schulgebäude und die versammelten Schüler ist aus dem II. Stock des Hauses Fehlerstraße Nr. 13 aufgenommen und muss Ostern 1919 nach der eigentlichen Eröffnung der Schule entstanden sein. Die III. Gemeindeschule Friedenau (heute Ruppin-Grundschule), eine Doppelschule auf dem Grundstück zwischen Fehler-, Laubacher- und Offenbacher Straße wurde 1913/14 nach Plänen des Architekten Hans Altmann erbaut – mit dem Turngerätehaus an der Ecke Laubacher und Fehlerstraße. Es war der letzte Schulbau des Friedenauer Gemeindebaurats. Eröffnet wurde er erst einmal nicht. Es kam der Erste Weltkrieg und aus dem Haus wurde ab Dezember 1914 ein Lazarett. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude zuerst von der Wehrmacht und nach 1945 von den Besatzungstruppen genutzt.
Fehlerstraße Nr. 13a
Julius Berstl (1883-1975)
Seine Vorfahren waren in gleichem Ausmaß Arier und Nichtarier. Deshalb fühlen sich weder die Stolperstein-Fanatiker noch der Zentralrat der Juden in Deutschland geschweige denn das Märkische Museum Berlin für Julius Berstl zuständig. Im Online-Archiv des für Theatergeschichte zuständigen Hauses findet sich nur ein einziges Dokument (ohne jeglichen Kommentar ins Netz gestellt) – ein Brief von Julius Berstl vom 14.3.1934 an Frau Emma Rose, in dem er die Direktorin des Rose-Theaters wissen lässt, dass er im Laufe des vorigen Winters auf Wunsch von Frau Lucie Mannheim die Alt-Berliner Posse „Drei Paar Schuhe“ völlig neu bearbeitet hat. Durch den politischen Umschwung ist es dann zum Auftreten Frau Mannheim's in der Hauptrolle dieses Stückes nicht gekommen, und ich nehme an, dass es auch in Zukunft schwierig sein wird. Es wäre schade, wenn das Stück, das sich für das Rose-Theater wie kaum ein zweites eignet, liegen bliebe, und ich gestatte mir daher die höfl. Anfrage, ob es Sie interessieren würde. Ich bemerke übrigens gleich, dass es natürlich notwendig wäre, das Stück mit Rücksicht auf die gewandelten Verhältnisse noch einmal gründlich durchzusehen. Auch einige Gesangstexte müssten neu geschrieben werden.
Was war geschehen? Am 9. März 1933 hatte die Reichsschrifttumskammer seinen Antrag auf Aufnahme in den Reichsverband deutscher Schriftsteller abgelehnt. Am 21. März 1933 schrieb er einen Brief an den Kammerpräsidenten, der die tragische Situation eines halbjüdischen Autors verdeutlicht: Die Ablehnung meiner Aufnahme und damit die Unterbindung meiner schriftstellerischen Tätigkeit würde für mich nicht nur die Vernichtung meiner wirtschaftlichen Existenz bedeuten (ich stehe im 52. Lebensjahr und habe für eine Familie zu sorgen), sie würde darüber hinaus auch einer seelischen Entwurzelung gleichkommen. wie sie mich nach der Summe meiner schriftstellerischen Tätigkeit nicht härter treffen kann.
Am 9. April 1935 wurde ihm die Rechtmäßigkeit der Ablehnung bestätigt. Am 28. Oktober 1935 schrieb Berstl einen zweiten Brief, der am 8 Mai 1936 mit Hinweis auf die im Vorjahr ergangene Entscheidung negativ beantwortet wurde. Die endgültige Ablehnung ist somit im Zuge der 1936 erfolgenden Reorganisation der Reichskulturkammer in einem ‚rein deutschen‘ Sinne verfügt worden. Wenige Tage später ging Berstl mit Frau und Sohn nach England.
Julius Berstl wunde 1883 in Bernburg an der Saale geboren. Sein Vater, Schauspieler und später Direktor des Göttinger Stadttheaters, stammte aus einer mährisch-jüdischen Kleinbürgerfamilie, seine Mutter, ebenfalls Schauspielerin, aus einer hessisch-lutherischen Schauspielerfamilie. Berstl studierte von 1902 bis 1903 Anglistik in Göttingen und Leipzig, brach das Studium ab und war von 1909 bis 1924 als Dramaturg an den von Victor Barnowsky (1875-1952) geleiteten Berliner Bühnen Kleines Theater Unter den Linden und Lessing-Theater tätig. Ab 1921 war er Mitarbeiter des Drei-Masken-Verlages und später Inhaber des Gustav-Kiepenheuer-Bühnenvertriebs. Er schrieb Unterhaltungsromane und Bühnenstücke.
1910 war er nach Friedenau gezogen, zuerst Kaiserallee Nr. 89, Gartenhaus III. Stock, dann von 1915 bis 1928 Fehlerstraße Nr. 13a. 1930 wohnt die Familie im II. Stock der Stierstraße Nr. 3. Als letzte Berliner Adresse ist 1935 Wilmersdorf Ahrweiler Straße Nr. 31 dokumentiert. 1936 emigrierte Berstl mit Frau und Sohn ins Vereinigte Königreich. Für den Anglistik-Studenten und Übersetzer des englischen Bühnenstückes von Fredrick Lonsdales The Last of Mrs. Cheyney ergab sich die Möglichkeit, ab 1943 für die BBC als Übersetzer und Autor tätig zu werden. Es entstanden ab 1945 über sechzig Hörspiele in drei Zyklen, Das Leben Jesu, Die Apostelgeschichte und Die Propheten des Alten Testaments, die speziell für die Ausstrahlung in die Sowjetische Besatzungszone konzipiert waren. 1947 erwarb er die britische Staatsbürgerschaft. Nach seiner Pensionierung im Jahre 1951 übersiedelte Berstl mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten, um dort wieder einmal - von vorn anzufangen. Er lebte in New York als freier Schriftsteller. Nach dem Tod seiner Frau ging er 1964 nach Kalifornien und verbrachte seine letzten Lebensjahre in Santa Barbara.
Erst 1963 erinnerte sich auch Deutschland wieder an Julius Berstl. Zu seinem 80. Geburtstag erschien im Arani Verlag Berlin seine Autobiographie Odyssee eines Theatermannes. 1964 folgte im Staneck Verlag Berlin der Roman Berlin Schlesischer Bahnhof – die Geschichte von fünf jungen Leuten im Krisenjahr 1930, die, aus Elternhaus oder Fürsorgeanstalt ausgerissen oder gerade arbeitslos geworden, im Wartesaal dritter Klasse des Schlesischen Bahnhöfe Unterschlupf suchen und von einer Polizeirazzia in die Nacht hinausgetrieben werden.
Julius Berstl starb am 8. Dezember 1975 im Alter von 92 Jahren im kalifornischen Santa Barbara, das er 1964 nach dem Tode seiner Frau als Alterssitz gewählt hatte.
Last but not least: Arnold Heidsieck (1937-2009), in Leipzig geboren, 1966 in Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin promoviert, hat sich als Professor der University of Southern California in Los Angeles dafür eingesetzt, dass der Nachlass von Julius Berstl mit Typoskripten, Manuskripten, Korrespondenzen, persönliche und biografische Dokumente, Theater-Erinnerungsstücke sowie eine Anzahl von Zeitschriften in englischer und deutscher Sprache im Literaturarchiv dieser Universität bewahrt werden.
Fehlerstraße Nr. 14
Ecke Laubacher Straße Nr. 28
Für die Grundstücke Fehlerstraße Nr. 13 bis Nr. 16 gab es im Jahr 1910 noch den Eintrag Baustellen. 1912 ist für Fehlerstraße Nr. 14 Ecke Laubacher Straße Nr. 28 ein Neubau des Eigentümers A. Spandel aus Rixdorf eingetragen. Ein Jahr später eröffnet in diesem Eckhaus mit sieben Mietparteien die Bäckerei Spandel ein Ladengeschäft. Von 1939 bis 1943 ist die Hauseigentümerin Luise Spandel auch Inhaberin der Bäckerei. Ab 1955 wird der Laden als Konditorei & Café Spandel von Inhaber H. Geilich geführt. In den nachfolgenden Jahrzehnten gab es einige Wechsel. Aktuell versucht in den Räumen und im Vorgarten eine Trattoria ihr Glück. Erfreulich ist, dass zumindest Teile der uralten Bäckereieinrichtung bis heute erhalten wurden.