Der Fall Oskar Pastior
Der rumäniendeutsche Schriftsteller Oskar Pastior (1927-2006) floh 1968 nach Deutschland. Von 1985 bis zu seinem Tod wohnte er in der Schlüterstraße Nr. 53 in Charlottenburg. 2001 hatte sich die Schriftstellerin Herta Müller entschlossen, Gespräche mit ehemals deportierten aus meinem Dorf aufzuzeichnen. Ich wusste, dass auch Pastior deportiert war, und erzählte ihm, dass ich darüber schreiben möchte. Er wollte mir helfen mit seinen Erinnerungen. Wir trafen uns regelmäßig, er erzählte, und ich schrieb es auf. Doch bald ergab sich der Wunsch, das Buch gemeinsam zu schreiben.
Als Oskar Pastior am 4. Oktober 2006 während der Buchmesse in Frankfurt am Main verstarb, hatte Herta Müller vier Hefte voller handschriftlicher Notizen, dazu Textentwürfe für einige Kapitel. Pastiors in Friedenau lebende Landsleute Herta Müller und Ernest Wichner sorgten für die Beisetzung der sterblichen Überreste in der 1x1 Meter großen Urnen-Wahl-Grabstätte Nr. 34-1 auf dem Friedhof an der Stubenrauchstraße.
Oskar Pastior hatte ein Testament hinterlassen. Ein von ihm namentlich festgelegter Personenkreis, darunter Herta Müller und Ernest Wichner, erfüllte seinen Wunsch, und gründete im April 2008 im Literaturhaus Berlin die Oskar-Pastior-Stiftung, die alle zwei Jahre den mit 40.000 Euro dotierten Oskar-Pastior-Preis vergeben sollte. Sein Nachlass ging an das Deutsche Literaturarchiv in Marburg. Am 22. September 2009 wurde an seinem letzten Wohnsitz in der Schlüterstraße Nr. 53 eine Gedenktafel enthüllt.
Pastior aber war nicht nur Lyriker und Übersetzer, sondern unter dem Decknamen Otto Stein auch inoffizieller Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes Securitate von Diktator Ceaușescu. Darüber hat er zeitlebens geschwiegen, selbst seiner guten Freundin Herta Müller gegenüber, die sich ein Jahr nach Pastiors Tod durchringen konnte, das Wir zu verabschieden und allein einen Roman zu schreiben. Ohne Oskar Pastiors Details aus dem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt. Aus vier Heften voller handschriftlicher Notizen, dazu Textentwürfe für einige Kapitel, entstand 2009 der Roman Atemschaukel. Im Dezember 2009 erhielt Herta Müller den Literatur-Nobelpreis.
Zehn Jahre später wurde die Grabstätte mit Senatsbeschluss vom 12. Juli 2016 zur Ehrengrabstätte des Landes Berlin erhoben. Nachdem die Nutzungsrechte für das benachbarte Schwartzkopfsche Grab 34-2 abgelaufen waren, wurde aus der Pastiorschen Ruhestätte Grabstelle Nr. 34-1-2. Korrekt wurde darauf geachtet, daß der rötliche Backstein mit der Inschrift Ehrengrab Land Berlin auf Nr. 34-1 seinen Platz fand, und ganz korrekt teilte Pastiors Freund Ernest Wichner am 2. September 2016 mit, daß für das erweiterte Grab in Teilen die Stiftung und ansonsten Herta Müller und ich für alle Kosten aufkommen, die mit Oskar Pastiors Grab zu tun haben.
Für mich, der im Juli 1973 im Kofferraum eines PKW von Ost- nach West-Berlin geflohen ist, dem bis zum Fall der Mauer der östliche Teil Deutschlands und Familientreffen 16 Jahre versagt waren, der in seiner Akte die IM-Berichte seiner angeblichen Freunde lesen konnte, ist diese Ehrung fragwürdig. Keiner der mich bespitzelnden Informanten hat sich später dazu geäußert. Ich kannte das System, erfuhr, dass Karriere ohne SED und Stasi schwierig war. Dreimal wurde der Versuch gestartet, mich als IM anzuwerben. Ich konnte mich dem entziehen. Deshalb hätte ich für manchen Spitzelfreund und für manchen Bericht (vielleicht) Verständnis aufgebracht. Aber sie schwiegen.
Irgendwann dazwischen hat sich Herta Müller entschlossen, den einst gemeinsam geplanten Roman allein weiter zu schreiben – die Geschichte von Oskar Pastior als Romanfigur Leopold Auberg, der im Januar 1945 in einem sowjetischen Arbeitslager in der Ukraine interniert wurde. Nun also Pastior als Müllerscher Ich-Erzähler: Ohne Oskar Pastiors Details aus seinem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt.
Plötzlich war Herta Müller ein Name. Endlich war sie raus aus der literarischen Nische und den geringen Auflagen. Die Meldung kam zur Unzeit.
Herta Müller ist bei jedem Anlass zu einem Statement bereit. In Erinnerung ist noch ihre Bemerkung zu dem abstrusen Gedicht von Günter Grass, den sie an den Pranger stellte, weil er ja nicht ganz neutral ist. Wenn man mal (als 17-Jähriger) in der SS-Uniform gekämpft hat, ist man nicht mehr in der Lage, neutral zu urteilen.
Nach der Enthüllung zu Pastior zeigte sie sich enttäuscht, bestürzt, entsetzt, verbittert. Es sei natürlich schrecklich, wenn man von jemandem, den man zu kennen glaubte, etwas Dunkles, kaum Fassbares erfahre, etwas, was einem nie anvertraut wurde. Dann aber habe sie sich darauf besonnen, wie verletzbar, erpressbar Pastior gewesen sei: ein Homosexueller in einem Staat, der Homosexualität mit mehreren Jahren Haft ahndete.
Jetzt ging es um Schadensbegrenzung. Ernest Wichner, Vertrauter Müllers und Freund Pastiors, keinesfalls also ein unabhängiger Forscher, wurde Anfang Januar 2011 nach Bukarest geschickt. Dort sollte er herausfinden, wem Oskar Pastior als IM Stein Otto wirklich geschadet hat. Erleichtert kam er zurück. In den Akten hatte er nichts wirklich Neues entdeckt. Laut Spiegel vom 17. Januar 2011 klingt Wichner, als wolle er sich gegen Vorwürfe verwahren, noch ehe sie ausgesprochen sind. Nicht wenige, darunter alte Freunde, sehen ihn inzwischen zu emsig das Rampenlicht mit der Nobelpreisträgerin teilen. Für ihn war Oskar wie ein Vater oder Bruder, noch als Toter ist er mir nah. Aber deshalb arbeite ich nicht darauf hin, dass jenes Ergebnis herauskommt, das ich mir wünsche. Darin bin ich mir mit Herta Müller einig.
Es wunderte nicht, dass Ernest Wichner als einziger der alten rumänischen Weggefährten, ob Aktionsgruppe Banat oder Temeswarer Literaturkreis, dem Herta Müller angehörte, dabei war, als ihr am 10. Dezember 2009 der schwedische König den Nobelpreis überreichte. Von Hertas Licht, sagte der einstige Mitstreiter und Müllers erster Ehemann Richard Wagner, wollen jetzt viele etwas abhaben, das ist menschlich verständlich. Und ein Nobelpreis gibt ja auch Legitimation. Aber Herta Müller und Ernest Wichner sind auf einem Auge blind. Für die beiden ist Oskar Pastior eine Art Heiliger. Nun, nach der Enttarnung von Pastior als Spitzel hätten sie die Sache gern kleiner, harmloser, und sie glauben daran, dass es so war. Aber da werden noch einige neue Sachen ans Licht kommen. Die Stiftung und der Preis mit seinem Namen sind nicht zu halten.
Herta Müller wollte retten was zu retten ist: Wir von der Pastior-Stiftung werden eine Forschergruppe beauftragen, das ganze Umfeld Pastiors zu untersuchen. Wir müssen es uns jetzt zur Aufgabe machen, die Verstrickung von Schriftstellern und Geheimdienst in der Diktatur zu untersuchen. Schon 2012 erschien in der Reihe text+kritik ein Sonderband mit 140 Seiten unter dem Titel Versuchte Rekonstruktion - Die Securitate und Oskar Pastior – Herausgeber Ernest Wichner.
In den umgehend erschienenen Rezensionen heißt es: Die Autoren des Bandes – vor allem Ernest Wichner – betonen allerdings, dass die Informationen, die Pastior der Securitate mitgeteilt hat, für diese völlig nutzlos gewesen sein müssen. So nutzlos, dass aus ihnen keinerlei Nachteil für die Bespitzelten entstanden sein kann, Pastior aber trotzdem durch seine Arbeit geschützt war. Die wenigen von Pastior geschriebenen Berichte lesen sich auch eher harmlos.
Eine gewagte Äußerung. Bekannt ist doch, dass der Rumänische Nachrichtendienst SRI als Nachfolger von Securitate die Aufklärung nach 1990 nur sehr schleppend betrieb und viele Akten noch nicht zugänglich sind. In der Dokumentation wird ausdrücklich betont, dass sich Pastior nach seiner Flucht dem westdeutschen Geheimdienst und der CIA anvertraute, um ‚reinen Tisch‘ zu machen. Was hat er denn ausgeplaudert und was nicht? Gegenüber Herta Müller, Ernest Wichner, Richard Wagner und anderen hat er seine geheimdienstliche Tätigkeit verschwiegen. Das ist moralisch verwerflich.
Mit Blick auf den hiesigen Umgang mit den Stasiakten ist die Ehrung für einen sich zeitlebens nicht offenbarenden rumänischen Spitzel ein Fehler. Die Preisträger des mit einer Dotation von 40.000 Euro versehenen Oskar-Pastior-Preises sollten bedenken, dass dieses Geld vom Konto eines Spitzels stammt. 2010 ging der Preis an Oswald Egger. 2012 verzichtete die Stiftung auf eine Preisvergabe und konzentrierte sich um die Aufklärung der Securitatemitarbeit von Oskar Pastior. 2014 ging der Preis an Marcel Beyer. Der bisher letzte Preisträger war – soweit bekannt – 2016 Anselm Glück.
Peter Hahn, 26. April 2018
Aktualisiert am 13. August 2024
Stimmen zum Fall Oskar Pastior
Der verstrickte Gefährte
Herta Müller und Oskar Pastior
Süddeutsche Zeitung, 17.09.2010
Lyriker als IM
Herta Müller erschrocken über Pastiors Securitate-Tätigkeit
DER SPIEGEL, 17.09.2010
Oskar Pastior: Der Dichter als Informant
18.09.2010
Von Richard Wagner
http://www.achgut.com/artikel/oskar_pastior_der_dichter_als_informant/
Auch du, mein Freund
DER SPIEGEL
20.09.2010
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-73892439.html
Oskar Pastior. mein Freund, der Securitatespitzel
Von Dieter Schlesak
20.09.2010
Securitate-IM Pastior wird wie ein Opfer behandelt
WELT, 17.10.2010
Von Richard Wagner
https://www.welt.de/kultur/article10319311/Securitate-IM-Pastior-wird-wie-ein-Opfer-behandelt.html
Wir wurden erpresst
Ich verstehe meinen Freund, den Dichter und Securitate-Spitzel Oskar Pastior.
Von Dieter Schlesak
23. September 2010
https://www.zeit.de/2010/39/Oskar-Pastior
Herta Müller bestürzt über Spitzelei Pastiors
DIE ZEIT, 17.11.2010
http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-11/pastior-mueller-securitate
Vom Nachlass zur Hinterlassenschaft
Das Doppelleben Oskar Pastiors als Dichter und Informant der Securitate.
Von Richard Wagner
Neue Züricher Zeitung, 18.11.2010
http://www.nzz.ch/vom-nachlass-zur-hinterlassenschaft-1.8414825
Gift im Gepäck
DER SPIEGEL, 17.01.2011
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-76397429.html
Oskar Pastior und die Securitate
Schluchten des Argwohns
Die Wogen schlugen hoch, als herauskam, dass Oskar Pastior einst Zuträger der Securitate war. Ein Forschungsvorhaben soll nun aufklären, was der verstorbene Büchner-Preisträger getan hat - und was nicht.
FAZ, Regina Mönch, 25.06.2012