Name seit dem 22. Oktober 1875, vorher Kastanienstraße, benannt nach dem elsässischen Fluss Ill, einem linken Nebenfluss des Rheins. Mit dem Friede von Frankfurt wurde Elsass 1871 dem Deutschen Reich angegliedert. Friedenau würdigte dieses Ereignis mit der Straßenumbenennung. Die Straße war einst eine direkte Querverbindung von der Kaisereiche über die Dickhardtstraße (früher Ringstraße) bis zur Ecke Holsteinische Straße und Fregestraße. Die Straße bestand einst aus 14 Grundstücken. Die von Helmut Winz angefertigte Skizze über die Kriegsschäden verdeutlicht die verheerenden Schäden des Bombenangriffs von 28. Februar 1943. Von den 14 Häusern haben nur Nr. 12, Nr. 13 und Nr. 14 überlebt. Das im Jahr 1951 entstandene Foto der Sammlung Staudt zeigt, was vom Haus Nr. 11 übriggeblieben ist.
Der Mangel an Schulräumen in Friedenau führte dazu, dass im Bezirksamt Schöneberg der Plan gefasst wurde, auf dieser Ruinenlandschaft ein Schulgebäude zu errichten. Am 21. August 1959 wurde der Bebauungsplan XI-19 für die Grundstücke Ringstraße (Dickhardtstraße) 17-22, Illstraße 3-11 und 14 aufgestellt und vom Senator für Bau- und Wohnungswesen festgesetzt: 1973 wurde der Fertigbau der Fläming-Schule für 600 Schüler eröffnet. Die Illstraße wurde gänzlich ihrer alten Gestalt beraubt und in eine Sackgasse umgewandelt.
Illstraße Nr. 4
Mit Berlin hatte Ernst Barlach kein Glück. Nach seinem ersten Auftritt 1899 bewertete der Kunstkritiker Karl Scheffler dessen Arbeit als noch nicht im Besitz einer eigenen Sprache für die eigene Kunst. Barlach verließ Charlottenburg und versuchte es 1905 ein weiteres Mal. Ohne Barschaft zog der den besseren Ständen angehörige Herr mit Ziegenbart Anfang September 1905 nach Friedenau in die Illstraße Nr. 4, vermutlich in eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Seitenflügel. Als Modell engagierte der 35-Jährige die zehn Jahre jüngere Näherin Rosa Limana Schwab. Alsbald wurde aus der Sitzung eine Beziehung. Das Fräulein war schwanger. Am 1. August 1906 war das junge Leben noch immer nicht da. Da eine Heirat für Barlach nicht in Betracht kam, flüchtete er am 2. August erst einmal über Warschau und Kiew zu seinem Bruder Hans nach Charkow.
Ohne die Gedichte von Klaus Barlach wird Ernst Barlach unvollständig bleiben.
Am 20. August 1906 zeigte die Universitäts-Frauenklinik Berlin an, daß von der Rosa Limana Schwab, wohnhaft Turmstraße Nr. 55 zu Berlin, ein Knabe geboren wurde und daß das Kind den Vornamen Nikolaus erhalten habe. Unter der Moabiter Adresse gab es die Hutfabrik W. E. Schilling, bei der sie vermutlich als Näherin beschäftigt war.
Wer war Rosa Limana Schwab? In den Barlach-Archiven finden sich nur ihre Lebensdaten 10. August 1880 bis 20. März 1936. Kaum zu glauben, daß Barlach von dem Modell Rosa zwischen September 1905 und August 1906 keine Skizzen oder Zeichnungen angefertigt hatte. Veröffentlicht und als solche kenntlich gemacht sind sie (bisher) nicht. Erst im Jahr 2025 geht die Stiftung Hermann F. Reemtsma davon aus, daß es unter den Zeichnungen und Skizzenbüchern von Ernst Barlach weibliche Frauenakte gibt, die man vielleicht mit Rosa Schwab in Verbindung bringen könnte. Für die Kunsthistorikerin Dr. Magdalena Schulz-Ohm, seit 2019 Geschäftsführerin der Ernst-Barlach-Stiftung Güstrow, gibt es ein paar Theorien dazu, ob Barlach Rosa Schwab gezeichnet hat. Manche finde ich einleuchtend, andere weniger.
Eine Antwort ist überfällig, zumal sich Barlachs Stil nach der Russland-Reise 1906 grundlegend verändert hat. Fertigte er bis dahin filigrane ins Detail gehende Zeichnungen für die satirischen Zeitschriften Simplicissimus und Jugend, entstehen danach schlagartig grobschlächtige in Tuch gehüllte unerotische Frauenbilder.
Nach Barlachs Rückkehr Ende September 1906 konnte ich meinen Sohn sehen. Am 1. Februar 1907 äußert er sich wieder: Mein Junge hat während der kalten Tage mit der Mutter auf einem Korridor in der Nähe eines Petroleumofens zugebracht. Sie hatten die Wohnung eilig räumen müssen und so schnell keine neue gehabt. Ein halbes Jahr später geht’s meinem Jungen gut. Er ist jetzt ein Dorfjunge; wohnt in Lichtenrade bei gesunden und ruhigen Leuten (Familie Mäuser).
Inzwischen hatte sich Ernst Barlach entschlossen, um seinen Besitz Alles zu riskieren, da ich überzeugt bin, daß seine Mutter ihn nicht besitzen darf. Ich kann ihr nicht weiter helfen und sie sitzt in einem vollen Unglück tief drin. Ohne sie ginge es wunderschön, mit ihr garnicht. Sie ist krank, aber allen vernünftigen Vorschlägen u. Anerbietungen unzugängig. Nimmt Stellen an die sie 〈nicht〉 ausfüllen kann und ich soll zu allen Torheiten ja sagen – und alle Torheiten bezahlen (28. Juni 1907).
Es folgte eine zwei Jahre währende gerichtliche Auseinandersetzung um das Sorgerecht für Sohn Nikolaus. Vorläufig prozessieren wir, d. h. ich habe mich auf Zahlung der Gelder verklagen lassen. Er (durch Vormund) gegen mich. Ich beabsichtige, so meine Vaterschaft gerichtsnotorisch zu machen und dann einen Antrag auf Ehelicherklärung zu stellen, bei dem über Einwilligungsverweigerung der Mutter hinweg gegangen werden kann. Sie will jetzt heiraten, denselben, mit dem sie, wie ich jetzt erfahre, schon lange wieder in Verbindung steht. Eine böse Geschichte, aber gut für mich, ich bin das proletarische Lumpenpack moralisch los (20.8.1907).
Barlach und sein Rechtsanwalt ziehen alle Register: Die beiden Leute haben am 31. August den Eid geleistet, der mich in meiner Vaterschaft bestätigt. Nun habe ich den kleinen Klaus schon 3 Wochen nicht gesehen, denn sie haben ihn von Lichtenrade nach Moabit in die Hofwohnung 4 Treppen geholt (19.9.1907).
Am 18. Januar 1909 erreichte Barlach beim Standesamt Berlin einen Eintrag auf der Geburtsurkunde von Nikolaus: Vor dem unterzeichnenden Standesbeamten erschien heute der Bildhauer Ernst Heinrich Barlach, wohnhaft in Friedenau bei Berlin, Illstraße Nr. 4, und beantragte zu vermerken, daß das unten bezeichnete Kind Nikolaus Schwab ausweislich der vorliegenden, von ihm übereigneten Verfügung des Polizeiministers vom 22. Dezember 1908 für ehelich erklärt worden sei. Aus Nikolaus Schwab wurde Klaus Barlach. Vater Ernst Barlach meinte, daß der Sohn seine Mutter entbehren konnte, und daß dieser nicht wieder hineingeht in die Schichten seiner Herkunft und im ärmlichen Berliner Arbeitermilieu aufwächst.
1910 verließ Ernst Barlach Friedenau und zog nach Güstrow, wo er mit seiner 65-jährigen Mutter Luise die Erziehung des Knaben übernahm: Ich weiß ja, daß, indem ich ihn der Mutter entwinde, ihm etwas angetan wird, was ich mit Allem was ich vermag nicht wettmachen kann, daß ich ihm das Leben in einem Wesentlichsten verkümmere. Neulich lief 〈er〉 von mir ins Dunkle hinein und wollte schnell die ‚Mama holen‘ (12.12.1908).
Nikolaus Barlachs Lebensdaten
Über die Lebensgeschichte von Sohn Nikolaus Barlach gibt es wenig verlässliche Informationen. Mit fünf Jahren wurde er im Kindergarten abgegeben. Es folgten Vorschule und Realgymnasium. Nach dem Freitod der depressiven Großmutter Luise 1920 soll Nikolaus eine Tischlerlehre in Güstrow absolviert haben. Bekannt ist, dass er von 1927 bis 1931 die Odenwaldschule in Heppenheim besuchte. Danach entschloss er sich für ein Studium am Technikum in Alt Strelitz, eine höhere Fachschule zur Ausbildung von Ingenieuren in bautechnischen Berufen – nach 1935 erweitert um den Bereich Luftwaffen-Bauleitung in Stralsund und Warnemünde. Ende 1939 waren 118.000 Beschäftigte tätig, darunter Nikolaus Barlach. 1945 lag das Elternhaus in Güstrow in der Sowjetischen Besatzungszone und war von der Roten Armee besetzt. Nikolaus Barlach zog vermutlich zu seinem Onkel Hans Barlach (1881-1953) nach Berlin-Lichterfelde. Der Ingenieur hatte 1935 eine Etagenwohnung in der Augustastraße Nr. 28a bezogen. Im Dezember 1952 heiratete Nikolaus Barlach Ida geborene Degner (1917-1984). Im Juni 1953 wurde in Berlin Sohn Ernst Bernhard geboren. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin zog die Familie nach Ratzeburg, wo der zweite Sohn Hans Georg (1955-2015)-geboren wurde. 1956 erwarb die Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg das Vaterhaus in Ratzeburg. Nikolaus Barlach leitete für mehr als ein Jahrzehnt das Ernst Barlach Museum in Ratzeburg.
Am 12. März 1976 meldete der Tagesspiegel, dass die endgültigen Besitz- und Eigentumsverhältnisse um den in Güstrow (DDR) befindlichen Nachlaß von Ernst Barlach jetzt vertraglich zwischen dem einzigen Sohn des Künstlers, Nikolaus Barlach aus Ratzeburg, und der Akademie der Künste der DDR in Ost-Berlin geregelt wurden. Wie uns der Berliner Rechtsanwalt von Nikolaus Barlach, der die Vertragsverhandlungen seit 1969 führte, mitteilte, ist Nikolaus Barlach als rechtmäßiger Eigentümer anerkannt, und die Akademie der Künste fungiert dem Vertrag zufolge als Besitzerin der Barlach-Schöpfungen. Der jetzt 70jährige Barlach-Sohn kann dem Vertrag nach jederzeit zu seinem Eigentum nach Güstrow reisen. Er muß bei jeder Bewegung der Kunstschätze vorher um sein Einverständnis gebeten werden, kann es auch verweigern. Die Pflege der Kunstwerke übernimmt samt Kosten die Akademie der Künste. Die Akademie behält sich bei Ausleihen einen Einspruch dann vor, wenn durch eine Ausstellung politische Interessen der DDR womöglich beeinträchtigt werden. Der Barlach-Sohn hat das Recht, von den Gipsmodellen in West-Berlin bei der Gießerei Noack Bronzeabgüsse anfertigen zu lassen.
Der Lyriker Klaus Barlach
Im März 2025 stolperten wir im Antiquariat Carl Wegner Berlin über das Buch Klaus Barlach. Aus dem Brotkasten. Gedichte. Dem Impressum ist zu entnehmen, daß diese Ausgabe im August 1990 in Zusammenarbeit mit der Ernst und Hans Barlach GbR Lizenzverwaltung Ratzeburg und dem Kunsthof Berlin herausgegeben wurde. Von diesem Buch wurden 260 nummerierte Exemplare gedruckt. Sämtlichen Exemplaren ist der Original-Holzschnitt von Ernst Barlach ‚Das Kind in der Glorie‘ beigegeben – zur Verfügung gestellt von Ernst und Hans Barlach.
Als Herausgeberin fungierte die Kulturwissenschaflerin Dr. Ull Eisel. Sie hatte in Meißen und Karl-Marx-Stadt Werkzeugmaschinenbau studiert und wurde danach an die Bauakademie der DDR berufen. Nach einem Fernstudium in Philosophie wurde ihr 1981 vom Rat des Bezirkes Schwerin die Leitung der 1978 eröffneten Ernst Barlach-Gedenkstätte Güstrow übertragen. Während Schwerin nur die Verwaltung der beiden Museumsbauten Atelierhaus und Gertrudenkapelle erwartete, blieb die wissenschaftliche Arbeit zu Ernst Barlach der DDR-Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin vorbehalten.
In Güstrow hatte Ull Eisel offensichtlich die Gedichte von Klaus Barlach in einem alten Brotkasten entdeckt – eine Gelegenheit, sich unabhängig von der Akademie als Herausgeberin zu betätigen. Vater Ernst wußte davon: Von Klaus weiß wohl niemand weniger als ich. Er hat Gedichte, die er nicht zeigt und nicht zeigen wird, um sich nicht die Vorstellung vom Wert dieser Übung nehmen zu lassen. 1986 wurde Ull Eisel nach Diskrepanzen mit der Akademie der Wissenschaften der DDR in Güstrow abgelöst. Die Veröffentlichung wurde zurückgestellt. Mit dem Ende der DDR erhielt die Familie Barlach wieder die volle Verfügungsgewalt über ihr Güstrower Erbe. Die Verbindung zu den Barlachs blieb. Hans Barlach und Ull Eisel gründeten 1990 in Berlin die Kunsthof GmbH (Hackesche Höfe). Ein willkommener Anlass, die Gedichte zum 84. Geburtstag von Klaus Barlach am 20. August zu veröffentlichen.
Publiziert wurden etwa einhundert Gedichte, von der Herausgeberin gegliedert in Verse der Spaltung 1927-1930, Alles ist wüst 1934-1945 und Zwischenfrieden 1945-1947. Keine Weltliteratur, aber ein Zeugnis für das gestörte Verhältnis des vom Vater um seine Mutter gebrachten Sohnes. Einsamkeit, Enttäuschung, Ohnmacht, Hilflosigkeit. Ernst Barlach wollte für seinen Sohn Vater und Mutter zugleich sein. Das misslang. Eines muß man Ull Eisel zugestehen: Ohne diese Gedichte von Klaus Barlach wird Ernst Barlach unvollständig bleiben.
Klaus Barlach, Aus dem Brotkasten. Gedichte (Eine Auswahl)
Klaus Barlach, Aus dem Brotkasten. Gedichte, 1990 (Inhalt)
Quelle: Deutsche National Bibliothek
Barlach und Güstrow
Nach dem Tod von Ernst Barlach 1938 wurde eine Verwaltung des Kunsterbes gegründet. Ab 1946 gab es zwei Geschäftsführer, einer in Güstrow für die Sowjetische Besatzungszone, der andere für die Westzone. Als die DDR 1949 mit Beschlagnahme drohte, da der Erbe im Westen weile, übernahm Nikolaus Barlach die Verwaltung selbst. 1976 wurde der DDR-Akademie ein Nutzungsrecht eingeräumt. Mit dem Ende der DDR erhielt die Familie Barlach wieder die volle Verfügungsgewalt. 1994 wurde die Emst Barlach Stiftung Güstrow gegründet. Mit dem Atelierhaus als authentischen Arbeitsort Barlachs verfügt sie über Nachlass-Dokumente, 435 plastische Arbeiten, 1.100 Zeichnungen, 460 Blatt Druckgrafik, 110 Skizzenbücher und literarische Manuskripte.
Mittlerweile konkurrieren das Ernst Barlach Haus der Stiftung Hermann F. Reemtsma Hamburg, das Ernst Barlach Museum Ratzeburg, das Barlach Kunstmuseum Wedel und die Ernst Barlach Museen Güstrow. Mit ständig abgewandelten Barlach-Präsentationen und sonstigen Ausstellungen soll dem abnehmenden Interesse begegnet werden. Das bringt nichts. Über Barlach muß neu nachgedacht werden, über Vater und Sohn, über Mutter Rosa Schwab, über seinen abrupten künstlerischen Wandel 1906, über die Gedichte von Klaus Barlach, über Nikolaus Barlach und seine Söhne nebst deren Nachkommen, auch über das Gerangel zwischen Ost und West als Teil der deutsch-deutschen Geschichte.
Im Jahr 2024 hielt die Kunsthistorikerin Magdalena Schulz-Ohm, seit 2919 Geschäftsführerin der Ernst Barlach Stiftung Güstrow, einen bemerkenswerten Vortrag Zum Nachlass Ernst Barlachs und den Herausforderungen eines Personalmuseums. Auf unsere Bitte hin teilte uns das Bildungs- und Begegnungszentrums Schloss Trebnitz mit, dass wir den genannten Text mit Verweis auf die Publikation auf Ihrer Webpage veröffentlichen können. Dazu habe ich Ihnen die entsprechenden Seiten aus der Publikations-PDF zusammengestellt. Wir bedanken uns.
Zum Nachlass Ernst Barlachs und den Herausforderungen eines Personalmuseums
Von Kunsthistorikerin Dr. Magdalena Schulz-Ohm
Illstraße Nr. 4-6
Fläming-Grundschule
Der Mangel an Schulräumen führte dazu, dass im Bezirksamt Schöneberg
der Plan gefasst wurde, auf dieser Ruinenlandschaft ein Schulgebäude zu errichten. 1959 wurde der Bebauungsplan XI-19 für die Grundstücke Ringstraße (Dickhardtstraße) 17-22, Illstraße
3-11 und 14 aufgestellt und vom Senator für Bau- und Wohnungswesen festgesetzt: 1973 wurde der Fertigbau der Fläming-Schule für 600 Schüler eröffnet. Die Illstraße wurde zur Sackgasse..
Der Bau gehört nicht zu den architektonischen Glanzlichtern von Friedenau. Genau deshalb nennt sich die Bildungsstätte wohl
auch Schule für alle, an der man bestrebt ist, Schüler zur Teilhabe und Mitwirkung an den gesellschaftlichen Prozessen zu befähigen, sie zu selbstständigen,
verantwortungsbewussten, gebildeten, toleranten, engagierten, kritikfähigen, mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen - das wird schwierig, wenn 30 Prozent
aus 44 Herkunftslänern kommen und zu Hause noch andere Sprachen als Deutsch sprechen.
Illstraße Nr. 9
Franz Jüttner (1865-1926)
Die Lustigen Blätter waren für den Fontane-Verehrer Georg Hermann (1871-1943) auf dem Gebiet der modernen Karikatur für Berlin ein halbwegs fortschrittliches Blatt. Besonders angetan hatten es ihm die politischen Zeichnungen von Franz Albert Jüttner. Das war kein Wunder, denn auf Jüttners ganzseitige farbige Bilder stieß man in fast jeder Ausgabe – ziemlich auffallend, da sie in ihrer Machart an Toulouse-Lautrec erinnerten. Obwohl Künstler wie Johann Bahr, Lyonel Feininger, Walter Trier und Heinrich Zille über viele Jahre hinweg Karikaturen beisteuerten, war Jüttner der Star.
Die Lektüre der Lustigen Blätter kann ein wahres Vergnügen sein, setzen allerdings eine Kenntnis des politischen Zeitgeschehens voraus. Mögen die Beiträge zur Reichstagswahl, zum deutschen Pachtgebiet Kiautschou oder zur Kultur fern erscheinen, mit ihrer Kritik haben sie auch heute an Aktualität nichts verloren.
Da ist beispielsweise Jüttners Zeichnung Der Zug der Nörgler. Kaiser Wilhelm II. hatte sich 1892 in einer Tischrede beim Festessen des Provinziallandtags kritisch über die politische Stimmung im Land geäußert und das Verhalten der Bürger beanstandet: Es ist ja leider jetzt Sitte geworden, an allem, was seitens der Regierung geschieht, herumzumäkeln. Doch wäre es besser, dass die mißvergnügten Nörgler lieber den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schüttelten und sich unseren elenden und jammervollen Zuständen auf das Schleunigste entzögen. Ihnen wäre dann geholfen, und uns täten sie einen großen Gefallen.“ Jüttner versammelte auf seiner Zeichnung all jene, die sich eben nicht mit den Gegebenheiten in Deutschland abfinden wollten. Er nahm den Kaiser wörtlich und zeigte das mäkelnde Volk auf dem Weg hinaus, damals konkret in Richtung Amerika, was heutzutage keine Lösung wäre.
Franz Albert Jüttner zog nach Friedenau, zuerst Handjerystraße Nr. 78 (1894), dann Illstraße Nr. 9 (1900) und schließlich Wilhelmshöher Straße Nr. 23 (1906). Es kam der Erste Weltkrieg und er geriet wie Thomas Mann (Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden) oder Alfred Kerr (Hunde dringen in das Haus. Peitscht sie raus!) über den vielbeschworenen Geist von 1914 in einen nationalen Rausch. In dieser Kriegsbegeisterung scherte er sich wie seine Karikaturkollegen Johann Bahr, Lyonel Feininger, Ernst Heilemann, Fritz Koch-Gotha, Paul Simmel und Walter Trier nicht um intellektuelle Redlichkeit. Ihre Propaganda-Karikaturen in den Lustigen Blättern waren fern jeder politischen Analyse – ohne Ausnahme auch die Lustigen Blätter mit ihren zwischen 1914 und 1918 erschienenen unsäglichen 223 Kriegs-Nummern.
Illstraße Nr. 14
Café Woerz an der Kaisereiche
Es braucht heute viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass sich hinter dieser Fassade einst das vornehmste und eleganteste Café der westlichen Vororte befand. Nachdem in der Nacht vom 1. zum 2. März 1943 britische Bomber ihre Fracht über der Illstraße ausgeklinkt hatten, lagen elf von 14 Wohnhäuser in Schutt und Asche. Geblieben sind die Außenmauern der Ecke zur Saarstraße, die in den 1950er Jahren entdekoriert wurden.
Die Geschichte des Café Woerz beginnt am 1. Dezember 1910 im Friedenauer Lokal-Anzeiger mit einer Drei-Zeilen-Meldung: Grundstücksverkauf. Das Grundstück Illstraße, Ecke Saarstraße, bisher Herrn Zitzmann gehörig, ist durch Kauf in den Besitz des Herrn Wittkower übergegangen.
Julius Wittkower gehörte zum Fleischergewerbe, war seit 1871 Inhaber des ältesten Konservenhauses der Branche in der Leipziger Straße und 1893 Mitbegründer der Berliner Viehcommissions- und Wechsel-Bank. Als bekannt wurde, dass der Cafétier Karl Woerz dort ein Konzertcafé eröffnen und Wittkower zur baulichen Ausgestaltung 120.000 M. beisteuern wollte, forderten die umliegenden Restaurateure, die nachgesuchte Konzession zu verweigern: Gegenüber befindet sich bereits ein Café, unweit davon das Rheinschloß-Lokal mit einem großen Café im ersten Stock und im Sommer steht ein Garten zur Verfügung. Gegenüber der geplanten Neuanlage liegt ein großes Restaurant, in einiger Entfernung davon eine Konditorei. Bürgermeister Erich Walger folgte dieser Argumentation und verweigerte am 24. November 1911 die Konzession.
Woerz klagte vor dem Kreisausschuss. Bei einer Ortsbesichtigung wurde festgestellt, dass die Räume durchweg hoch und hell und die Abortanlage gut ist. Obwohl der Anwalt von Woerz ausführte, dass die Neuanlage einen ganz anderen Charakter trage als die genannten Lokale und keine Konkurrenz darstellen werde, urteilte der Kreisausschuss zuungunsten des Klägers, da im Rheinschloß etwas Ähnliches bereits vorhanden sei.
Karl Woerz ging in die Offensive. Der Friedenauer Lokal-Anzeiger veröffentlichte Leserbriefe: Eine echt amerikanische Drehtür, wie sie nur in den vornehmsten Lokalen der Reichshauptstadt anzutreffen ist, führt in das Lokal, in dessen Mittelpunkt sich das Musikpodium durch Säulen und Spiegelscheiben fast versteckt, also diskret eingegliedert in dem Ganzen, befindet. Im Hintergrunde sehen wir geräumige luxuriös ausgestattete Logen. Die Rücklehnen der zu den Wandseiten quer stehenden Polsterbänke sind gekrönt mit prachtvollen Blumenkrippen. Die Wand- wie auch die Deckenmalerei ist stilvoll. Aus modernen elektrischen Kronen mit Glasstäbchen-Umkleidung strahlt des Abends ein feenhafter Glanz hernieder. Am dem Hauptraume anschlossen ist ein geräumiges Billardzimmer, in dem drei Präzisions-Billards von J. Neuhusen’s Billard-Fabrik Aufstellung finden sollen, diesem Zimmer benachbart ist das Spielzimmer, ebenfalls elegant, aber auch praktisch eingerichtet. Die Küchenräume, wie sämtliche Nebenräume, sind natürlich ebenfalls den heutigen Ansprüchen der Hygiene folgend angelegt. Herr Woerz hat eine Einrichtung von mehr als 70.000 M. bei der Möbelfabrik Paul Redelsheimer erstanden. Daher könnte man nur wünschen, dass unsere Behörde die vereinzelten Stimmen der Konkurrenten nicht hört, sondern im Interesse Friedenaus und seiner Einwohnerschaft einem derart erstklassigen Café die Konzession erteilt.
Bürgermeister Walger gab nach und erteilte am 9. Januar 1912 Herrn Cafétier Woerz die Konzession. Die Konkurrenz gab jedoch nicht auf. Am 5. März 1912 verneinte der Kreisausschuss in einer abermaligen Verhandlung über die Konzessionserteilung für das Café Woerz die Bedürfnisfrage und ist wiederum auf Grund der Einsprüche einiger Interessenten zu einer Verweigerung der Konzession gekommen. Der Kreisausschuss hat diesen Beschluss gefasst, trotzdem der hiesige Amtsvorsteher seinen Einspruch zurückgezogen hat und unsere Gemeindevertretung die Konzessionserteilung befürwortete. Die Sache wird nun weiter gehen an den Bezirksausschuss.
Am 9. Mai 1912 wartete der Friedenauer Lokal-Anzeiger auf seiner Titelseite mit der Meldung auf: Dem Cafétier Karl Woerz die Konzession erteilt. Dies war das Ergebnis der Verhandlung vor dem Potsdamer Bezirksausschuss, das die vornehmen Kreise Friedenaus mit großer Freude erfüllen dürfte, denn nunmehr ist unser Ort in dem Besitze eines Cafés, das sich getrost ähnlichen Stätten Berlins und Charlottenburgs an die Seite stellen kann. In der Verhandlung meinte der Vertreter des Klägers, Justizrat Dr. Schoeps aus Berlin, dass es vor dem Kreisausschuss sicher zur Konzessionserteilung gekommen wäre, wenn die Konkurrenz des Klägers sich nicht an diese Instanz gewendet und ihre Zukunft in schwarzen Farben gemalt hätte. Dass derartige Cafés bestehen könnten, bewiesen die vielen ähnlichen Gründungen am Kurfürstendamm und am Zoologischen Garten, die sämtlich zu gewissen Zeiten überfüllt seien. Der Anwalt verlas ein Schreiben des Handel- und Gewerbevereins von Friedenau, in dem dieser ausführt, dass das Café des Klägers einem dringenden Bedürfnis von Friedenau entspreche, und wies auf den ‚Friedenauer Lokal-Anzeiger‘ hin, in dem der Verwunderung des Publikums Ausdruck gegeben wird, dass das fertige Café noch immer nicht eröffnet wird. Der Amts- und Gemeindevorsteher sprach sich sehr warm für die Erteilung der Konzession aus. Es sei zu erwarten, dass das Café das gesamte vornehme Publikum Friedenaus anziehen werde. Seine damalige Ablehnung gegen das Projekt begründete er damit, dass er über den wahren Charakter des Etablissements erst später Aufklärung erhalten habe. Nach seiner Überzeugung habe die Konkurrenz Nachteile nicht zu erwarten, da die übrigen Lokale etwas anderes bieten als der Kläger. Letzterer habe keine größere Summe zu Wohltätigkeitszwecken gestiftet, um für sich Stimmung zu machen. Aber auch, wenn dies wahr wäre, so würde er sich nicht dadurch beeinflussen lassen. Er sei davon überzeugt, dass der Kläger die feste Absicht habe, das Café in der gedachten Weise einzurichten. Der Bezirksausschuss erteilte die Konzession.
Nach monatelangem Streit wurde das mit größter Eleganz ausgestattete Café Woerz am 24. Mai 1912 eröffnet: Sowohl am Eröffnungstage, wie an den folgenden Tagen hatte es einen außerordentlich starken Besuch aufzuweisen. Wiederholt sah sich der Inhaber genötigt, den Eingang zu schließen, denn nur so war es möglich, dem Massenandrang zu begegnen. Die Gänge blieben schon nicht mehr frei und Spiel- und Billardzimmer mussten als Gastzimmer mitbenutzt werden. Dieser lebhafte Besuch beweist, dass unser Publikum ein derartiges Lokal in unserem Orte wünschte und dass mit seiner Konzessionierung einem dringenden Bedürfnis abgeholfen wurde. Viel Beifall fand die von Herrn Woerz bestellte Kapelle unter Leitung des Herrn Kapellmeisters Zimmermann, die stimmungsvolle Weisen in guter Abwechslung zu Gehör brachte. Wer einmal im Café Woerz Platz gefunden hatte, dachte so schnell nicht ans nach Hause gehen. Daher kann man wohl auch nicht davon sprechen, dass es nur Neugierde war, die so viele Besucher ständig anlockte.
Am 12. August 1912 nahm der Verein der Friedenauer Gast- und Schankwirte den Kollegen Karl Woerz als neues Mitglied auf. Sechs Jahre wurden die Räume im Juni 1920 umgestaltet: Anstelle der hellen, grellen Farben sind bunte, warme Farbentöne getreten. Diese milde Wirkung üben auch die neuen Beleuchtungskörper aus, mit faltiger, farbiger Seidenverkleidung versehende elektrische Kronen. Aber auch sonst ist die Ausstattung farbenfreudiger, anheimelnder gestaltet. Vier riesige Palmen, Blumenkrippen und Blumentöpfchen auf weißgedeckten Tischen beleben den behaglichen, intim erscheinenden Raum, in den auch eine größere Zahl hübscher Korblehnstühle hineingestellt ist. Besonders traulich sind die beiden erhöhten Nischen zu beiden Seiten des Büfetts gehalten. Die Kleiderablage hat ihren Platz jetzt gleich am Eingang erhalten. Dem Café angeschlossen ist eine vornehm und gemütlich eingerichtete Weinabteilung, sowie eine mit humorvoller Wandmalerei und gedämpfter Beleuchtung versehene Likörstube. Auch die Vorgartenterrasse bietet an warmen Tagen einen angenehmen Aufenthalt.
Es muss davon ausgegangen werden, dass Cafétier Karl Woerz und Hauseigentümer Julius Wittkower in den 1920er Jahren verstorben sind. Inhaberin des Café Woerz ist ab 1925 Frau Clara Woerz und als Eigentümerin des Hauses Illstraße Nr. 14 wird ab 1929 Frau Wittkower aufgeführt. 1933 zieht in das Caféhaus die Apotheke von H. Wilkowitz ein. 1936 ging das Grundstück in den Besitz von Frau G. Lewenberg in Charlottenburg über. Ab 1940 ist als Eigentümer die Deutsche Anwalt- und Notarversicherung Halle eingetragen.