Am 25. Juni 1906 brachte Bürgermeister Bernhard Schnackenburg (1867-2914) zur öffentlichen Kenntnis, dass die von der Elsastraße zur Kaiserallee verlaufende Straße E mit den Hausnummern 1 bis 8 den Namen Ortrudstraße; erhält, benannt nach Ortrud, einer Figur aus Richard Wagners Oper Lohengrin.
Drei Jahre später sind 1909 die ersten Neubauten eingetragen: Nr. 7 Eigentümer Malermeister O. Kyser & E. Brodkorb, Inhaber der Werkstatt für dekorative Malerei mbH mit Sitz in der Stubenrauchstraße Nr. 16, und Nr. 8. Bauherr Münnich & Temme aus Wilmersdorf. 1911 sind alle acht Grundstücke bebaut und bezogen.
Ortrudstraße Nr. 2
Leon Jessel (1871-1942)
Mit dem Namen Leon Jessel können heute nur wenige etwas anfangen, wohl erst recht nichts mit dem Attribut der jüdische Antisemit. Erklingen aber Malwine, ach Malwine, Zum Tanze die Geigen oder gar Mädle aus dem schwarzen Walde fällt sofort das Stichwort Schwarzwaldmädel (UA 1917 Komische Oper). Drei Dutzend solcher „Dinger“ hat er komponiert. Der Sohn jüdischer Eltern legte 1894 mit 23 Jahren das evangelische Glaubensbekenntnis ab, trat aus der jüdischen Gemeinde aus, nahm Konvertitenunterricht, heiratete 1896 seine erste Frau Clara geb. Grunewald, 1909 wurde seine Tochter Eva Maria geboren. Jessel, der von 1899 bis 1905 als Kapellmeister im Theater in Lübeck wirkte, zog es nach Berlin. In der Ortrudstraße Nr. 2 wohnte er mit Familie von 1915 bis 1927. Im Jahr 1919 wurde die erste Ehe geschieden. 1921 heiratete er die Büroangestellte Anna Maria Johanna geb. Gerholdt (1890-1972).
Auf der Gedenktafel am Leon-Jessel-Platz in Wilmersdorf wird vermerkt: Hier lebte von 1925 bis 1941 der Komponist Leon Jessel. Nicht vermerkt wurde, dass das Ehepaar Anna und Leon Jessel zumindest einige Jahre mit der nationalsozialistischen Bewegung sympathisierte. Ehefrau Anna wurde im März 1932 Mitglied der NSDAP. Jessels Schwarzwaldmädel wurde geliebt. Die Melodien erklangen im Jüdischen Kulturbund und der NS-Kulturgemeinde. Der Jude Jessel glaubte sich sicher, dachte nicht an Emigration und hoffte, dass seine Gesinnung über Fakten dominieren könne.
Allerdings setzte der Reichsdramaturg ab 1934/35 die Entjudung der Theaterspielpläne durch – bis auf Nürnberg, wo dem Intendanten des Stadttheaters eine ausdrückliche Genehmigung von Julius Streicher vorlag: Bei der Neuordnung nach der Machtübernahme hat der hiesige Gauleiter Herr Streicher, der ja doch selbst der Führer der Antisemitenbewegung ist, mich wissen lassen, dass er wünscht, dass im Interesse einer interessanten Spielplangestaltung die Arierfrage bei der Operette nicht nachgeprüft werden sollte, da sonst ein das Publikum interessierender Spielplan nicht recht möglich sein. Als Nürnberg für die Saison 1935/36 wiederum das Schwarzwaldmädel des Nichtariers ansetzte, schickte der Reichsdramaturg am 13. Dezember 1935 an Goebbels ein Gutachten: Die Operette ‚Schwarzwaldmädel‘ hat als Textdichter den Arier August Neidhardt. Die Musik schrieb der Jude Leon Jessel. Summe: 1 Christ, 1 Jude. Gerade diese Operette enthält ‚das gefährlichste Gift, da sie in die eigensten Bezirke des deutschen Menschen vorstoßen‘. In Schwarzwaldmädel ‚wird der deutsche Wald, die deutsche Landschaft in geradezu ekelerregender Weise verkitscht und versüßlicht‘. Das Machwerk ‚würde den Geschmack eines kritiklosen Publikums für jedes echte Volksstück restlos verderben‘.
Am 15. Dezember 1941 wurde Jessel vorgeladen. Vorgeworfen wurden ihm Verbreitung von Gräuelmärchen, Hetze gegen das Reich und Verstoß gegen das Heimtücke-Gesetz. Grund war sein Brief an den (jüdischen) Librettisten Wilhelm Sterk (1880-1944) in Wien: Ich kann nicht arbeiten in einer Zeit, wo Judenhetze mein Volk zu vernichten droht, wo ich nicht weiß, wann das grausige Schicksal auch an meine Tür klopfen wird. Während der Haft erkrankte Jessel. Am 2. Januar 1942 wurde er in die Krankenabteilung des Gefängnisses verlegt, zwei Tage später in das Jüdische Krankenhaus eingeliefert. Am 4. Januar 1942 ist er verstorben.
Die Sterbeurkunde des Standesamtes Berlin-Wedding: Der Komponist Leon Jessel, jetzt ohne Beruf, glaubenslos, früher mosaisch, wohnhaft in Berlin-Wilmersdorf, Düsseldorfer Straße Nr. 47, ist am 4. Januar 1942 in Berlin im jüdischen Krankenhaus verstorben. Seine Leiche wurde eingeäschert und die Urne mit seiner Asche auf den großen Friedhof Stahnsdorf gebracht. Aus der im Archiv des Südwestkirchhofs bewahrten Grabkarte Nr. 49592 geht hervor, dass die Urne von der ev. Kirchengemeinde Trinitatis überwiesen wurde. Die Beisetzung fand am 22. Januar 1942 im Block S, Feld 8, Wahlstelle Nr. 211, statt. Da der Südwestkirchhof bereits in den 1950er Jahren für Angehörige aus den westlichen Stadtbezirken nur erschwert zugänglich war, ließ Witwe Anna die sterblichen Überreste am 23. Mai 1955 ausgraben und auf den Städtischen Friedhof Wilmersdorf, Berliner Straße Nr. 81-103, umbetten.